Vom Traum zur Enttäuschung
Nach fast 18 Jahren MAS-Regierung ist von den einstigen Versprechungen wenig übriggeblieben

„Ich wollte nie in eine Partei eintreten, doch dann kam die Bewegung zum Sozialismus (MAS)“, erinnert sich Gonzalo Huaranca an die frühen 2000er Jahre. Huaranca, aufgewachsen in El Alto, der armen Vorstadt der bolivianischen Verwaltungshauptstadt La Paz, ist Musiker und Aymara. Seine Eltern migrierten vom Land in die Stadt. Huarancas Jugend war in den 90er Jahren geprägt von den letzten Massakern an Indigenen Minenarbeitern. Er war einer von vielen, die im Bolivien der weißen Oberschicht aufwuchsen.
„Während meiner Jugend hatte ich immer das Gefühl, wir Aymara seien vom Staat ausgeschlossen. Jemand wie wir würde niemals an die Regierung kommen“, sagt Huaranca. Doch mit den Protesten des sogenannten Wasserkriegs im Jahr 2000 änderte sich alles. Eine Indigene Bewegung, angetrieben von sozialer Ungerechtigkeit, beschloss, den Staat zu erobern und grundlegend zu verändern. Huaranca schloss sich 2003 der MAS an und engagierte sich im Wahlkampf. „Ich habe geweint, als Evo Morales 2006 die Präsidentenschärpe erhielt“, sagt er mit wehmütigem Blick.
Zwei Jahrzehnte später steckt Bolivien in einer tiefen Krise. Wirtschaftliche Fehlentscheidungen und politische Machtkämpfe dominieren das Land, während die einstigen Ideale der MAS verblasst sind. Was ist schiefgelaufen?
„Dafür habe ich nicht gekämpft.“
Bolivien sollte laut der Verfassung von 2009 ein plurinationaler, sozialstaatlicher und demokratischer Staat sein – ein Versprechen, das damals mit großem Enthusiasmus begrüßt wurde.
Doch dieses Ziel sei auch 15 Jahre später nicht erreicht, kritisiert Pedro Callisaya Aro, Ombudsmann der staatlichen Defensoría del Pueblo für Menschenrechte. In seinem Büro im Zentrum von La Paz zeigt sich Callisaya bestimmt: „Die Politik hat es versäumt, die in der Verfassung verankerten Menschenrechte auch tatsächlich umzusetzen.“ Teilweise habe sie sogar entgegen dieser Prinzipien gehandelt. Besonders betroffen: Indigene Rechte und der Schutz der Natur.
Ein aktuelles Beispiel sind die verheerenden Waldbrände, die zwischen Mai und Oktober 2024 über zehn Millionen Hektar Land – eine Fläche größer als Portugal – zerstörten. „Viele Indigene haben dadurch ihren Lebensraum verloren und mussten umgesiedelt werden“, sagt Callisaya.
Dies verstoße gegen die Grundrechte der Indigenen Bevölkerung, die eigentlich durch die Verfassung geschützt sein sollten. Auch die in der Verfassung verankerten Rechte der Natur seien den wirtschaftlichen Interessen geopfert worden. Die Waldbrände seien Symptom einer größeren wirtschaftlichen Fehlentwicklung, meint der Wirtschaftswissenschaftler Rodrigo Burgoa. „Die Legalisierung von Brandstiftung zur Ausweitung landwirtschaftlicher Flächen fällt zeitlich mit dem Ende des Gasbooms zusammen.“ Bis 2014 finanzierte der Export von Gas nicht nur Sozialprogramme, sondern auch die Industrialisierung.
Doch es wurde weder nach neuen Gasfeldern gesucht noch die bestehende Infrastruktur genügend auf Trab gehalten. Burgoa sieht darin eine zu politische Führung der staatlichen Unternehmen, die nicht genügend auf wirtschaftliche Stabilität getrimmt worden seien.
Währungspolitik wie eine tickende Zeitbombe
Um die sinkenden Gaspreise zu kompensieren, setzte die Regierung zunehmend auf landwirtschaftliche Produkte und andere natürliche Ressourcen. Die sich ausweitende Sojaproduktion führte zu einer Rekordabholzung von fast zwei Millionen Hektar zwischen 2016 und 2022, wie die Nichtregierungsorganisation Amigos de la Naturaleza bekannt gab. Gleichzeitig schaffte es die Regierung nicht, den Abbau von Lithium und die damit verbundene Industrie weiter zu fördern. Beim Lithiumabbau kann Bolivien nicht mit den Nachbarländern Argentinien und Chile mithalten – der Boom droht zu Ende zu gehen, bevor das Land überhaupt davon hätte profitieren können.
Um die wirtschaftliche Stabilität des Landes nicht aufs Spiel zu setzen, hielt die Regierung zudem an einem festen Wechselkurs des Boliviano fest und subventionierte die Spritpreise. Mittlerweile wirkt diese Politik wie eine tickende Zeitbombe. Obwohl die Regierung weiterhin daran festhält, kann sie den fixen Wechselkurs nicht mehr halten, da schlichtweg die Dollarreserven fehlen. Während ein Dollar offiziell weiterhin sieben Bolivianos wert ist, liegt der Preis in Wechselstuben bereits doppelt so hoch. Und aufgrund fehlender Dollarreserven hat das staatliche Erdöl- und Erdgasunternehmen YPFB Schwierigkeiten, genügend Treibstoff zu importieren. Aber eine Aufhebung der Subventionen könnte ernsthafte soziale Probleme mit sich führen. Denn schon jetzt erlebt das Land eine schleichende Inflation: Während staatlich kontrollierte Lebensmittel knapp werden, steigen die Preise auf dem freien Markt. Die noch Anfang 2024 gefeierte niedrigste Inflation in Lateinamerika dürfte bald auch in offiziellen Zahlen vorbei sein.
Für Aktivist*innen wie Huaranca markierte die zweite Amtszeit von Evo Morales einen Wendepunkt. „Die Ideale der Bewegung wurden durch den Wunsch nach Macht ersetzt“, sagt er. Auf lokaler Ebene erlebte Huaranca, wie politische Positionen zur Ware wurden: „Ein Mitglied sagte zu mir, ‚Tritt unserer Gruppe bei, und du bekommst einen Posten in der staatlichen Telefongesellschaft.‘ Dafür habe ich nicht gekämpft.“ Diese Entwicklung zieht sich durch die gesamte Struktur der MAS, wie Ombudsmann Callisaya betont: Obwohl die Verfassung eigentlich die Demokratie in Bolivien hatte stärken sollen, sei teilweise das Gegenteil passiert: Ein Präsident, der sich nicht an die maximale Anzahl an Wiederwahlen hält; Verfassungsrichter*innen, die die Verfassung frei auslegen; Richter*innen, die sich an ihr Amt klammern und Politiker*innen, die die Unabhängigkeit gewisser öffentlicher Institutionen, wie etwa der Ombudsstelle, nicht akzeptieren. Callisaya meint, die Verfassung hätte zu wenig Schranken, um Macht zu begrenzen.
Die MAS selbst scheint sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2025 in internen Machtkämpfen zu verlieren und ist daher unfähig, im Parlament politische Projekte anzustoßen. Der aktuelle Präsident Luis Arce und sein Vorgänger Evo Morales liefern sich einen erbitterten Kampf um die Kandidatur (siehe LN 605). Das dem aktuellen Präsidenten nahestehende Verfassungsgericht verbot Morales eine erneute Kandidatur, worauf dieser zu Protesten aufrief. Als zudem bekannt wurde, dass die Staatsanwaltschaft gegen Morales wegen Kindesmissbrauchs ermittelte, blockierten Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten die Straßen des Landes im Oktober 2024 für drei Wochen. Dies verschärfte die wirtschaftliche Situation im Land und führte zu einem tiefen Verlust der Glaubwürdigkeit des MAS.
Indigene Rechte und Naturschutz vernachlässigt
Gleichzeitig bereiten sich rechte Kräfte auf die kommenden Wahlen vor. Der in den USA lebende Unternehmer Raúl Clauré wirbt finanzkräftig für einen Machtwechsel – über soziale Medien verbreitet er politische Forderungen nach einer Verkleinerung des Staats und neoliberalen Reformen. Laut von ihm in Auftrag gegebenen Umfragen gilt Claurés Kandidat, Manfred Reyes, als Favorit. Reyes ist Bürgermeister von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens. Als Soldat ging er in die US-amerikanische School of the Americas und ist Sohn des Verteidigungsministers der Militärdiktatur von Luis García Mesa (1980 bis 1981).
Aber selbst eine rechte Regierung kann die Zeit nicht zurückdrehen. Obwohl Huaranca die MAS bereits Anfang der 2010er Jahre verließ, sieht er weiterhin Hoffnung für einen tieferen Wandel – in Basisorganisationen, die auf lokaler Ebene aktiv sind. Das neu erwachte Selbstbewusstsein der Indigenen Bevölkerung und ihr Wunsch nach politischer Teilhabe wird auch die Zukunft des Landes prägen. Derweil ist das Vertrauen in die MAS als Träger des Wandels verflogen – Bolivien bleibt ein Land mit extremer Armut, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und unzureichender sozialer Sicherheit.