Brasilien | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Vier zu drei gegen José Rainha

26 Jahre wegen “Beihilfe zum Doppelmord” – Brasiliens Justiz in Hochform

In einem 17stündigen Prozeß wurde der Führer der brasilianischen Landlosenbewe­gung MST José Rainha zu 26 Jahren und sechs Mona­ten Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord ver­urteilt. Mit vier zu drei Stimmen befand die Jury den 36jährigen für schuldig, obwohl der zur Tatzeit 1000 Kilometer vom Tatort entfernt war.

Klaus Hart

Lange vor dem Prozeß gegen den populärsten, cha­ris­­ma­tischsten Land­lo­senführer kün­digte amnesty inter­national an, daß es im Ver­fahren nicht mit rechten Dingen zuge­hen wird. Aber die bösen Erwartun­gen wurden noch übertroffen. Der 36jährige José Rainha er­hielt im Juni 26 Jahre und sechs Mo­nate Haft wegen angeblicher Be­tei­li­gung an einem Doppel­mord, der 1989 im Bundesstaat Es­pírito Santo began­gen wurde. Amnesty in­ternational prote­stierte um­ge­hend und erklärte Rainha für un­schul­dig: Das Ur­teil erinnere an Dik­taturzeiten. Bleibe es auch beim zweiten Verfahren im Sep­tem­ber bei die­sem Strafmaß, wer­de er zum po­litischen Ge­fan­ge­nen erklärt und ai rund um den Erd­ball für seine Freilassung mo­bilisie­ren. Nicht einmal die juristi­schen Mindest­regeln seien im Prozeß einge­halten worden, kri­tisierte ai: Weder durch Be­wei­se noch durch Zeu­gen­aus­sa­gen konnte bestätigt werden, daß Rainha am Tat­ort war. Im Ge­gen­teil gibt es Nach­weise, daß er sich tausend Kilometer entfernt auf­gehalten hat. Mit dem Ge­richts­verfahren sollte viel mehr die Land­lo­senbewe­gung MST ein­ge­schüchtert werden, die zur zweit­wichtigsten Stimme der Op­posi­tion geworden ist.
Auch die katholi­sche Kirche Bra­sili­ens, in der Rainha seine po­litische Laufbahn begann, steht weiterhin zu ihm und unter­strich, daß den 922 Morden an Bau­erngewerkschaftlerInnen, kirch­li­chen Mit­arbeiterInnen, Landlo­sen, Kleinbau­ern und Klein­bäue­rinnen von 1990 bis 1995 nur 47 Ge­richtsverfahren und nur fünf verurteilte Täter ge­gen­über­stehen, von denen zwei aus dem Ge­fängnis flohen.

Im Visier: Das MST

Daß Rainha noch lebt, grenzt fast an ein Wunder: Seit 1987 verfolgt ihn die berüchtigte To­des­schwadron Escuderie Le Cocq seines Heimatstaa­tes Espí­rito Santo, in dem er als Land­arbei­tersohn aufwuchs. Rainha ent­ging Hinterhal­ten, überlebte Mord­anschläge und konnte nur ein­mal durch Schüsse verwun­det wer­den. Zwei seiner engen Freun­de, Pfarrer Gabriel Maire und Gewerk­schaftsführer Edson Ra­mos, dage­gen star­ben 1988 im Ku­gelha­gel der Pistole­ros.
Ein Jahr später kam es zu ei­nem Schußwechsel zwi­schen ei­nem Groß­grundbesitzer, sei­nem ihn begleitenden Militärpolizi­sten und einer Gruppe von Land­lo­sen. “In Wahrheit vertei­digten sich die Sem Terra, die Landlo­sen, gegen jenen Fa­zendero, der ein Blutbad anrich­ten wollte.” meint Anwalt Os­mar Barcellos. Zeu­gen wollen Rainha bei der Schießerei gese­hen ha­ben, be­schreiben ihn als ziemlich dick, mit rundem Ge­sicht und ka­sta­ni­en­farbigen Haa­ren. Rainha ist je­doch geradezu dürre, hat ein längli­ches Gesicht und schwarze Haare. Und vor allem wurde er zur Tatzeit nicht nur von zwei Lo­kalparlamentariern, sondern auch einem Obersten der Mi­li­tär­po­li­zei des nordöstlichen Bun­des­staates Ceará gesehen. Beim Prozeß wurden aber weder Zeu­gen der Anklage noch der Ver­tei­digung angehört. Die laut Nach­rich­tenmagazin Veja gra­vierendste Verur­teilung einer brasi­lianischen Führungspersön­lich­keit seit der Rückkehr zur Demo­kratie wird deshalb von zahl­reichen Ju­risten und Krimi­nalisten des Landes als schlech­ter Witz bezeichnet, die Strafe als “absurd”. Auch das Pastoral­büro für Landange­legenheiten der Bi­schofskonferenz kritisierte, daß mit dem Schauprozeß nicht Rainha, son­dern die ge­samte Landlosenbewegung ge­troffen wer­den sollte. In vielen Medien da­gegen wurde das Urteil einsei­tig darge­stellt und sogar begrüßt: das MST also doch die Bande von Mör­dern, ge­walttätigen Ge­sellen und Gesetzesbre­chern, wie die mäch­ti­gen Großgrundbe­sitzer im­mer be­haupten?
Kä­me Rainha tatsächlich hin­ter Gitter, wäre das für das MST ein herber Verlust. Niemand sonst hat in Brasi­lien so viele Be­setzungen brachliegender La­ti­fundien mit durchgeführt, hat so große Erfahrungen und kennt Bra­silien und die Landlosen­basis so gut. An die zwanzig Prozesse wurden gegen Rainha geführt, etwa 50 Untersuchungsverfahren ge­gen ihn ein­geleitet – ohne Er­folg. Hinter Gittern saß er bereits mehrfach, interna­tionale Proteste führ­ten jedoch stets zu seiner Frei­lassung.
Ist Rainha nur eine Art MST-Pro­fi-Funktionär? Er be­sitzt vier Hektar im Hinterland des Bun­des­staates Sâo Paulo, pflanzt Pap­rika, Mais, Tomaten und Me­lo­nen, und gehört zu einer Asso­cia­çao comuni­taria mit 16 Fa­mi­li­en. Von der bra­silianischen Zeit­schrift Imprensa nach seiner Schul­bildung gefragt, antwortete er: “Ich war nie in der Schule. Le­sen und Schreiben habe ich mir mit fünfzehn zuhause beige­bracht. Wir waren eben ver­dammt arm, meine Brü­der ar­bei­te­ten auf dem Feld, um zu Über­le­ben. … Ich lese gerne. Von Frei Betto kenne ich fast alle Bücher – der ist mein Freund.”

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