Literatur | Nummer 274 - April 1997

Von Träumen, Maismenschen und Erzen­geln

Eduardo Galeanos neues Buch “Wandelnde Worte”

“Ich erzähle Geschichten voll Schrecken und Staunen, … von rauschhaft Erlebtem und er­lebtem Rausch, von wandelnden Worten, die ich gefunden – oder die mich ge­fun­den haben. Ich erzähle, was man mir erzählt hat, und dieses Buch wird geboren.” Mit diesen Worten Galeanos’ beginnt ein Werk voller Mythen und Märchen, die der Phan­tasie des/der LeserIn freien Lauf lassen.

Tommy Ramm

Öffnet man das Buch, fallen die schö­nen Holzschnitte des Bra­silianers José Francisco Bor­ges als erstes ins Auge. Die Kunst des “Cordel”, eine alte Tra­di­ti­on der Volks­bücher, mach­te ihn als Holzschnitzer und Po­eten berühmt. Von der ersten bis zur letzten Seite begleiten sei­ne Bilder ergänzend und be­rei­chernd die Geschichten und loc­kern das Buch optisch auf. Schon allein das äußere Er­schei­nungsbild verleiht dem/der Le­serIn das Gefühl, etwas Be­son­deres und liebevoll Ge­stal­te­tes in den Händen zu halten.
Mit dem Buch hat Eduardo Ga­le­ano ein Werk geschaffen, das seine kreative und wort­ge­wand­te Ausdruckskraft in schön­ster Form darstellt. Seine Er­fah­rungen und Gedanken einerseits, die überlieferten Mythen der In­di­os an­der­erseits finden in far­ben­reichen und phantasievollen Ge­schichten ihren Raum.
Schon in der ersten Ge­schich­te, in der ein zauberkundiger Mann ir­gendwo zwischen Ama­zo­nasmündung und der Bahia de To­dos os Santos durch sieben Wun­der die Gunst ei­ner “schwierigen Frau” zu erlangen ver­sucht, fängt der märchenhafte und ver­zaubernde Charakter des Schreib­stils den/die Le­serIn: “…Da blies José vom Ufer aufs Meer hinaus. Er blies mit Lun­gen, die nicht seine waren, und befahl: Trockne, Meer! Und das Meer zog sich zurück und gab den über und über mit sil­bri­gen Fischen bedeckten Sand frei…”.
Den Stoff für die Geschichten, die ver­streut auf dem la­tein­ame­rikanischen Kon­tinent ihren Hand­lungsort finden, bilden E­le­mente wie Liebe und Hass, Him­mel und Hölle, die das Leben und den Glauben der Menschen wie keine anderen beeinflussen. Men­schen treten als Tiere, Fa­bel­wesen oder andere Geschöpfe auf, Tiere wiederum werden zu Men­schen. Galeano setzt sich für sei­ne symbolhafte und bildliche Be­schreibung keine Grenzen, und das ist auch gut so, denn das Buch lebt von diesem Zauber, der das Erzählte erst so in­te­res­sant und lesenswert macht: Sei es die Geschichte von den un­sicht­baren Mondmenschen, die die Musik bringen oder die vom Ech­senmännchen, das zum Abend­essen seine Weibchen zu ver­spei­sen pflegt.
Trotz des Schreibstils, bei dem man annimmt, das Buch wäre nicht zeitgemäß, gelingt es Ga­leano, etwas Modernes zu er­schaf­fen. Er versteckt in vielen Ge­schichten gegenwärtige Er­fah­run­gen und Kritik an der Ge­sellschaft oder an vorherr­schenden For­men des christ­lichen Glau­bens sehr geschickt in einem Schlei­er des Unwirk­lichen, eben Mär­chenhaften. Das macht den Reiz an diesem Buch aus. Nur an we­nigen Stellen tritt die Ge­gen­wart schwarz auf weiß auf. In ei­ner Geschichte wird bei­spiels­wei­se der Mantel der Phantasie mit­ten im Geschehen für zwei Ab­sätze abgelegt, und es tauchen Be­griffe auf wie: “…BBC in Lon­don…Dichter von der Ti­mes zum ‘Mann des Jah­res’ ge­kürt … hö­her­es Säugetier des ekto­mor­phen Typs…der bra­si­li­anisch – xan­tho­der­mischen Grup­pe angehörend…”. Der erste Absatz hat den Stil ei­ner Kurznachricht in einer Ta­ges­zeitung, und der zweite ähnelt einer wissenschaftlichen Studie. Die­ser kurze Wandel, fast scham­los in der aufgebauten Mär­chenwelt, kommt so überra­schend und schnell, wie er wie­der verschwindet.
Neben den 33 kurzen Ge­schichten sind es die in wenige Wor­te gefaßten “Fenster”, die dem/der LeserIn Ansich­ten zu Dingen, Wesen oder Be­grif­fen öffnen, denen irgend­wann ein­mal ein Name gegeben wurde. Weisheiten der Indios ge­ben neben den Beschreibun­gen Ga­leanos’ bildhafte Darstel­lungen wieder. Ein Beispiel zur Uto­pie: “‘Sie ist am Horizont’, sagt Fernando Birri. ‘Ich mache zwei Schritte auf sie zu, sie ent­fernt sich zwei Schritte. Ich gehe zehn Schritte, und der Horizont rückt zehn Schritte von mir ab. Und wenn ich noch so weit gehe, ich werde sie nie erreichen. Wozu taugt die Utopie? Dazu taugt sie: damit wir gehen.'”
Für jemanden, der seiner Phan­tasie beim Lesen freien Lauf lassen will, ist dieses Buch wie geschaffen. Ein Genuß für die Sinne und Litera­tur in seiner un­verkrampftesten Form. Ich kann es nur empfehlen.

Eduardo Galeano: “Wandelnde Worte”, Limes-Verlag, Mün­chen 1997, 331 Seiten, 39,80 DM, ISBN 3-8090-2417-1


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