Kunst | Nummer 333 - März 2002

Vom Assoziativen bis zum Nüchternen

Neue Medienkunst aus Lateinamerika

Bei dem Festival zu Medienkunst aus Lateinamerika, medio@rte latino, wurden in Berlin eine Woche lang experimentelle Videos aus Argentinien, Brasilien und Mexiko gezeigt. Das Spektrum reichte von unerträglich über langweilig bis hin zu verblüffend, einfach und schön. Drei KuratorInnen aus Lateinamerika stellten für ihre Länder die jeweiligen Videos vor. In Diskussionsveranstaltungen wurde über die regionalen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern diskutiert.

Harry Thomaß

Ein Kind wischt über die Linse, durch die es gefilmt wird. Daraus entstehen farbige Spiralen, drei Minuten lang, ohne Ton, ein experimentelles Video von Camilo Amejeiras aus Argentinien mit dem Titel Jupiter. Eine andere Arbeit: Teller und Tassen fallen in Zeitlupe, etwas unterbelichtet in Schwarzweiß, getragene Musik im Hintergrund, diese Szene wiederholt sich als Loop. Schnitt. Ein Tisch von oben, auf den eine Menge Geschirr fällt, dabei nicht zerbricht, sondern von der Tischplatte wegspringt. Verblüffend an dieser Szene, des immer wieder verlängerten Falls, ist die Ästhetik: sachlich nüchtern. Der Moment, in dem das Geschirr auf den Tisch prallt, ist ein Augenblick der Schönheit. Warum? Es ist ein Bild von einer bestechenden Klarheit, wie Blütenblätter einer einfachen Blüte sind die Teller und Tassen beim Aufprall angeordnet und driften langsam aus dem Bild. Das sechs-minütige Video Sub in Mexiko produziert, von einem Künstler der ohne Namen bleibt. Unerträglich ist das Video “Diabolo en la piel” in dem die mexikanische Künstlerin Ximena Cuevas ihr eigenes Gesicht als künstlerisches Objekt inszeniert und sich Vik Vapo Rub und Chile in die Augen schmiert.
Auf dem Festival zur Medienkunst aus Lateinamerika medio@rte latino im Haus der Kulturen der Welt in Berlin wurden ab dem 13. Februar eine Woche lang experimentelle Videos und Medienkunst der letzten zehn Jahre aus Argentinien, Brasilien und Mexiko gezeigt.

Boomjahre der Videokunst

Die künstlerische Produktion von Videos und der Umgang mit den neuen Medien war Anfang der neunziger Jahre von einer Situation des Mangels geprägt. In den Kunsthochschulen Lateinamerikas gab es zu jener Zeit, wenn überhaupt, eine VHS-Kamera und Schnittplätze für Videos. Schon zehn Jahre später, im Jahr 2000, war die technische Ausrüstung an verschiedenen Hochschulen auf einem hohen Stand angekommen. An der privaten Universidad de los Andes in Bogotá ist die Ausstattung sogar erstklassig, es wimmelt dort nur so von Powermacs zur Filmverarbeitung.
Wenn man die achziger Jahre als die verlorenen Jahre für die Wirtschaft Lateinamerikas bezeichnet, weil die Wirtschaft stagnierte, so kann man die neunziger Jahre als die Boom-Jahre der Videokunst in Lateinamerika bezeichnen. Aber gerade die einfache technische Ausrüstung anfang der Neunziger führte bei den Künstlern und Künstlerinnen zu einer besonderen Entfaltung ihrer Kreativität. Ungewöhnliche Inhalte und eine Formensprache, die nicht von technischen Effekten geprägt war, sondern durch eine eigenwillige Kameraführung, experimentelle Montagen und den Rückgriff auf nationale Ikonen, waren die Stilmittel der frühen Neunziger. Zum Beispiel in dem argentinischen Video La región del Tormento von Marcello Mercado aus dem Jahr 1992 werden Assoziationen zur Miltitärdiktatur geweckt. Im Programmheft wird das Video zwar als „Fragmente eines Besuches in einer Psychatrie“ beschrieben. Therapie wird hier letztlich aber als Folter dargestellt und so der Bogen zur Militärdiktatur geschlagen. Das brasilianische Video 15 Filhos von Maria Oliveira und Martha Nehring (1996) geht explizit auf die brasilianische Militärdiktatur ein. Söhne und Töchter erzählen über ihre Traumata, die das Verschwinden und die Ermordung ihrer Eltern bei ihnen hervorgerufen haben. Es ist eine nüchterne Arbeit, auf einem Sofa sitzend erzählen die bereits erwachsenen Kinder von ihren Erinnerungen. Eine gute Kameraführung und Beleuchtung ermöglichen es, ohne viele an Untertitel zu lesen, einen Zugang zu den Geschichten der Kinder zu bekommen.
Andere Arbeiten leben sehr stark von dem gesprochenen Text und haben ausgesprochen langweilige Bilder. Some Women von Sabrina Farji (Argentinien 1992) ist so eine Arbeit.

Die Feine Unterschiede

Was ist der Unterschied zwischen der Videokunst aus Argentinien, Brasilien und Mexiko? Das wurden die drei KuratorInnen bei einer Diskussionsveranstaltung gefragt. Jorge La Ferla, Kurator und Medienprofessor aus Argentinien, bezeichnete die argentinische Videokunst als international und nicht argentinisch. Argentinien habe sich kulturell immer sehr an Europa orientiert. Dazu käme, dass es in Argentinien sehr viele Psychotherapeuten gäbe und es deshalb mit Freud und Lacan eine gewisse intelektuelle Schwere in den Videos und der Medienkunst vorhanden sei. „Mich interessiert die Medienkunst aus Südafrika, fünf Flugstunden von Buenos Aires entfernt und ich weiß nichts von der Kunst aus Südafrika,“ meinte La Ferla und sprach das Bedürfnis an, eine Videokunst der südlichen Hemisphäre zu etablieren.
Solange Farkas, Organisatorin des 13. Videobrasil International Electronic Art Festival im September 2001 in São Paulo, beschrieb die brasilianische Videokunst in der Technik und Form ebenfalls als international. Inhaltlich setzt sich die brasilianische Videokunst mit regionalen Themen auseinander. Zum Beispiel beschreibt eine Arbeit aus dem Jahre 1986 mit einem ethnografischen Blick die Lebenswelt von Obdachlosen und Outcasts in der Stadt São Paulo, ein Video, das von einer schonungslosen Nähe und gleichzeitigen Zärtlichkeit lebt.
In der mexikanischen Videoproduktion hat die aktuelle Politik einen starken Einfluss. Judith Moreno, Kulturjournalistin aus Mexiko Stadt, erwähnte das Video zum Massaker von Acteal, Chiapas, was einen starken Eindruck in der Medienlandschaft von Mexiko hinterlassen habe. „Es ist aber keine künstlerische Videoproduktion,“ sagte sie. Aber natürlich beeinflussen solche Videos und die aktuelle Politik auch die künstlerische Produktion.

Der Moloch im Lexikon

Beeindruckend war ihre Vorstellung eines Lexikons auf CD-ROM und in Buchform aus Mexiko Stadt mit dem Titel ABCDF. ABC für den lexikalen Charakter, DF für Distrito Federal, eine Bezeichnung für Mexiko Stadt, die im ganzen Land gebräuchlich ist. Dieses Lexikon ist ein Glossar mit den verschiedensten Begriffen, die in der Lebenswelt des Molochs Mexiko Stadt eine Rolle spielen und die assoziativ beschrieben werden. Unter C findet man z.B. das Wort Charco (Pfütze). Wenn man auf der Buchstabenleiste auf den Begriff Charco klickt, beginnt ein kurzer Film mit fester Kameraeinstellung auf eine Pfütze an einem beliebigen Bordstein in Mexiko Stadt. Ein Mann tritt ins Bild. Man sieht nur seine Schuhe. Er ruft seine Freundin, die mit dem üblichen Ruf antwortet: „Ahorita voy!“ „Komme sofort!“ Sie kommt von dem gegenüberliegenden Haus gelaufen und springt mit der Bemerkung über die Pfütze. „Wir sind bereits zu spät.“ Die beiden gehen. Ein Kind mit Gummistiefeln stakst in der Pfütze herum und wird von einer Frau aus dem Off ermahnt, dass es sich nicht nass machen soll, weil dann die Mama schimpfe. In den einzelnen Filmen kann man verschiedene Gegenstände anklicken und kann so assoziativ durch die verschiedenen Stimuli von Mexiko Stadt surfen. Es lohnt sich!

ABCDF, Buch und CD-ROM, Hybrid Mexiko 2001 Editorial Diamantina S.A. de C.V. Calle 5 de Febrero no.42 Colonia Coyoacán Mexico 04000.

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