Von wegen Wandel
Unter Fox keine Aufarbeitung des „Schmutzigen Krieges“
Auf dem Hauptplatz des kleinen Städtchens Atoyac im Bundesstaat Guerrero steht eine Bronzestatue. Sie erinnert an den 1974 vom Militär erschossenen Guerillero Lucio Cabañas. Am 18. Mai 1967 schlugen hier Kaziken (lokale Machthaber) und Regierung einen LehrerInnen- und Elternprotest blutig nieder. Daraufhin war der Dorflehrer Cabañas in die Berge gezogen, um Bauern und Bäuerinnen für den bewaffneten Kampf zu gewinnen. Es sollte der Anfang der Guerilla Partei der Armen werden. Zu Füßen der Statue des verehrten Maestro liegen Blumen. Nur der Sockel befindet sich noch im Rohzustand – angeblich weil die zuständige lokale NRO Spendengelder aus der Bevölkerung veruntreut hat.
Unweit des Platzes befindet sich der Sitz von Afadem (Vereinigung der Angehörigen von Verhaftet-Verschwundenen), einer der vielen Angehörigenorganisationen, die seit den 1970er Jahren nach ihren vom Staat verschleppten Familienmitgliedern suchen und die Bestrafung der Täter einfordern. Circa 1.300 verhaftet-verschwundene Personen zählt die Liste von Afadem seit 1968. Knapp die Hälfte davon stammt aus Guerrero, die meisten sind Bauern und Bäuerinnen (siehe Kasten). Tita Radilla, Vizepräsidentin der Organisation, Gladivir Cabañas und Geschäftsführer Julio Mata sitzen in einem spärlich eingerichteten Büroraum. „Es ist nicht einfach, die jüngste Vergangenheit von Atoyac aufzuarbeiten,“ erklären sie. Cabañas, Sohn eines Verschwundenen und Neffe von Lucio Cabañas ist selbst erst seit einigen Monaten bei Afadem. Vorher habe er zuviel Angst gehabt, verfolgt zu werden, sagt er. „An der Repression gegen soziale Aktivisten hat sich hier nicht viel geändert,“ meint Cabañas. Etliche der Betroffenen würden kaum über das Erlebte sprechen geschweige Anzeige erstatten, erzählt Radilla. Die lokale Arbeit zu Menschenrechten und Erinnerung in Gemeinden sei deshalb sehr wichtig. „Auch wir wussten jahrelang nicht, wie man eine formale Anzeige erstattet,“ fügt Radilla hinzu. Inzwischen hat Afadem eine Klage vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission bringen können. Es handelt sich um den Fall von Tita Radillas Vater, Rosendo Radilla, der 1971 vom Militär verhaftet wurde und bis heute verschwunden ist. Es ist der erste Fall des so genannten „Schmutzigen Kriegs“ in Mexiko, der vor dieser Instanz verhandelt werden wird. Etwas Stolz liegt in Tita Radillas Stimme, als sie davon erzählt. Bei der Frage, was ihre Zusammenarbeit mit der „Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit“ (Femospp) gebracht habe, verziehen die drei AktivistInnen jedoch ihre Mienen. Keinen ihrer Fälle habe diese Einrichtung vorangebracht, sagt Julio Mata.
Leere Versprechungen
Dabei hatte Fox zu Beginn seiner Amtszeit große Töne gespuckt. „Wahrheit und Gerechtigkeit“ hatte er versprochen, von „Rechtsstaat“ und „Menschenrechten“ war viel die Rede in jenen Tagen. 2002 hatte Fox per Dekret die Sonderstaatsanwaltschaft Femospp eingerichtet und die Polizeiarchive der 1985 aufgelösten politischen Polizei DFS geöffnet. Auf den ersten Blick erschien das Projekt vielversprechend: Neben der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und der Massaker von 1968 und 1971 während der StudentInnenproteste in Mexiko-Stadt wurde die Femospp beauftragt, die Verantwortlichen juristisch zu belangen, der mexikanischen Öffentlichkeit einen historischen Bericht über die Repression zu präsentieren und Entschädigungsmodi zu erarbeiten. Afadem fungierte seither als Nebenklägerin der Femospp in 300 der insgesamt 644 Vorermittlungen.
Doch Anfang Januar 2007 wurde die Sonderstaatsanwaltschaft nach monatelangen Gerüchten einer bevorstehenden Schließung letztlich sang- und klanglos aufgelöst. Angeblich sollen die Vorermittlungen und die wenigen eingeleiteten Prozesse von der Bundesstaatsanwaltschaft PGR weiter verfolgt werden. Dazu zählt auch die Ermittlung gegen Ex-Präsident Luis Echeverría, der seit Ende November 2006 unter Hausarrest steht und wegen Völkermordes angeklagt ist (siehe LN 391). Doch der PGR war die Femospp von Anfang an ein Dorn im Auge. Die Schließung hatte der Ex-Vorsitzende der PGR Daniel Cabeza de Vaca mit der Begründung befohlen, sie habe „ihren Auftrag erfüllt“. Der seit 1. Dezember letzten Jahres amtierende Präsident Felipe Calderón hingegen hat nie auch nur ein einziges Wort über die Aufarbeitung der Repression oder über die Femospp verloren. „Die Komplizenschaft zwischen dem aktuellen Regime und denen, die politische Gegner systematisch verschwinden ließen, ist offensichtlich“, kommentierte der ehemalige politische Gefangene und Journalist Marco Rascón auf einer Pressekonferenz im Januar die Schließung.
Ihren Auftrag hat die Behörde dabei nicht annähernd erfüllt: Fast kein Schicksal eines Verschwundenen wurde aufgeklärt. Erst im November 2006 – unter dem Druck ihrer drohenden Schließung – hatten MitarbeiterInnen zum ersten Mal die leiblichen Überreste von zwei Bauern und Guerilleros in Guerrero ausfindig gemacht. Bei der Rechtssprechung sind die Ergebnisse ähnlich ernüchternd. Bis heute ist kein Angehöriger der Streitkräfte vor Gericht gestellt worden. Lediglich bei einigen Polizeibeamten und zwei der Hauptverantwortlichen der DFS gelang dies. Der ehemalige Direktor der DFS, Luis de la Barreda, wurde bisher jedoch in den meisten Prozessen freigesprochen. Einer der Hauptverantwortlichen der paramilitärischen Brigada Blanca, Miguel Nazar Haro, darf seine Strafe unter Hausarrest absitzen. Ob Echeverría tatsächlich gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wird, ist im besten Falle zweifelhaft.
Ex-Präsident Vicente Fox sorgte von vornherein für die Wahrung der Interessen des Militärs. Denn die Weisung des Gründungsdekretes der Femospp lautete, dass „juristische Anschuldigungen gegenüber Institutionen oder Gruppen zu vermeiden seien“. 2002 modifizierte die Regierung kurzerhand die zuvor von ihr unterzeichnete „Interamerikanische Konvention gegen Verschwindenlassen“: Sie hob deren Rückwirksamkeit auf und fügte hinzu, dass die Militärgerichtsbarkeit für Klagen gegen Militärs zuständig sei – de facto ein Freibrief für das Militär. Eine spätere Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes verbesserte allerdings wieder die Möglichkeit, in Mexiko wegen Verschwindenlassen zu ermitteln.
Auch Sonderstaatsanwalt Carrillo Prieto nahm das Militär mehrmals öffentlich in Schutz. Als „lobenswert“ bezeichnete er einen vom Verteidigungsministerium ausgearbeiteten Amnestievorschlag für das Militär. „Mexiko braucht eine Versöhnung seiner Bürger mit dem Militär“, so seine Begründung.
Die Femospp beschnitt auch eigenhändig ihre Möglichkeiten, indem sie gar nicht erst wegen des Tatbestands „Verschwindenlassen“, sondern wegen “Illegaler Freiheitsberaubung im Sinne einer Entführung“ ermittelte – ein individueller Tatbestand, der zudem verjährt. Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen warfen ihr deshalb vor, nicht zu unterscheiden zwischen „der Aufgabe, gewöhnliche Verbrechen zu untersuchen und individuelle Verantwortlichkeiten auszumachen und der Aufgabe, Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuarbeiten, die im Kontext einer staatlich verbürgten und systematischen Repression begangen wurden“.
Für kurzen Aufruhr sorgte im Februar 2006 die inoffizielle Veröffentlichung des schwerwiegenden historischen Abschlussberichts der Femospp. Das Historikerteam war Ende 2005 entlassen worden, als klar wurde, welch kritisches Dokument im Namen der Behörde verfasst worden war. Monatelang leitete Carrillo Prieto den Bericht nicht zur Veröffentlichung an Präsident Fox weiter. Daraufhin schickten die AutorInnen ihn schließlich an einige Medien und Einzelpersonen. Das Militär war im Bericht klar als hauptverantwortliche Institution der Repression hervorgegangen. Fox war das Thema zu diesem Zeitpunkt nur noch lästig. Als er in einem Interview mit der BBC zu dem Bericht befragt wurde, reagierte er entnervt: Der Bericht sei „inoffiziell“ und „unseriös“. Überhaupt habe die Femospp ihren Auftrag bereits erfüllt, der Oberste Gerichtshof habe entschieden, dass die Verbrechen verjährt seien (sic!) und „nun möge er doch bitte über Themen reden dürfen, die ihn interessieren“, so Fox im Interview. Mehrere Monate später veröffentlichte die Femospp eine verwässerte Version des Berichts auf ihrer Internetseite.
Gladivir Cabañas‘ Angst vor Verfolgung ist nicht aus der Luft gegriffen. „Im November 2003 wurde in Atoyac der Bauer Zacarias Barrientos mit großkalibrigen Waffen von Unbekannten erschossen,“ erzählt Tita Radilla. „Danach kam der Sonderstaatsanwalt nie mehr hierher.“ Für die Justiz war es ein Eifersuchtsdrama. Afadem jedoch verdächtigt das Militär. Denn Barrientos war der wichtigste Zeuge der Femospp in Atoyac. Der Bauer war in den 1970er Jahren vom Militär festgenommen und zur Kollaboration in der Aufstandsbekämpfung gezwungen worden. Als die Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet wurde, begann er, als Zeuge für sie auszusagen. „Er wusste viel, sehr viel,“ sagt Radilla, „er hat viele von unseren Angehörigen denunziert und war von der Gemeinde verstoßen worden. Ich denke, er wollte sich von dieser Last frei machen.“ Zeugenschutz für Barrientos hatte Afadam vergebens von der Sonderstaatsanwaltschaft gefordert. „Fox“, sagt Cabañas, „hat die Femospp nur geschaffen, um internationale Aufmerksamkeit zu erregen und sich als Menschenrechtler zu präsentieren.“ Doch nichts sei daran wahr.
KASTEN:
Rebellion, Kooptation und Repression
Kaum eine Guerilla Lateinamerikas ist so erfolgreich vergessen und isoliert worden wie die mexikanische. Zwischen 1963 und 1990 soll es rund 40 Guerillagruppen in Mexiko gegeben haben, in denen fast 2.000 Personen aktiv waren. Lucio Cabañas Bauernguerilla Partei der Armen zählte zu den größten unter ihnen. Die Gesamtzahl der Opfer der staatlichen Repression ist schwer zu ermitteln. Schätzungen des mexikanischen Historikers Fritz Glockner zufolge ist von bis zu 8.000, mindestens aber von 3.000 Opfern zwischen 1969 und 1979 auszugehen. Hauptakteure im Kampf gegen die Guerilla waren die Armee und der 1985 abgewickelte Bundessicherheitsdienst DFS, de facto eher eine politische Polizei.
Der Politikwissenschaftler Sergio Aguayo spricht von einer „Doppelstrategie“ der Regierung Echeverría (1970-1976). Auf der einen Seite schuf Echeverría neue Partizipationskanäle, investierte in die Hochschulen, gewährte Tausenden von politisch Verfolgten aus Lateinamerika Asyl und initiierte eine Öffnung des Wahlsystems – nicht zuletzt als Antwort auf die Legitimitätskrise des Regimes, die die blutige Niederschlagung der StudentInnenbewegung 1968 massiv verstärkt hatte. Auf der anderen Seite ging die Regierung mit äußerster Brutalität und Systematik gegen die studentische und die bewaffnete Linke und ihre soziale Basis vor. Dazu bediente sich der Staat extralegaler Verhaftungen und Hinrichtungen, paramilitärischer Einheiten, geheimer Gefängnisse, der systematischen Folter und des Verschwindenlassens. Am 2. Oktober 1968, mit Echeverría als Innenminister, wurden auf einer Kundgebung in Mexiko-Stadt mehrere hundert Studierende von Sicherheitskräften erschossen. Am 10. Juni 1971 löste die paramilitärischen Einheit Los Halcones eine StudentInnendemonstration blutig auf. Mehr als hundert Menschen kamen ums Leben. In Guerrero bombardierte die Armee ganze Landstriche, um den „Feind im Inneren“ zu eliminieren und die Solidarität der Landbevölkerung mit der Guerilla zu brechen, wie es im inoffiziell veröffentlichten Abschlussbericht der Angehörigenorganisation Femospp heißt. Mit der Ermordung von Lucio Cabañas 1974 hatte Echeverría die Guerilla in Guerrero vorerst besiegt.
José López Portillo (1976-1982) machte 1978 ein Amnestieangebot an die Guerilla und ermöglichte der linken Opposition erstmals die Partizipation an Präsidentschaftswahlen. Gleichzeitig schuf er die als Todesschwadron bezeichnete Brigada Blanca zur Bekämpfung der Guerilla Liga Comunista 23 de Septiembre. 1982 hatte sie die Stadtguerilla zerschlagen und die Mehrzahl ihrer Mitglieder ermordet oder verhaftet. Die Guerilla jedoch kehrte in Guerrero, Chiapas, Oaxaca und anderen Bundesstaaten in den 1990er Jahren wieder. Unter Fox kam es erneut zu einem starken Anstieg der Guerillaaktivität. Zum Auftakt der Regierung Felipe Calderón detonierten am 7. November 2006 mehrere Sprengstoffbomben vor dem Wahlgericht, der Parteizentrale der PRI und einer Bankfiliale in Mexiko-Stadt. Fünf bewaffnete Kommandos bekannten sich zur Tat. Auslöser für die permanente Wiederkehr der Guerilla in Mexiko seien, so schreibt der Historiker Carlos Montemayor, die unwirksamen polizeilich-militärischen Konfliktlösungsstrategien, die soziale und politische Ursachen für die Radikalisierung ignorieren.