Musik | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

Von Plaplaya nach Afrika

Aurelio bringt neue Impulse in die Garífuna-Weltmusik

Nach dem Tod von Andy Palacio avancierte der Garífuna-Musiker Aurelio zu dessen legitimem Nachfolger. Nun kommt er mit seinem zweiten Album nach Europa auf Tournee.

Helga Woggon

Afrika war lange nur ein Traum der Garínagu, der einzigen afroamerikanischen Gruppe, die sich eine lebendige Sprache und Kultur bewahrt hat. Der Kontinent als Urheimat und die Karibikinsel Yúrumei (St. Vincent) als Herkunftsland wurden von vielen Künstler_innen besungen. Auch von Andy Palacio, der die Garífuna-Musik mit dem vielfach ausgezeichneten Album Wátina (2007) in der Weltmusik verankert hat, aber kaum drei Monate nach der Verleihung des Womex-Weltmusikpreises mit nur 47 Jahren starb. Seine Musiker widmeten die längst geplante Tournee seinem Andenken, geführt von Aurelio Martínez, dem großen Talent der dritten Generation in der Nachfolge von Palacio und den legendären Paranderos, die Paul Nabor bei vielen Konzerten vertrat. Aurelio arbeitete über zehn Jahre eng mit Palacio zusammen, teilt dessen Mission und baut auf dem auf, was dieser erreicht hat: die Anerkennung von Sprache, Musik und Tanz der Garínagu als immaterielles Weltkulturerbe (2001), die Förderung der Garífuna-Kultur als Kulturbotschafter von Belize und die Transformierung der traditionellen Musik in Weltmusik auf Garífuna. Schon 1998 verkündete Aurelio in seinem Song Africa, er werde nach Afrika gehen, zur ‚mama africana‘, die Geschichte seiner Vorfahren suchen. Zehn Jahre später schaut er nachdenklich aus dem Taxi auf das Treiben im nächtlichen Dakar. Als erster hat er geschafft, wovon alle träumen. Für ein Jahr arbeitet er im Senegal mit Youssou N’Dour zusammen, der ihn im Rahmen der Rolex-Kunstinitiative zum Protégé gewählt hat. Es wird eine spannende Erfahrung für beide.
Als Kind im Fischerdorf Plaplaya an der Küste von Honduras konnte Aurelio im Geiste schon Afrika sehen – Dakar, gleich auf der anderen Seite des Atlantiks. In Plaplaya gab es auch 2006 noch keinen Strom, erzählte er. Aber der Alltag war von Musik, Trommeln und Gesang be­glei­tet. Alles selbst gemacht – wie die erste Gitarre, die sich Aurelio aus Holzresten mit Saiten aus Angelschnur baute. Fernab von Straßen, Elektrizität, Konsum und Medien eiferte er seinen hochmusikalischen Eltern nach und trommelte schon mit sechs Jahren bei großen Feiern. Sein Kindheitsort und der von Andy Palacio in Barranco, Belize, sind beide in ihrem jeweiligen Land die am weitesten abgelegene Garífuna-Siedlung. Nur das Meer – und fast alle Garífuna-Orte liegen am Meer – ist immer präsent.
So auch im Titelsong von Aurelios zweitem Album Laru Beya (Am Strand), das auf die viel beachtete CD Garífuna Soul (2004) folgte und 2011 auf Platz 6 der besten Weltmusikalben (WorldMusic.co.uk) kam. Es ist ein gelungenes Experiment mittel­ame­ri­ka­nisch-afrikanischer Kooperation, genial arrangiert und produziert von Ivan Duran (Stonetree Records Belize) und aufgenommen in Dakar, Honduras und Belize. Sprache, Stil, Themen und Rhythmen der Garínagu verbinden sich mit westafrikanischen Instrumenten und Stimmen, bereichert durch Einsprengsel in Wolof, Englisch und Französisch. Zu den Gastkünstlern gehören Youssou N’Dour, der Rapper Sen Kumpe sowie Sänger des Orchestra Baobab, die in der Liebesballade Bisien Nu sogar auf Garífuna singen.
Gewidmet ist das Album Andy Palacio, an den auch der bewegende Song Wamada (Unser gemeinsamer Freund) erinnert. Zu einer Melodie aus dem heiligen Dügü, der Garífuna-Zeremonie zu Ehren der Ahnen, sieht Aurelio seinen im Land der Vorfahren hochangesehenen Freund in der Hängematte ausruhen. Begleitet von den mächtigen Stimmen N’Dours und der Garífuna-Sängerin Sofia Blanco schwillt der Song zur Hymne an und hebt in andere Sphären ab, wenn eine von fern schwach hörbare Stimme an die von Andy gemahnt. Die Herkunft der Garínagu besingt Aurelio in Yúrumei. Dort, auf der Karibikinsel mit dem britischen Namen St. Vincent, verbanden sich nach 1635 schiffbrüchige Afrikaner_innen eines Sklaventransports mit der aus Kariben und Arawak entstandenen Bevölkerung zu einer widerständigen Gruppe, die erst unterworfen wurde, als die britische Kolonialmacht 1795 ihr letztes Oberhaupt Joseph Chatoyer tötete. Von etwa 5.000 Überlebenden starben 2.000 während ihrer Internierung auf der nahen Insel Balliceaux, die anderen deportierte man nach Roatán vor der Küste von Honduras. Heute leben nahezu eine halbe Million Garínagu in Mittel­ame­ri­ka und den USA. Aurelio feiert in Yúrumei mit konsequentem Punta-Beat, dem eindringlichen Gesang der Garífuna-Frauen, die 2008 mit dem Album Umálali bekannt wurden, und den Nach­wuchs­künst­ler_innen der Kindertrommelgruppe die gemeinsame Geschichte.
Ab 2006 gehörte Aurelio einige Jahre zu den ersten vier schwarzen Kon­gress­abge­ord­ne­ten in Honduras, eine frustrierende Erfahrung, wie der Song Wéibayuwa (Haie) zeigt. Der senegalesische Rapper Sen Kumpe unterstützt mit pointierten Kommentaren in Wolof die Anklage gegen das System. An Diskriminierung erinnert auch Tío Sam (Uncle Sam) über Migrant_innen in den USA. Und der Song Mayahuabá (Weine nicht) gilt einem Kind, das seine Eltern durch AIDS verloren hat. Viele Lieder der Garínagu verarbeiten Alltagsprobleme, Liebe, Streit und Leid, Überleben und Tod mit den Mitteln der Musik. Einen Song des Albums hat Aurelios Mutter beim Verlust eines Sohns geschrieben und sie singt ihn auch selbst mit. In Ereba (Cassava) greift Aurelio Andy Palacios Frage auf, wer in Zukunft das Cassava-Brot als Haupt­nah­rungs­mit­­tel zubereiten werde, beschreibt die langwierige Prozedur und preist das traditionelle Brot im beliebten Punta-Beat an.
Alle drei Generationen der Garífuna-Weltmusik spielten 2001 mit Andy Palacio und den Garífuna All Stars, unter ihnen auch Aurelio und der 1930 geborene Paul Nabor, auf fünf Konzerten in Berlin – als vorletzte Band in der Geschichte des Tempodroms am Ostbahnhof. Jetzt ist die dritte Generation auf Tour, Aurelio & The Garífuna Soul Band, mit den großartigen Musikern aus Palacios Zeit und neuen Impulsen aus Afrika, dabei Garífuna durch und durch. Sie bieten energiegeladene Bühnenpräsenz, melodiöse Songs und unwiderstehlich tanzbare Rhythmen. Und „unser gemeinsamer Freund“ schaut von oben zu und schaukelt zufrieden in der Hängematte.

Termine & Infos
Aurelio & The Garífuna Soul Band: 20.Juli Koblenz // 22. Juli London / 26. Juli Rheingau / 27. Juli. Haus der Kulturen der Welt, Berlin / 28. Juli Bad Wildungen (Details: www.f-cat.de/Aurelio-tour-daten.html). Garí­funa-CDs: www.stonetreerecords.com/music/albums.php

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