Von Wandel keine Spur
Die politischen Mittel und Wege von Präsident Fernando Lugo sorgen für Katerstimmung bei den sozialen Basisorganisationen
Bei seiner Amtseinführung Mitte August des letzten Jahres sang Fernando Lugo in der Nacht ein Ständchen mit Hugo Chávez: „Cambia, todo cambia“ (Es ändert sich, alles ändert sich). Die Erwartungen in der Bevölkerung und den sozialen Bewegungen, dass schnelle Veränderungen eintreten würden, waren hoch. Mit Ecuador als Vorbild, träumten nicht wenige von einer verfassunggebenden Versammlung in Paraguay. Nach knapp acht Monaten Amtszeit ist jedoch nichts von dem erwünschten Wandel zu spüren. Die erwartete Allianz zwischen der Exekutive und den sozialen Bewegungen ist ausgeblieben. Die sozialen Bewegungen rechneten fest mit ihr, da Präsident Lugo eine Mehrheit im Parlament fehlt. Im Gegenteil sind jedoch viele alte und korrupte Kräfte weiterhin im politischen und Justizapparat verankert: Mitglieder der Colorado-Partei und der Partei UNACE, Ex-Militärs und Ex-Putschisten wie Lino Oviedo. Selbst Lugos wichtigste Verbündete, die liberale Partei PLRA, ist mittlerweile gespalten.
Anstelle von Wandel gibt es widersprüchliche politische Signale. Mit seinem sozialdemokratischen Innenminister Rafael Filizola reiste Lugo nach Chile und Kolumbien, wo Sicherheitsabkommen unterzeichnet wurden, in denen es um eine Kooperation auf dem Gebiet der Aufstandsbekämpfung geht. Beide Abkommen wurde in Paraguay nicht öffentlich diskutiert. Lugo besuchte auch noch den scheidenden US-Präsidenten George W. Bush. Dann aber wieder war Paraguays gewählter Präsident einer der Stargäste bei den Feierlichkeiten des Jahrestages der sandinistischen Revolution am 19. Juli 2008 in Managua.
Vielleicht hätte ein nüchtern-kritischer Blick auf Lugos MinisterInnenriege genügt, um die hohen Erwartungen von vornherein zu dämpfen. Das Kabinett entsprach nicht wirklich den strategischen politischen Zielen wie Landreform, Gesundheitsversorgung und Ausbildung für alle, die er in seinem Wahlkampf versprochen hatte. Es folgte in vielen Fällen eher einer klientelistischen Vergabepolitik. Der Pharmaunternehmer Martín Heisecke hatte Lugo in seinem Wahlkampf offen unterstützt, indem er ihm sein Privatflugzeug gratis zur Verfügung gestellt hatte. Heisecke erhielt nach Lugos Amtsantritt das Ministerium für Handel und Industrie. Zentrale Ministerien mit großen Budgets wie Verkehr und Landwirtschaft gingen an die liberale Partei. Für das Finanzministerium entdeckte Lugo Dionisio Borda neu. Der hatte unter Lugos Vorgänger Nicanor Duarte Frutos schon einmal dasselbe Amt inne, musste allerdings nach Massenprotesten zurücktreten, da er die neoliberalen Rezepte von Internationalem Währungsfonds und Weltbank durchsetzen wollte.
Zentral sind aus heutiger Sicht vor allem die Ministerien für Landwirtschaft und Gesundheitswesen. Die Berufung von Cándido Vera Bejarano als Landwirtschaftsminister provozierte ein erstes Donnergrollen innerhalb der sozialen Bewegungen, das vor allem von Seiten der Kleinbauernorganisationen kam. Vera Bejarano stammt aus einer alteingesessenen Familie aus San Pedro del Ycuamandyju, der Hauptstadt des Departamentos San Pedro, wo Lugo bis 2007 Bischof war. Die Vera Bejaranos sind Liberale, allerdings gehören sie zum reaktionären Flügel der Partei, der die Interessen der GroßgrundbesitzerInnen repräsentiert. Gesundheitsministerin wurde eine scheinbar progressive Kraft, Esperanza Martínez von der linken Volksbewegung Tekojoja. Doch ausgerechnet sie sollte diejenige werden, welche die offene Konfrontation zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen auslöste.
Ernsthafte Schritte in Richtung einer Landreform sind bis heute nicht in Sicht. Zwar erkämpfte das breite Basisbündnis Frente Social y Popular mit einer Massenmobilisierung Anfang November 2008 in Asunción die Gründung einer zentralen Koordinationsstelle für die Landreform CEPRA. Der neu geschaffenen Institution fehlen jedoch Gelder, um ihre Arbeit ernsthaft aufzunehmen. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob es der Regierung wirklich noch um eine Landreform im eigentlichen Sinne geht. Anfang Februar dieses Jahres äußerte Alberto Andrade, Minister für ländliche Entwicklung, dass es in der staatlichen Landreforminitiative weniger um die Neuverteilung von Land als vielmehr um ländliche Entwicklung gehe: landesweite direkte Unterstützung für 5.500 Familien in einem ersten Schritt und Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Straßen, Schulen und Kliniken.
Kleinbäuerliche Armut und Landlosigkeit im Kontrast mit Großgrundbesitz kennzeichnen die Departamentos San Pedro und Concepción, die nördlich der Hauptstadt Asunción im mittleren Teil des Landes liegen. Trotz der Nähe zur Hauptstadt sind sie Beispiele für vom Staat völlig vernachlässigte Gebiete. Der Großteil der bäuerlichen Bevölkerung lebt dort in extremer Armut. Es blüht vor allem der Anbau von Marihuana. Paraguay ist der größte Marihuanaproduzent Lateinamerikas. In der Region gibt es viele GroßgrundbesitzerInnen: ParaguayerInnen, die sich der extensiven Viehzucht und dem Holzschlag widmen, und BrasilianerInnen, die auf den agroindustriellen Anbau und die Produktion von gentechnisch manipulierter Soja setzen. Der Regierungswechsel in Asunción führte vermehrt zu Landstreitigkeiten zwischen ländlichen Gemeinden und GroßgrundbesitzerInnen. Mit Lugo als Hoffnungsträger mobilisierten sich die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie die Landlosen. Sie errichteten Zeltlager am Rande von umstrittenen Latifundien, die in einigen Fällen auch direkt besetzt wurden.
Die territoriale Kontrolle in den genannten Regionen wird jedoch von einer Mafia ausgeübt, die aus den korrupten Teilen von Polizei und Justizapparat, alteingesessenen PolitikerInnen und UnternehmerInnen besteht. Teil dieser Kontrolle sind die Morde an BauernführerInnen, die auch unter Lugo nicht gestoppt wurden. So erschossen im Januar dieses Jahres zwei Unbekannten Martín Ocampos, Direktor der Radiostation von Hugua Ñandú und Kleinbauernführer in Concepción.
In San Pedro und Concepción soll offiziellen Angaben nach zudem das Paraguayische Volksheer EPP agieren, eine Kleingruppe von bewaffneten Leuten um ehemalige Mitglieder der Partei Patria Libre. Paraguayische Medien behaupten, die EPP trage die Verantwortung für einige Entführungsfälle in der Gegend. Der bekannteste war der von Luis Lindstroem, Großgrundbesitzer und Ex-Bürgermeister von Tacuatí, der nach der Bezahlung einer enormen Lösegeldsumme wieder freigelassen wurde. Zum letzten Jahreswechsel wurde darüber hinaus der Militärposten von Tacuatí von vermummten und bewaffneten Personen überfallen. Der Posten steht auf dem privaten Land von Maris Lloren, Großgrundbesitzerin und Direktorin der paraguayischen Exportkammer REDIEX. Angeblich wurden nach dem Überfall Flugblätter des EPP gefunden. Auf den Überfall folgte eine massive mediale Kampagne im Land, deren Druck Fernando Lugo letztlich nachgab und den „Plan Jerovia“ in Gang setzte. Hunderte von SoldatInnen, PolizistInnen und StaatsanwältInnen fielen daraufhin in den Distrikten Tacuatí und Horqueta im Departamento Concepción ein, um die vermeintlichen Guerilla-KämpferInnen festzunehmen. Zimperlich ging man dabei nicht vor: Türen wurden eingetreten, Einrichtungsgegenstände und Nahrungsmittel gestohlen und viele Leute misshandelt. Auch Fälle von Folter wurden denunziert. Der bekannte Arzt und Menschenrechtsaktivist Joel Filartiga untersuchte betroffene Bauern und konnte unter anderem Abdrücke von Fingernägeln an ihren Hoden nachweisen. Die Gefolterten gaben an, dass die Militärs sie zwingen wollten, bekannte BauernführerInnen des Gebiets mit der vermeintlichen Guerilla in Verbindung zu bringen. Auch der ermordete Martín Ocampos wurde in die Ecke der EPP gerückt. Gegenüber einer Delegation von MenschenrechtsaktivistInnen, darunter die Nationale Menschenrechtskoordination von Paraguay CEDHUPY, sagten Mitte Januar etliche Kleinbauern und -bäuerinnen aus, dass sie sich nicht mehr trauen, aufs Feld arbeiten zu gehen aus Angst vor Schlägen, Verhaftungen und Verschleppungen.
Die gesammelten Zeugenaussagen wurden Präsident Lugo und dem Innenminister persönlich vorgetragen. Beide räumten zwar ein, dass es in Einzelfällen zu Folterungen gekommen und dies abscheulich sei. Doch würden sie sich nicht beirren lassen und die militärischen Aktionen fortsetzen. Da jedoch bis heute keine „Guerrilleros“ verhaftet werden konnten, verlagerte sich der Schwerpunkt der Aktionen darauf, Marihuanapflanzungen kurz vor der Ernte in schwer zugänglichen Gebieten zu vernichten.
Anhand von San Pedro lässt sich zeigen, wie sehr der von Lugo besungene Wandel auf sich warten lässt. Die alten Strukturen bestehen weiter und so befindet sich die Hauptstadt des Departamentos San Pedro immer noch fest in der Hand der Familie Vera Bejarano. Pastor Vera ist Bürgermeister der Stadt und des Distriktes, Ángel Vera Direktor des regionalen Krankenhauses und Cándido Vera, ein weiterer Bruder, ist Lugos Landwirtschaftsminister. Da Paraguay ein sehr zentralistisch verwalteter Staat ist, kommt nur relativ wenig Geld in den Departamentos an. Und das wenige Geld, das in San Pedro für das Gesundheitswesen bestimmt ist, verwaltet Ángel Vera, der sich lieber seiner Privatklinik als den Dienstzeiten im öffentlichen Spital widmet. Die staatlichen Mittel bleiben fast gänzlich im urban geprägten Distrikt San Pedro, das öffentliche Gesundheitswesen im Rest des Departamentos ist nahezu inexistent.
Als Gesundheitsministerin Esperanza Martínez bei Amtsantritt beschloss, einige wenige, sehr häufig verschriebene Medikamente gratis abzugeben, begannen die offenen Auseinandersetzungen zwischen Establishment und sozialen Bewegungen. Da die Veras die Apotheken in der Stadt kontrollieren, sahen sie ihr Geschäft in ernster Gefahr. Zu ihrem Unmut berief Ministerin Martínez auch noch die Ärztin Raquel Rodríguez zur Gesundheitsdirektorin von San Pedro. Rodríguez gilt als sehr kritische Ärztin mit einer ganzheitlichen Vision von Gesundheit. Sie begann eng mit dem Team des sehr populären Gouverneurs von San Pedro, José „Pakova“ Ledesma, zusammenzuarbeiten, mit dem sie ununterbrochen ländliche Gemeinden besuchte. In spontanen Versammlungen wurden dort die geplanten Konzepte vorgestellt und abschließend gemeinsam mit den BewohnerInnen eine Diagnose zum Gesundheitszustand der Bevölkerung von San Pedro erstellt. Eines der Resultate dieses Austauschs war ein äußerst kritischer Bericht für das Gesundheitsministerium über den negativen Einfluss der in den Sojamonokulturen eingesetzten Pestizide auf die menschliche Gesundheit. Dieser Bericht dürfte Landwirtschaftsminister Cándido Vera überhaupt nicht gefallen haben, denn er und seine Familie besitzen in San Pedro Tausende von Hektar Land, auf denen Soja angebaut wird.
Es kam daraufhin zu Auseinandersetzungen in der Stadt San Pedro. Ángel Vera organisierte mit anderen planilleros/as (BeamtInnen, die nur auf dem Papier in einer öffentlichen Institution arbeiten) aus dem Gesundheitswesen eine Demonstration von etwa Hundert Leuten zum Sitz der regionalen Gesundheitsdirektion, wo sie eindrangen und Raquel Rodríguez massiv einschüchterten und bedrohten. Polizei und Staatsanwaltschaft sahen dem Treiben tatenlos und halb belustigt zu. Am folgenden Tag demonstrierten 2.000 Bauern und Bäuerinnen für das Verbleiben von Rodríguez im Amt und strukturelle Veränderungen im Departamento San Pedro. Einige Zeit später riefen dann wiederum die alteingesessenen BeamtInnen des Gesundheitswesens zum Streik auf und zogen nochmals zur Gesundheitsdirektion. Dort wurden sie jedoch von der Polizei zurückgehalten und es kam zu einem kurzen, aber heftigen Schlagstock- und Tränengaseinsatz. Zum ersten Mal seit dem Machtwechsel erfuhren VertreterInnen der Oligarchie, was die arme Landbevölkerung seit Jahrzehnten gewohnt ist.
Während die Regierung Lugo bei Fällen von Repression gegen oder sogar Morden an BäuerInnen stets versuchte, die Schuld den Opfern zuzuschreiben, berief sie nun eine Untersuchung über die Amtsführung von Raquel Rodríguez ein und setzte diese befristet ab. Die sozialen Bewegungen reagierten im Rahmen eines neu geschaffenen, politischen Raumes, dem Espacio Unitario Popular del Departamento San Pedro, und mobilisierten innerhalb von acht Tagen insgesamt 17.000 Menschen. Nach einer Woche verkündete Gesundheitsministerin Martínez die Wiedereinsetzung von Raquel Rodríguez und die Protestierenden kehrten in ihre Dörfer zurück. Drei Tage später wurde Rodríguez jedoch erneut abgesetzt. Nun hat sie einen Posten im Gesundheitsministerium, der ihr den permanenten Kontakt zur ländlichen Bevölkerung unmöglich macht.
Die Verwerfungen zwischen Rodríguez und Martínez sind überraschend. Während des Wahlkampfes bildeten sie noch ein starkes Gespann bei der Ausarbeitung des nationalen Gesundheitsplans. Der Bruch mag persönliche Gründe haben, da Rodríguez aufgrund ihres Engagements viel, möglicherweise zu viel Zuspruch erhielt. Doch daneben gibt es wichtigere politische Gründe: Beide Ärztinnen arbeiteten viele Jahre für die Nichtregierungsorganisation CIRD, die Beratungen für die Gesundheitsprogramme von USAID durchführte. USAID, die staatliche Behörde der USA für Internationale Entwicklung, ist ein klassisches Instrument für US-amerikanische Einflussnahme. Doch Raquel Rodríguez begann seit ihrer Ankunft in San Pedro, sehr eng mit der regionalen Regierung von José Ledesma zusammenzuarbeiten. Diese wiederum ist bolivarianisch ausgerichtet und an lateinamerikanischer Integration interessiert. USAID ist im Gesundheitssektor von San Pedro mit Programmen und Projekten sehr präsent. Die Absetzung von Rodríguez und das Zurückdrängen des bolivarianischen Einflusses können als Bedingungen gesehen werden, um die Pläne von USAID in die Tat umzusetzen. Lugo scheint sich geopolitisch deutlich gegen die ALBA-Länder zu stellen. Darauf weist auch seine verstärkte Nähe zur US-Botschafterin Liliana Ayalde in Paraguay hin. Diese war „zufälligerweise“ vorher USAID-Direktorin in Kolumbien.
Lugo riskiert damit, von den sozialen Bewegungen nicht mehr als ein Partner für ein neues politisches Projekt angesehen zu werden. In einer Stellungnahme ruft der Espacio Unitario Popular die Bevölkerung von San Pedro dazu auf, den politischen Raum, der mit dem Wahlsieg am 20. April 2008 erobert wurde, zu verteidigen.
// Reto Sonderegger