Von Träumen, Maismenschen und Erzengeln
Eduardo Galeanos neues Buch “Wandelnde Worte”
Öffnet man das Buch, fallen die schönen Holzschnitte des Brasilianers José Francisco Borges als erstes ins Auge. Die Kunst des “Cordel”, eine alte Tradition der Volksbücher, machte ihn als Holzschnitzer und Poeten berühmt. Von der ersten bis zur letzten Seite begleiten seine Bilder ergänzend und bereichernd die Geschichten und lockern das Buch optisch auf. Schon allein das äußere Erscheinungsbild verleiht dem/der LeserIn das Gefühl, etwas Besonderes und liebevoll Gestaltetes in den Händen zu halten.
Mit dem Buch hat Eduardo Galeano ein Werk geschaffen, das seine kreative und wortgewandte Ausdruckskraft in schönster Form darstellt. Seine Erfahrungen und Gedanken einerseits, die überlieferten Mythen der Indios andererseits finden in farbenreichen und phantasievollen Geschichten ihren Raum.
Schon in der ersten Geschichte, in der ein zauberkundiger Mann irgendwo zwischen Amazonasmündung und der Bahia de Todos os Santos durch sieben Wunder die Gunst einer “schwierigen Frau” zu erlangen versucht, fängt der märchenhafte und verzaubernde Charakter des Schreibstils den/die LeserIn: “…Da blies José vom Ufer aufs Meer hinaus. Er blies mit Lungen, die nicht seine waren, und befahl: Trockne, Meer! Und das Meer zog sich zurück und gab den über und über mit silbrigen Fischen bedeckten Sand frei…”.
Den Stoff für die Geschichten, die verstreut auf dem lateinamerikanischen Kontinent ihren Handlungsort finden, bilden Elemente wie Liebe und Hass, Himmel und Hölle, die das Leben und den Glauben der Menschen wie keine anderen beeinflussen. Menschen treten als Tiere, Fabelwesen oder andere Geschöpfe auf, Tiere wiederum werden zu Menschen. Galeano setzt sich für seine symbolhafte und bildliche Beschreibung keine Grenzen, und das ist auch gut so, denn das Buch lebt von diesem Zauber, der das Erzählte erst so interessant und lesenswert macht: Sei es die Geschichte von den unsichtbaren Mondmenschen, die die Musik bringen oder die vom Echsenmännchen, das zum Abendessen seine Weibchen zu verspeisen pflegt.
Trotz des Schreibstils, bei dem man annimmt, das Buch wäre nicht zeitgemäß, gelingt es Galeano, etwas Modernes zu erschaffen. Er versteckt in vielen Geschichten gegenwärtige Erfahrungen und Kritik an der Gesellschaft oder an vorherrschenden Formen des christlichen Glaubens sehr geschickt in einem Schleier des Unwirklichen, eben Märchenhaften. Das macht den Reiz an diesem Buch aus. Nur an wenigen Stellen tritt die Gegenwart schwarz auf weiß auf. In einer Geschichte wird beispielsweise der Mantel der Phantasie mitten im Geschehen für zwei Absätze abgelegt, und es tauchen Begriffe auf wie: “…BBC in London…Dichter von der Times zum ‘Mann des Jahres’ gekürt … höheres Säugetier des ektomorphen Typs…der brasilianisch – xanthodermischen Gruppe angehörend…”. Der erste Absatz hat den Stil einer Kurznachricht in einer Tageszeitung, und der zweite ähnelt einer wissenschaftlichen Studie. Dieser kurze Wandel, fast schamlos in der aufgebauten Märchenwelt, kommt so überraschend und schnell, wie er wieder verschwindet.
Neben den 33 kurzen Geschichten sind es die in wenige Worte gefaßten “Fenster”, die dem/der LeserIn Ansichten zu Dingen, Wesen oder Begriffen öffnen, denen irgendwann einmal ein Name gegeben wurde. Weisheiten der Indios geben neben den Beschreibungen Galeanos’ bildhafte Darstellungen wieder. Ein Beispiel zur Utopie: “‘Sie ist am Horizont’, sagt Fernando Birri. ‘Ich mache zwei Schritte auf sie zu, sie entfernt sich zwei Schritte. Ich gehe zehn Schritte, und der Horizont rückt zehn Schritte von mir ab. Und wenn ich noch so weit gehe, ich werde sie nie erreichen. Wozu taugt die Utopie? Dazu taugt sie: damit wir gehen.'”
Für jemanden, der seiner Phantasie beim Lesen freien Lauf lassen will, ist dieses Buch wie geschaffen. Ein Genuß für die Sinne und Literatur in seiner unverkrampftesten Form. Ich kann es nur empfehlen.
Eduardo Galeano: “Wandelnde Worte”, Limes-Verlag, München 1997, 331 Seiten, 39,80 DM, ISBN 3-8090-2417-1