Guatemala | Nummer 297 - März 1999

Von der Erinnerung des Schweigens

Der Bericht der Wahrheitskommission belegt den Völkermord an der Maya-Bevölkerung in Guatemala

An den Bericht der Wahrheitskommission, die im Rahmen der Friedensabkommen zwischen Regierung und Guerilla vereinbart worden war, wurden kaum noch große Hoffnungen geknüpft – zu begrenzt schien ihr Mandat zur Untersuchung des jahrzehntelangen Bürgerkiegs. Umso erstaunlicher sind daher die nun nach eineinhalbjähriger Arbeit vorgelegten Ergebnisse, die bei Menschenrechtsorganisationen und den Verbänden der Opfer des Krieges auf große Zustimmung treffen. Weniger begeistert sind hingegen Präsident Alvaro Arzú und US-Botschafter Donald Planty.

Michael Krämer

Manche Ereignisse kündigen ihre Bedeutung nur sehr langsam an. Die Erwartungen der daran beteiligten Personen steigern sich gleichzeitig jedoch enorm. So ein Ereignis war die Veröffentlichung des Berichts der „Kommission zur historischen Aufklärung“ (besser bekannt als „Wahrheitskommission“) über die Menschenrechtsverletzungen während des mehr als drei Jahrzehnte währenden Bürgerkriegs in Guatemala. Zu den beteiligten Personen gehört ein Großteil der guatemaltekischen Bevölkerung, schließlich gab es kaum einen Menschen in dem mittelamerikanischen Land, der nicht in irgendeiner Weise von Gewalt und Repression, sei es als Opfer, sei es als Täter, betroffen war.
Was für die guatemaltekische Regierung und die ehemalige Guerillabewegung URNG („Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas“) vor allem eine Pflichtübung war, die sie aufgrund des nationalen und internationalen Drucks zulassen mußten und daher auch nur mit einem sehr begrenzten Mandat ausstatteten, hatte für die guatemaltekische Gesellschaft einen großen Stellenwert. Jahrelang war es schon ein Verbrechen, über die Repression, mit der das Militär das Land im Griff hielt, auch nur zu sprechen.

Die Vorarbeit der katholischen Kirche

Als die Wahrheitskommission 1994 im „Abkommen von Oslo“ vereinbart wurde, herrschte Entäuschung, weil ihr nur zwölf Monate Zeit gewährt wurden, um 36 Jahre Krieg zu untersuchen. Und zu allem Übel wurde es ihr auch noch untersagt, die Namen der für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zu nennen.
Das begrenzte Mandat war denn auch einer der Gründe, der die katholische Kirche Guatemalas veranlaßte, ein eigenes Projekt zur Untersuchung der Verbrechen des Krieges zu starten. Ziel dieses Projekts zur „Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“ (Recuperación de la Memoria Historíca; REMHI) war es zudem, die Gewaltgeschichte aus der Sicht der Opfer nachzuzeichnen und auf diese Weise sowie durch begleitende Maßnahmen, wie Hilfestellung bei der Exhumierung von Massengräbern oder die Errichtung von Mahnmalen, dazu beizutragen, ihnen ihre Würde zurückzugeben (vgl. LN 276). Von Beginn an verstand die katholische Kirche diese Arbeit auch als Unterstützung der Wahrheitskommission, der sie ihre sämtlichen Unterlagen zur Verfügung stellte.
Der REMHI-Bericht, der auch Namen der Täter enthält und unter dem Titel „Guatemala: Nie wieder!“ am 24. April 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war ein wichtiger Beitrag, um der Politik des Verschweigens durch die Regierung von Präsident Alvaro Arzú zu entgegnen. Der brutale Mord am für das REMHI-Projekt verantwortlichen Bischof Juan Gerardi nur zwei Tage nach der Vorstellung des Berichts und die skandalöse Ermittlungspraxis der Staatsanwaltschaft trugen ebenfalls dazu bei, daß das Thema Menschenrechtsverletzungen und Straffreiheit seitdem ein wichtiges Thema der öffentlichen Diskussion blieb und das Interesse an der Arbeit der Wahrheitskommission wuchs. Daß der Mord an Bischof Gerardi auch nach fast einem Jahr noch immer nicht aufgeklärt ist, erscheint wie ein weiterer Beweis dafür, daß das System der Straffreiheit in Guatemala bis heute fortbesteht.

Ein historischer Tag …

Eine der Hoffnungen von MenschenrechtsaktivistInnen war es denn auch, daß die Regierung, anders als beim „inoffiziellen“ REMHI-Bericht, auf die Ergebnisse der Wahrheitskommission werde reagieren müssen. Nach mehreren Verzögerungen war es am 25. Februar endlich so weit. Einige Informationen waren bereits nach außen gesickert und nährten die Hoffnung, daß die Kommission, die von dem deutschen Völkerrechtler Christian Tomuschat und den beiden Guatemalteken Alfredo Balsells und Otilia de Cotí geleitet wurde, einen „guten Bericht“ vorlegen würden.
Mehr als 3.000 Menschen drängten sich im Nationaltheater von Guatemala-Stadt und nochmals annähernd so viele davor, als der 3.400 Seiten starke Kommissionsbericht dem Vertreter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der Regierung und der URNG übergeben wurde. Die Spannung war enorm, als Alfredo Balsells als erster vor das Mikrofon trat und in einem kurzen und sehr persönlichen einleitenden Beitrag unter anderem an seine Freunde erinnerte, die vom guatemaltekischen Staat ermordet wurden, „obwohl keiner von ihnen je eine Waffe in die Hand genommen hatte“. Als er an die Bedeutung von Bischof Gerardi für den Kampf um die Menschenrechte in Guatemala erinnerte, applaudierte das Publikum minutenlang. Nach und nach erhoben sich die Anwesenden, zunächst die VertreterInnen sozialer Organisationen, von Menschenrechtsgruppen und der katholischen Kirche, danach das versammelte diplomatische Corps und zuletzt auch Präsident Alvaro Arzú und die anwesenden Offiziere. Die erste Demütigung für den Präsidenten, der im vergangenen Jahr auf Konfrontation zur katholischen Kirche gegangen war, nachdem diese immer wieder die Umsetzung der Friedensabkommen und Fortschritte im Menschenrechtsbereich angemahnt hatte.
Die ganze Veranstaltung wurde zu einem Affront gegen den Präsidenten, der schlecht beraten war, als er mit Raquel Zelaya vom „Friedenssekretariat“ nur eine drittrangige Regierungsvertreterin auserkoren hatte, um den Kommissionsbericht entgegenzunehmen. Er selbst nahm nur als Zuschauer in der ersten Reihe des Theaters Platz, während mit Alvaro de Soto immerhin einer der direkten Stellvertreter von UN-Generalsekretär Kofi Annan und mit Jorge Soto der Generalsekretär der URNG auf dem Podium saßen. Mehrmals wurde der Präsident aus dem Publikum heraus aufgefordert, den Bericht persönlich entgegenzunehmen.
Es waren eineinhalb lange Stunden für Alvaro Arzú, dessen meist versteinertes Gesicht immer wieder von den Kameras eingefangen wurde und auf Leinwänden im und vor dem Theater zu sehen war. Obwohl die folgenden Reden bis zur Übergabe des Berichts allesamt eher diplomatisch, also oberflächlich waren, steigerte sich die Stimmung im Nationaltheater von Guatemala-Stadt. Es ging um die Wahrheit, es war ein historischer Tag für das Land und für die Menschen.

… und eine historische Rede

Nachdem der Bericht offiziell übergeben war, stellte Christian Tomuschat die zentralen Ergebnisse und die Empfehlungen des Berichts vor (vgl. nachfolgender Artikel). Die Direktheit, mit der es Tomuschat im Namen der Kommission gelang, die Schuldigen für die jahrzehntelange Repression zu benennen, ohne daß auch nur ein Name fiel, überraschte auch jene, die bereits damit gerechnet hatten, daß die Kommission ihr Mandat so gut wie irgend möglich nutzen würde, um der Wahrheit der Gewaltgeschichte Guatemalas näherzukommen. Immer wieder wurde seine Rede von Applaus und Sprechchören unterbrochen: „Zuerst Pinochet und nun Ríos Montt“, forderten sie die Bestrafung des Ex-Diktators, in dessen Regierungszeit 1982/83 ein bedeutender Teil der schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung verübt wurde.
Viele Tränen flossen, so unfaßbar schien es noch immer, daß in Guatemala, wenn auch nicht von der Regierung, so doch von offizieller Seite die Wahrheit ausgesprochen wurde. Erstarrt hörte der Präsident, wie Tomuschat die Regierung aufforderte, die Verantwortung des Staates für die Repression, bei der „jegliche moralische Werte verloren gegangen sind“, anzuerkennen und bei der guatemaltekischen Gesellschaft um Verzeihung zu bitten.
Vergessen ist nun die Kritik an Christian Tomuschat, der oft nur wenige Tage im Monat in Guatemala anwesend war. Die Kommission mußte auch in schwierigen Momenten, wie zum Beispiel nach der Ermordung Juan Gerardis, ohne ihn auskommen. Tomuschat hat eine historische Rede gehalten. So glaubt auch niemand in Guatemala an Zufall, daß bei der Live-Übertragung der Veranstaltung in Fernsehen und Radio, just bei seiner Rede, der Strom ausfiel.

Erste Reaktionen

Die meisten Reaktionen auf den Kommissionsbericht mit dem Titel „Guatemala. La memoria del silencio“ (Die Erinnerung des Schweigens) waren sehr positiv. Frank LaRue, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation CALDH (Centro de Acciónes Legales de Derechos Humanos), erklärte unmittelbar nach dem Ende der Veranstaltung: „Noch nie ist die Wahrheit über den Krieg in Guatemala so deutlich benannt worden wie heute.“ Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchú sieht sich durch den Bericht bestätigt: „Er zeigt die Wahrheit, endlich wurde das Schweigen durchbrochen.“
Weniger angetan zeigte sich hingegen US-Botschafter Donald Planty. Er kann überhaupt nicht nachvollziehen, weshalb die USA im Bericht genannt werden. Tomuschat hatte nämlich von dem Druck berichtet, den die US-Regierung und US-amerikanische Konzerne bis Mitte der achtziger Jahre ausgeübt hatten, „um die archaische und ungerechte sozio-ökonomische Struktur des Landes aufrechtzuerhalten“. Unter anderem durch die CIA sei die US-Regierung „direkt und indirekt an illegalen Aktionen des (guatemaltekischen) Staates“ beteiligt gewesen. Ex-Geheimdienstchef Mario Mérida meinte hingegen, es habe sich um einen „Krieg zwischen den USA und der UdSSR gehandelt, in den wir niemals hätten verwickelt werden sollen.“ Nur die Regierung und insbesondere Präsident Arzú hielten sich bislang auffällig zurück. Der Presse gegenüber verweigerte letzterer mit der Bemerkung „Ich habe den Bericht noch nicht gesehen“, zunächst jeden Kommentar und begab sich auf eine Reise ins Landesinnere, um Infrastrukturprojekte einzuweihen.

Mögliche Konsequenzen

Welche konkreten Auswirkungen der Wahrheitsbericht haben wird, ist noch schwer abzuschätzen. Sicher ist, daß die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit noch einige Zeit ein wichtiges Thema der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bleiben wird. Menschenrechtsgruppen können sich in ihrer Arbeit nun auf einen offiziellen Bericht der Vereinten Nationen beziehen, der von den Konfliktparteien in Auftrag gegeben wurde. Der Wahrheitsbericht hat zwar keinen bindenden Charakter, die Kommission konnte lediglich Empfehlungen aussprechen, doch wird es nun leichter sein, Druck auf die Regierung auszuüben, um den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen.
Frank LaRue hat bereits angekündigt, daß CALDH gemeinsam mit anderen Organisationen ein Verfahren wegen Völkermord gegen die Ex-Diktatoren Lucas García und Ríos Montt anstrengen wird. Insbesondere das Vorgehen gegen Ríos Montt birgt einigen Sprengstoff, ist der gealterte Ex-General doch noch immer eine sehr mächtige Person in Guatemala und Vorsitzender der stärksten Oppositionspartei FRG (Frente Republicano Guatemalteco).
Es scheint allerdings äußerst unwahrscheinlich, daß irgend ein guatemaltekisches Gericht ein Verfahren gegen Ríos Montt und andere hochrangige Schlächter eröffnet. Eine Reform des Justizapparats steht bis heute noch aus. Wie weit Guatemala von juristischer Gerechtigkeit noch entfernt ist, zeigte sich nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Wahrheitsberichts, als ein Gerichtsurteil gegen drei Beteiligte an dem Massaker von Río Negro im März 1982 in zweiter Instanz aufgehoben wurde. Damals wurden mehr als 170 Menschen von Paramilitärs ermordet.

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