Von der Psychosekte zum Folterlager
Ein neues Buch über die Colonia Dignidad
“Von der Banalität des Bösen” könnte man das neue Buch über die Colonia Dignidad in Chile auch nennen. Das wievielte Buch über diese verschrobene deutsche Sekte, die zur Helferin des chilenischen Geheimdiestes DINA und zur Folter- und Mordassistentin wurde, ist es eigentlich?
Seitdem die etwa 300 Köpfe zählende Sekte unter ihrem Führer Paul Schäfer 1961 Hals über Kopf von Deutschland nach Chile ausreiste, weil Schäfer von der Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Mißbrauchs von Sektenkindern gesucht wur-de, stand die Gruppe in Chile mehrfach im Mittelpunkt von Skandalen. Flucht, Prü-gel, Freiheitsberaubung, psychische und physische Abhängigkeit der Sekten-mitglieder, Folter und Mord gemeinsam mit dem Pinochet-Geheimdienst DINA waren die Stichworte.
Allein in Chile sind mindestens zwei Ro-mane und vier Sachbücher über die Psy-chosekte erschienen. Neben den Veröf-fentlichungen von Amnesty International 1977 und der Lateinamerika-Nachrichten 1980, 1988 und 1989 ist hier in Deut-schland vor allem das etwas zu schnell geschriebene und deshalb mit Detailfehlern behaftete Buch “Colonia Dignidad – ein deutsches Lager”, Reinbeck 1988, von Gero Gemballa zu nennen. Die Zahl der Fernsehberichte und längerer Zeitungs-artikel geht in die Dutzende. Auch ein Spielfilm (“Die Kolonie” von Orlando Lübbert, BRD 1985) ist entstanden.
F. Paul Heller geht die Sache jetzt auf 306 eng beschriebenen Seiten gründlich an, mit Personenregister und Chronik und vielleicht etwas zu gründlich. Er sucht Antworten auf die Frage: Wie kommt es, daß eine ursprünglich christlich orientierte Gruppe – der Großteil der Mitglieder stammt aus einigen Baptisten-Gemeinden in Norddeutschland – zur Terrortruppe nach innen und außen wird? Die Kapitel “Theologie des Terrors”, “Christentum und Folter” und “Gott und Teufel” machen Erklärungsversuche. “Arbeit ist Gottesdienst” ist eines der wichtigsten “Glaubensbekenntnisse” von Paul Schäfer. Schweigen gegenüber anderen Sektenmitgliedern und gegenüber Außenstehenden bei gleichzeitiger vollständiger Offenlegung aller Gedanken und Gefühle gegenüber dem Sektenführer sind die Herrschafts-instrumente, mit denen die Gruppe auf Gedeih und Verderb zusammengeschweißt worden ist.
Es wird ein Psychogramm der Gruppe gezeichnet, und es werden auch Verbindungen zwischen der versteckten ideologischen und theologischen Basis der Gruppe und einem “esoterischen Hitlerismus” einiger Freunde der Colonia Dignidad hergestellt. Das ist schwer verdaulich. Was den Wert des Buchs ausmacht, ist zum einen die Darstellung der Colonia Dignidad als Ort der Folter von politischen Gefangenen und als Ausbildungslager für den chilenischen Geheimdienst. Zum anderen sind die zahlreichen bisher unveröffentlichten Dokumente spannend, weil sich die LeserInnen mit ihnen ein eigenes Bild vom Innenleben der Psychosekte und von der Terror-ideologie des Geheimdienstes machen kann.
Während des Putsches 1973 und in den Monaten danach sind in Chile einige tausend Gegner der Pinochet-Diktatur verhaftet worden und danach spurlos verschwunden. Der Autor präsentiert nun im Kapitel “Das Massaker” und “Das Arbeitslager” konkrete Zeugenaussagen über die Ermordung von etwa 100 sogenannten Verschwundenen in der Nähe der Colonia Dignidad an einem Berg mit dem Namen Monte Maravilla. Monte Ma-ravilla war ein Arbeitslager, das die Colonia Dignidad mit einem Teil der chilenischen Streitkräfte (höchstwahr-scheinlich war dies die DINA) unterhielt. Nachden im Buch zusammengetragenen Aussagen bestand das Arbeitslager aus Fertigbaracken und Zelten. Dieses Lager, in dem bis zu 100 Gefangene untergebracht gewesen sein sollen, soll noch bis 1978, also 5 Jahre nach dem Militärputsch bestanden haben. Die Arbeit, die auch nachts geleistet werden mußte, bestand in Steineschleppen und Graben. Soweit der Autor recherchieren konnte, sind alle, die dort gefangen gehalten wurden, bis heute “verschwunden”.
Zu den dort Ermordeten zählt wahrscheinlich auch der 1974 verhaftete und verschwundene Chileno-Franzose Alfonso Chanfreau, dessen Schicksal ausführlich dargestellt wird. Erschreckend die Geschichte der ehemaligen Freundin Chanfreaus, die wie er zum linksre-volutionären MIR gehörte und nach Ver-haftung und Folter DINA-Agentin wurde. Jetzt führen die aus dem französischen Exil zurückgekehrten Eltern Chanfreaus einen Prozeß, um die Mörder ihres Sohnes dingfest zu machen. Einer der Folterer Chanfreaus, Osvaldo Romo, wurde in-zwischen von Brasilien ausgeliefert und sitzt nun in Chile in Untersuchungshaft. Das Buch bietet eine Fülle von Einzel-heiten, die es manchmal schwer machen, den Überblick zu bewahren. Grausame Dokumente sind abgedruckt, so z.B. die Empfehlungen eines Militärarztes 1973, wie mit den Anhängern der Unidad-Popular-Regierung umzugehen sei. Sie wurden in heilbare und unheilbare Extremisten eingeteilt, die Unheilbaren soll-ten deportiert und schließlich “neutra-lisiert”, also ermordet werden. Betroffen macht auch die Lebensbeichte des DINA-Agenten Rene Muñoz Alarcón, der kurz nach dem Militärputsch im National-stadion alte Parteifreunde der Sozia-listischen Partei identifizierte und der nach eigener Aussage in der Colonia Dignidad an Verhör- und Folterkursen teilnahm.
Grausig und dunkel sind auch die direkten Dokumente aus der Colonia Dignidad, die von einem krankhaften Verfolgungswahn zeugen. Häufig verfahren sie nach der Methode, die Beschuldigungen schlicht umzudrehen und die Verfolgten zu Verfolgern zu machen. Projektion nennen die Psychologen so etwas. Das “Protokoll der Außerordentlichen Generalversammlung” vom 26.10.1985 ist ein beredtes Dokument über die Denkweise der Sekte. Nach der Flucht dreier wichtiger Gruppenmitglieder, u.a. von Hugo Baar, der jahrelang der Leiter des zurückgebliebenen Außenpostens der Gruppe in Siegburg war, wurde dieses Protokoll verfaßt, um mit den Flüchtigen abzurechnen. Baar wird als geltungssüchtiger hysterischer Psychopath bezeichnet. Psychoterror, Bespitzelung, Post- und Telefonkontrolle werden ihm vorgeworfen. Praktiken, die für Baars damaliges Verhalten treffend gewesen sein mögen, die aber wahrscheinlich in noch größerem Ausmaß auch für die Colonia Dignidad in Chile zugetroffen haben.
Am Ende des Buchs stellt sich die Frage, was jetzt aus der Colonia Dignidad wird. Immer wieder in neue rechtliche Formen mutiert, existiert die Gruppe unter Sektenführer Paul Schäfer seit Mitte der 50er Jahre. Zwei große Skandale mit zwei parlamentarischen Untersuchungen (Chile 1967 und Deutschland 1988) hat die Gruppe unbeschadet überstanden. Als Helferin der Pinochet-Diktatur jahrelang gut geschützt, dann aber auch in Chile in die öffentliche Kritik geraten und im Februar 1991 formell aufgelöst, besteht die verschrobene Sekte weiter, weil sie ihr Eigentum rechtzeitig in neue Gesellschaften von Sektenmitgliedern überführt hat.
Wird es eines Tages eine Befreiung der von ihrer Führung unterdrückten Sekten mitglieder geben? Wird eines Tages die ganze Wahrheit über die Kollaboration der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst ans Licht kommen? Werden die Mörder und Helfer gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden können? Gewisse Chancen bestehen jetzt. Die chilenische Justiz hat inzwischen den früheren Geheimdienstchef und Freund der Colonia Dignidad, Manuel Contreras, zu 7 Jahren Haft verurteilt. Dies geschah jedoch nicht für die Straftaten, die er zusammen mit der Colonia Dignidad begangen hat, sondern wegen der Ermordung des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier, der 1976 einem Bombenattentat in Washington zum Opfer fiel. Ob die gegen die Colonia Dignidad angestrengten Prozesse jemals ein Ende finden werden, bleibt zweifelhaft. Der Autor jedenfalls wagt keine Prognose.
Friedrich Paul Heller, Von der Psychosekte zum Folterlager, ISBN 3-926369-99-X, DM 29.80 Schmetterling Verlag, Stuttgart 1993