Film | Nummer 279/280 - Sept./Okt. 1997

“Vieles ist im Film zu hübsch”

Interview mit Hauptdarstellerin Oyanka Cabezas und Norma Rivera, die die Mitarbeiterin eines sandinistischen Frauenzentrums spielt

Bettina Bremme

LN: Was wußtet ihr, bevor ihr für “Carla’s Song” engagiert wurdet, über Ken Loach und seine Filme?

Norma Rivera: Ich wußte ungefähr, was für eine politische Ausrichtung Ken Loach hatte. Auch hatte ich schon einiges über “Land an Freedom” gehört, hatte den Film aber noch nicht gesehen. Vor Beginn der Dreharbeiten wurde uns dann eine ganze Reihe von Kens Filmen gezeigt.

Gab es während des Drehens viele Diskussionen über den Inhalt des Films?

Oyanka Cabezas: Nein, eigentlich nicht, da kaum jemand das Drehbuch kannte und man daher nach und nach, von Tag zu Tag entdeckte, worin dieser Film bestand.

Die Arbeitsweise, den Schauspielern nicht mehr als nötig mitzuteilen, ist ja typisch für Ken Loach. Wie fandet ihr diese Methode?

O: Für mich war sie wirklich sehr interessant, weil sie dich dazu zwingt, spontan zu agieren, so daß deine Reaktionen sehr natürlich sind.

Ist das ein bißchen so, als befände man sich in einem fremden Land, das man jeden Tag ein bißchen mehr entdeckt?

O: Das könnte man so sagen.

N: Mir gaben sie in der Nacht vor dem Drehtag die Seite des Scripts mit den Sachen, die ich sagen sollte. Mehr nicht. Man weiß nicht, was außerdem passiert.

O: Du hast zum Beispiel eine Szene, wo du dich mit Freunden triffst, und auf einmal kommt jemand, und deine Reaktion ist so, wie du dich normalerweise verhalten würdest, wenn du jemanden lange nicht gesehen hast. Eine andere grundlegende Sache bei den Dreharbeiten mit Ken Loach ist, daß er will, daß wir die Anwesenheit der Kamera vergessen und wie im normalen Leben agieren.

Konntet ihr euch mit euren Rollen identifizieren? Oder gab es gewisse Widersprüche? – Schließlich wurde auch das Drehbuch von einem Briten geschrieben.

N: Du begibst dich immer stärker in die Rolle hinein. Gleichzeitig bekommst du große Zweifel, da du ja über die anderen Personen, die in dem Drehbuch vorkommen, überhaupt nichts weißt. Ich kannte ja nur meine eigene Geschichte, aber beispielsweise nicht die von Robert als Busfahrer in Glasgow.

Was haltet ihr von dem fertigen Film, der ja bewußt aus der Perspektive eines Fremden, eines Europäers gefilmt ist? Erkennt Ihr das Nicaragua dieser Zeit darin wieder?

N: Ich habe, als ich bei den Dreharbeiten zuschaute, einige sehr gute Szenen gesehen. An der Sequenz, an der ich mitwirkte und die letztendlich vielleicht zwei Minuten lang ist, filmten wir 12 Stunden. Viele derjenigen, die mitspielten, waren keine Schauspieler, sondern Leute aus Estelí. Und ich war sehr überrascht über deren erstklassige schauspielerische Leistungen. Einiges davon habe ich jedoch im fertigen Film nicht wiedergefunden.

Wart ihr also ein bißchen enttäuscht?

O: Nein. Es war nur oft so, daß die Leute am Anfang sehr natürlich agierten, aber immer dann, wenn die Szenen wiederholt werden mußten, zu schauspielern begannen, so daß einiges von der Spontaneität verlorenging.

N: Vom politischen Standpunkt aus erscheint es mir, als wären in dem Film nur die romantischen, schönen Aspekte zu sehen, wogegen ein kritischer Blick auf die nicaraguanische Linke fehlt. Nur in einigen Szenen finden sich die Gefühle wieder, die ich sehen wollte, diese Mischung aus Glück und Schmerz, die auch ich gefühlt habe. Denn einerseits waren die Leute glücklich über die Revolution, aber gleichzeitig gab es Krieg. Es ist wie bei einer Geburt, wo du verdammte Schmerzen hast, und plötzlich mußt du abwechselnd lachen und weinen und lachen und weinen. Beide Seiten des Gefühls sind wichtig. Zum Beispiel, wenn ein sandinistischer Soldat tot nach Hause gebracht wurde. Einige Mütter hatten ihre Söhne freudig zum Militärdienst geschickt, andere dagegen nicht. Wenn er ihnen tot zurückgebracht wurde, verkündeten manche am nächsten Tag, sie würden in Zukunft für Doña Violeta oder für Alemán stimmen. Gleichzeitig wollten sie alle umbringen, die ihren Sohn getötet hatten. In dem Film vermisse ich diese menschlichen Widersprüche. Vieles ist zu hübsch. Die Szene, wo sie in einen Hinterhalt der Contra geraten, ist zwar hart und real, aber alles ist nur deskriptiv gefilmt. Es wird nicht genau hingeschaut, die Konsequenzen werden nicht gezeigt.

O: Es gab bei den Dreharbeiten eine äußerst harte, eine unglaubliche Szene. Sie hatten eine Frau ausgewählt, deren einer Sohn von den Contras umgebracht worden war, und vor kurzem war ein weiterer Sohn getötet worden. Sie sollte eine Mutter spielen, die ihren Sohn zum Militärdienst brachte. Diese Frau diskutierte mit den Soldaten, warf ihnen alle möglichen Schimpfworte entgegen und weinte, weinte, mit allen ihren Gefühlen. Und diese Szene tauchte in dem fertigen Film nicht auf. Meiner Ansicht nach sind im zweiten Teil viele Details verlorengegangen, was auch sehr stark kritisiert worden ist. Der erste Teil des Films ist dagegen wunderbar. Die Angst, die Carla hat, sich auf jemanden einzulassen, ihre Versuche, die Vergangenheit, die Traurigkeit, die vielen Toten zu vergessen. Die tiefen Gefühle jedoch, die das nicaraguanische Volk durchlebte, die fehlen. Ich denke, man hat wohl versäumt, beim Verfassen des Drehbuchs Unterstützung von nicaraguanischer Seite zu suchen. So fehlt gewissermaßen das Salz in der Suppe.

N: Wenn du deine persönliche Geschichte einem Ausländer erzählst – es muß gar kein Europäer, sondern könnte auch zum Beispiel ein Venezolaner sein – erzählst du sie immer mit diesem schönen Gefühl von Stolz. Wenn ich dir jetzt die Geschichte meiner Familie erzählen würde, würde ich es auch mit Stolz tun, und du könntest, auch wenn du es wolltest, nur schwer dieses andere Gefühl herausfiltern. Auch das Drehbuch zu “Carla’s Song” ist von solchen Erzählungen beeinflußt. Klar, Paul Laverty hat in Nicaragua gelebt und im Menschenrechtsbereich gearbeitet, verfügte also über alle Möglichkeiten, sich Informationen zu besorgen. Aber er verschaffte sie sich in Form von Interviews oder Textsammlungen, basierend auf Geschichten, die wir ihm erzählten. Ich glaube, daß wir selbst oft lügen. So erinnere ich mich daran, wie wir, als wir 1986/87 mit einer Theatergruppe in Spanien waren, dort erzählten, wie die Frente Sandinista in Nicaragua die Unabhängigkeit von Frauen und ihre Integration in die Gesellschaft fördere. Stolz brachten wir das Beispiel, daß zu diesem Zeitpunkt eine Frau Chefin der Polizei war. Wir hatten also einen wohlvorbereiteten Diskurs parat. Wenn man jedoch ein bißchen reifer wird und beobachtet, wie die Dinge sich entwickeln, stellt man fest, daß vieles auch nur den Umständen zu verdanken war. Daß den Frauen Aufgaben zufielen, weil die Männer im Krieg waren.

Glaubt ihr denn trotzdem, daß “Carla’s Song” in Nicaragua zu Diskussionen anregen kann?

O: Die Premiere in Nicaragua war ein Desaster. Das Licht ging aus, ein Teil vom Projektor war verlorengegangen, es wirkte wie ein Boykott.

N: Es war offensichtlich ein Boykott. Wenn beispielsweise “Der König der Löwen” gezeigt worden wäre, hätte es an nichts gefehlt.

O: Die Premiere fand mitten im Wahlkampf um die Präsidentschaft statt. Nach der Vorführung war die Reaktion der meisten Zuschauer: Der Film ist schön, und es ist wichtig, diese Erinnerungen an die Revolution zu bewahren. Später gab es eine Vorführung an der Universität. Die Studenten waren zu achtzig Prozent junge Leute aus der Generation, die den Krieg als Kinder miterlebt hatten. Sie wuchsen unter anderen Bedingungen auf, hatten das Recht auf ein Studium, auf Gesundheitsversorgung und das tägliche Glas Milch. Die Reaktion der Studenten war unglaublich. Sie weinten, lachten, stampften mit den Füßen. In der anschließenden Diskussion waren viele unterschiedliche Meinungen zu hören. Einige sagten, sie seinen sehr stolz, daß in dem Film die nicaraguanische Mentalität dargestellt würde und daß sie dem britisch-deutschen Produktionsteam sehr dankbar seien, daß diese das Augenmerk wieder auf Nicaragua gerichtet hätten. Andere meinten, in dem Film würde die Frente Sandinista mit Blumen überhäuft. Zudem seien nicht nur die USA in diesen Krieg verwickelt gewesen, sondern unter anderem auch die Sowjetunion und Kuba.
Gleichzeitig muß man natürlich berücksichtigen, daß ein Film ein Film ist und man in zwei Stunden wirklich nicht auf alles eingehen kann. Ich bin mir aber dessen bewußt, daß in diesem Film nur die eine Seite gezeigt wird. An den Dreharbeiten nahmen auch viele Recontras teil. Viele von ihnen wollten freiwillig gerne Sandinisten spielen. Bei der Filmvorführung fragten sie dann jedoch, warum nicht auch die Fälle gezeigt worden wären, wo Contras von den Sandinisten getötet worden seien. Es gab aber auch sehr bewegende Reaktion aus dem Publikum, wo ich teilweise kaum wußte, wie ich reagieren sollte. Einmal kam ein Mann auf mich zu, umarmte mich, weinte und sagte, daß er in diesem Moment noch einmal einen Teil seiner Geschichte erlebt hätte. Und dann kam eine junge Frau und sagte mir sehr gefaßt, aber mit stockender Stimme: Diese Geschichte ist mir selbst passiert. Ihr Mann sei beim Militärdienst gewesen und gefoltert worden. Sie habe sich in einen Brigadisten verliebt, aber sie seien letztlich nicht zusammen geblieben.

N: Solche Liebesgeschichten gab es häufiger. Auch unter Nicas. Daß der Mann verkrüppelt aus dem Krieg zurückkam und die Frau sich in jemand anders verliebt hatte. Und die Frau dann wieder zu ihm zurückging, aus Mitleid, weil er sie brauchte. Die Liebesgeschichte ist schon sehr real.

Gibt es zur Zeit von nicaraguanischer Seite, beispielsweise im Filmbereich, Versuche, die Geschichte neu zu betrachten?

N: So viel ich weiß nicht. Es gibt einen Film von einem Deutschen, Peter Lilienthal, “Der Aufstand”, der 1979, kurz vor dem Sieg der Revolution gefilmt wurde. Den würde ich gerne mit dem Film von Ken zusammenbringen. Aber dann steht immer noch ein dritter Film aus, nämlich einer über die Wahlen 1990.

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