Kolumbien | Nummer 449 - November 2011

Von der Kritik zur Selbstbestimmung

Jenseits der etablierten politischen Strukturen formulieren soziale und ethnische Bewegungen in Kolumbien Alternativen

Kolumbianische soziale, ethnische und politische Organisationen verfolgten lange jeweils alleine ihre Ziele. Seit fast drei Jahren arbeiten sie jedoch zusammen und formulieren konkrete Forderungen für einen umfassenden Wandel. In diesem Herbst trafen sie sich zum ersten Mal bei einem Kongress zu einem spezifischen Thema: Die madre tierra (Mutter Erde), bedroht durch Bergbauprojekte, Landnahme und Monokulturen.

Javier Castellanos und Christina Gerdts

Dies ist ein historischer Moment der kolumbianischen linken und sozialen Bewegungen. Denn bislang entstanden starke Mobilisierungsprozesse in der Geschichte Kolumbiens oft entlang ethnischer (Afros, Indigene, rurale Mestizobevölkerung) oder sekoraler (Frauen, Arbeiter_innen, Jugendliche) Trennungslinien. Auch haben die unterschiedlichen Regionen verschiedene Probleme und Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen Strömungen waren häufig: Nie konnte sich eine linke Bewegung oder Partei dauerhaft behaupten.
Doch seit einigen Jahren und trotz der extremen Repression unter der Regierung Uribe (2002 bis 2010) hat ein Dialog- und Annäherungsprozess verschiedenster Sektoren, Akteur_innen und Strömungen sozialer und linker Bewegungen stattgefunden. Wichtigster Ausdruck dieser Annäherung ist der Kongress der Völker, zu dem seit 2009 verschiedene regionale, ethnische und sektorale Organisationen auf nationaler Ebene zusammenkommen. 2010 verabschiedeten 20.000 Teilnehmer_innen auf dem Kongress in einem historischen Versuch partizipativer Demokratie politische Programme für ein anderes Kolumbien.
Sie vereinbarten auch, 2011 den ersten landesweiten thematischen Kongress zu Land, Territorium und Souveränität abzuhalten, der schließlich Anfang Oktober in Cali stattfand. Dieser fand dann Anfanbg Oktober an der Universidad del Valle in Cali im Süden Kolumbiens unter der Beteiligung von 15.000 Aktivist_innen aus allen Teilen des Landes statt.
Vier Tage lang, vom 30. September bis zum 4. Oktober 2011, diskutierten Indigene, Afro-Kolumbianer_innen, Kleinbäuerinnen und -bauern, Frauen, Jugendliche, Opfer- und Vertriebenenorganisationen über die Landproblematik, das aktuelle extraktive Agrar- und Entwicklungsmodell, die Problematik des bewaffneten und sozialen Konflikts, Wasser, Nahrungsmittelsouveräntität und die Probleme in den Städten. Abschließend formulierten sie insgesamt 18 allgemeine und regionale Forderungen und versprachen, diese innerhalb der nächsten Jahre durch Mobilisierungen und soziale Aktionen umzusetzen. Sie streben ein alternatives Entwicklungsmodell an, basierend auf regionalen, basisdemokratischen Land- und Raumnutzungskonzepten im Einklang mit der Umwelt und den kulturellen Traditionen der Bevölkerung.
Die Forderungen betreffen alternative Vorstellungen von der Konstruktion regionaler Territorien, den Zusammenschluss sozialer Bewegungen, eine stärkere Souveränität der Völker und eine soziale Bewegung zum Thema Land, Territorium und Souveränität. Basisorganisationen und soziale Bewegungen wollen für eine politische Verhandlungslösung des bewaffneten Konflikts alle Anstregungen mobilisieren und die Straflosigkeit für die Verfolgung der ländlichen, indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden beenden. Eine partizipative, integrale Agrarreform ist ein weiteres politisches Ziel, die Privatisierung von Wasserquellen soll verhindert werden. Städte sollen nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner_innen gestaltet sein.
Hintergrund des Auflebens der sozialen Bewegungen und der Linken in Kolumbien sind die Wirtschafts- und Agrarstrukturen und das aktuelle Entwicklungsprogramm der Regierung. Trotz des konstanten Wirtschaftswachstums in der letzten Dekade hat sich die Ungleichheit verstärkt. Diese Tendez bestätigt auch der letzte Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, der eine besorgniseregende Verstärkung der Landkonzentration feststellte. Zahlen von staatlichen Institutionen wie dem Geographischen Institut Augustin Codazzi zeigen dieselbe Entwicklung. Laut dem Gran Atlas de la Propiedad de la Tierra (Großer Atlas zur Verteilung des ländlichen Besitzes) machten die Kleinbäuerinnen und -bauern 1960 knapp 70 Prozent aller privaten Landbesitzer_innen aus, während sie 2009 nur noch knapp die Hälfte darstellten. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Großgrundbesiter_innen von 0,4 auf 1, 4 Prozent an. Aktuell befinden sich 41 Prozent des Landes in Händen von Großgrundbesitzer_innen mit mehr als 200 Hektar, 40 Prozent sind Besitztümer zwischen 20 und 200 Hektar und nur 18 Prozent (sieben Millionen Hektar) befinden sich in Klein- und Kleinstbesitz.
Die Gesetzesinitiativen der amtierende Regierung Santos zur Landrückgabe an Vertriebene, das Opfergesetz und das Gesetz zur Titulierung von Grundstücken sind trotz vieler Lücken und Schwachstellen wichtige Schritte in die richtige Richtung. Sie reformieren jedoch in keinster Weise die Landbesitzstruktur.
Ein weiterer, für die extreme Ungleichheit und den bewaffneten Konflikt zentraler Aspekt ist die Boden- und Ressourcennutzung. Der Entwicklungsplan der Regierung Santos beinhaltet eine extrem agressive extraktive und agroindustrielle Wirtschaftspolitik. Im Bereich Bergbau wurden letztes Jahr 10 Millionen Hektar zur Erkundung und zum Abbau an 39 transnationale Konzerne und die halbstaatliche Öl-Firma Ecopetrol vergeben. 50 weitere Millionen Hektar will die Regierung noch in Konzessionen vergeben – knapp die Hälfte des kolumbianischen Territoriums. Diese Bergbaupolitik verspricht rasche Gewinne, doch die Kosten in Form von Umsiedlung und Vertreibung, Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden sowie extrem prekärer Arbeitsbedingungen trägt einmal mehr die ländliche Bevölkerung. Ein weiterer Pfeiler der Wirtschaftspolitik ist die Agrarindustrie. Monokulturen für den Export heißt die Zauberformel. Besonders im Trend liegen der Anbau von Zuckerrohr und Palmöl, um damit Bio-Kraftstoffe zu gewinnen und den Energiehunger des globalen Kapitalismus durch vermeintlich „saubere“ Energien zu stillen (siehe LN Nr. 447/448). Auch die industrielle Forstwirtschaft und Wasserkraftwerke gehören zu den vermeintlich umweltfreundlichen, erneuerbaren Energien, die dennoch starke Auswirkungen auf Umwelt und lokale Bevölkerung haben.
Dieses Entwicklungsmodell kann nur durch ausländisches Kapital umgesetzt werden und in der Tat ist es im letzten Jahrzehnt neben der Landkonzentration durch nationale Akteure verstärkt zur Landnahme durch internationale Akteure (Firmen, Staaten, Investmentfonds) gekommen.
Die extreme Landkonzentration, die Landnutzung für agroindustrielle und Bergbauprojekte und neuerdings die Landnahmeprozesse bedrohen auch die Nahrungsmittelsouveränität. Das Agrarland Kolumbien importiert jährlich 10 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, in 43 Prozent aller Haushalte in Kolumbien ist der Zugang zu ausreichender Ernährung nicht gesichert, die Armutsrate auf dem Land beträgt knapp 65 Prozent. Die Pläne der Regierung und das Entwicklungsmodell als solches kommen also der nationalen Agrar- und Industrieoligarchie und den internationalen Investoren zugute, während sich für den Großteil der Bevölkerung die prekären Lebensbedingungen auf dem Land sowie in den urbanen Ballungsräumen in den letzten Jahren noch verschärft haben.
Diesem Modell von „Entwicklung” wollen die Aktivist_innen ihre eigenen Visionen vom buen vivir (Gutes Leben) entgegensetzen. Die Forderungen implizieren ein ernst gemeinten Versprechen für die Entwicklung eines neuen Kolumbiens. Dabei werden nicht einfach Rechte von Staat und Regierung eingefordert: Vielmehr wollen die vielen verschiedenen Akteur_innen sich selbst regieren, eigene Fähigkeiten stärken und selbst über das Leben und die Territorien der Völker entscheiden.

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