Bolivien | Nummer 549 - März 2020

VORWAHLCHAOS IN BOLIVIEN

Die Politik von De-facto-Präsidentin Jeanine Añez spielt der MAS in die Hände

Boliviens De-facto-Regierung unter Jeanine Añez macht keine Anstalten, die Massaker in Senkata und Sacaba aufzuklären, die nach ihrer Machtübernahme im November letzten Jahres mutmaßlich von Sicherheitskräften verübt wurden. Dass die Bewegung zum Sozialismus (MAS) des Ex-Präsidenten Evo Morales bei Umfragen für die Wahlen am 3. Mai vorne liegt, macht das rechte Lager nervös. Wie die MAS mit der Spaltung im Land umgehen will, sollte sie die Wahlen gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen, ist indes unklar.

Von Thomas Guthmann

Regierungssitz La Paz Im Mai sollte sich entscheiden, wer hier ans Ruder kommt (Foto: Jonas Klünemann)

Er hatte letztendlich Glück. Das Projektil, das in seinem Kopf steckte, konnte mit einem einfachen Eingriff entfernt werden. Es hatte sich lediglich unter die Kopfhaut geschoben und wie durch ein Wunder weder Schädeldecke, noch Gehirn ernsthaft verletzt. Glück hatte Pablo auch, weil er den Eingriff durch Spenden bezahlt bekam. Seit dem Massaker in Senkata am 19. November sammeln Aktivist*innen Spenden, organisieren Solidaritätsveranstaltungen und kümmern sich um die Hinterbliebenen der gut zwei Dutzend Toten und um die rund 100 Verletzten. Unter den Opfern sind auch viele, die an diesem Tag einfach an der Raffinerie in Senkata in El Alto vorbeigingen. „Mein Cousin kam gerade von der Arbeit“, meint etwa Joel, „er wurde angeschossen und musste sich auf eigene Kosten ärztlich versorgen lassen, nachher kam die Polizei und drohte ihm mit Konsequenzen, sollte er über die Vorfälle reden.“

Die De-facto-Regierung behauptet bis heute, die Sicherheitskräfte hätten bei ihrer Operation in Senkata keinen Schuss abgefeuert. Dabei gibt es längst eine Vielzahl von Hinweisen, dass Militärs geschossen haben. Auch in der Stadt Sacaba waren Mitte November bei einer Demonstration von Kokabauern nahe der Stadt Cochabamba fünf Protestierende getötet worden, zahlreiche Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Trotz der zahlreichen Indizien verweigert sich die Regierung, die Vorfälle unabhängig aufklären zu lassen. Das Abgeordnetenhaus, in dem die Bewegung zum Sozialismus die Mehrheit hat, wollte die zuständigen Minister Arturo Murillo (Polizei) und Fernando López (Militär) zu den Vorfällen in Senkata und Sacaba befragen, die Minister sind bisher nicht erschienen, mit der Begründung, die MAS habe dort die Mehrheit.

Es ist nicht nur dieses Verhalten der Minister, das Zweifel aufkommen lässt, dass es der De-facto-Regierung von Jeanine Añez um die Wiederherstellung der Demokratie geht. Inzwischen gibt es auch mehrere hundert Verhaftungen, vor allem von MAS-Funktionär*innen. Der Vorwurf lautet fast immer: Korruption, Aufruhr oder Verschwendung öffentlicher Gelder. Viele, die sich nicht ins Ausland absetzen konnten, befinden sich in Untersuchungshaft. In Bolivien ist das gleichbedeutend mit unbefristeter Haft. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sind über 16.000 Gefangene auf rund 5.000 Haftplätze im Land verteilt. Viele der Gefangenen sitzen Jahre in Untersuchungshaft, ohne dass sie einen Prozess bekommen. Das war auch unter der MAS-Regierung von Evo Morales so. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein probates Mittel, um politische Gegner*innen auszuschalten.

Ein Sieg der MAS in der ersten Runde ist möglich

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen am 3. Mai tritt für die MAS der ehemalige Wirtschaftsminister Luis Arce an, als Vize der frühere Außenminister David Choquehuanca. Trotz der Betrugsvorwürfe gegenüber der Morales-Regierung bei den Wahlen im Oktober 2019 und der aktuellen Politik der De-facto-Regierung, die auf eine Ausgrenzung der MAS bedacht ist, ist die Partei des Ex-Präsidenten in den Umfragen stark. In den vergangenen Umfragen im Februar lag sie mit bis zu 32 Prozent zwischen 10 und 15 Prozentpunkten vor dem zweitplatzierten neoliberalen Carlos Mesa, der bis zu 23 Prozent Zustimmung verbuchen konnte. Da bei den Umfragen in der Regel der ländliche Raum, und damit ungefähr 20 Prozent der Wähler*innen­stimmen, nicht berücksichtigt werden, ist davon auszugehen, dass die Zustimmung für die MAS noch höher ist. Damit läge ein Wahlsieg in der ersten Runde im Bereich des Möglichen.

Die Umfrageergebnisse lösten bei den Gegner*innen der MAS Bestürzung aus. Luis Camacho, der Anführer der Bürgerplattform von Santa Cruz und wesentlich mitverantwortlich für den Sturz von Morales, bot nach der Veröffentlichung der Umfragen Jeanine Añez an, auf seine eigene Kandidatur zu verzichten und sich mit ihr zusammen zu schließen, damit die „Tyrannei“ nicht wiederkehre. Añez, die im November 2019 noch verkündete: „Ich habe nicht den Wunsch bei den nächsten Wahlen zu kandidieren, diese Regierung ist eine Übergangsregierung“, hatte im Januar ihre Kandidatur erklärt. Den Gegner*innen der MAS ist es zwar gelungen, Morales im November zu stürzen, die Stabilisierung der eigenen Macht danach bleibt jedoch prekär. Das liegt auch daran, dass die Rechte zum ländlichen und indigenen Teil der Bevölkerung fast keinen Zugang hat, beziehungsweise diese nicht als vollwertige Bürger*innen wahrnimmt. Das sei ein Wähler*innenpotenzial, das exklusiv der MAS vorbehalten sei, so der Soziologe Fernando Mayorga: „Die MAS ist die einzige Partei, die in den vergangenen 20 Jahren 60 Prozent der Wählerstimmen, mindestens jedoch 40 Prozent, erhalten hat.“ Lediglich eine Koalition der drei größten Oppositionsbündnisse, von Añez, Mesa und Camacho könnte den Sieg der MAS verhindern. Zwar reden die Kandidat*innen alle davon, das Land einen zu wollen, allerdings gilt es eher als unwahrscheinlich, dass es vor dem Wahltermin zu einem echten Bündnis der drei kommt.

Die Aufrufe zur Einheit können zudem den Bruch mit der indigenen Bevölkerung nicht kitten. Das zeigt sich im Verhalten der Regierung zu den Massakern in Senkata und Sacaba, bei dem es keine Versuche gibt, das Geschehene unabhängig untersuchen zu lassen. Diese Politik spielt der MAS und Evo Morales in die Hände, die sich vor den Unruhen durchaus auch in ihren Hochburgen wie El Alto vielen kritischen Stimmen gegenüber sahen.


„Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“

„Für viele Leute, die im Zentrum von La Paz wohnen, sind die Bewohner aus El Alto keine Mitbürger, sondern Indios“, erläutert der Philosoph Boris Chamani, „Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“ Den Status als gleichwertige Bürger*innen sehen viele durch den Putsch und die Massaker vom vergangenen November in Frage gestellt. Das hat dazu geführt, dass die MAS die Reihen hinter sich schließen konnte. Man hört öfters von Leuten, die vergangenen Oktober die MAS nicht gewählt haben, dass sie es bei den kommenden Wahlen aber wohl tun werden, um Añez und Camacho zu verhindern.

Selbst der neoliberale Herausforderer von Evo Morales bei den Wahlen im Oktober 2019, Carlos Mesa, hat sich in den Augen vieler Wähler*innen diskreditiert. In einem Radiointerview wurde er von Maria Galindo, einer bekannten Feministin, ins Kreuzverhör genommen. Im Laufe des Interview kam heraus, dass es im Moment des Rücktritts von Evo Morales ein Treffen von ihm mit Luis Fernando Camacho und Vertreter*innen der brasilianischen Botschaft gab, auf dem man beschloss, die Senatorin Añez ins Präsidentenamt zu hieven. Galindo, die im Oktober noch von einem „legitimen Aufstand gegen das Regime Morales“ gesprochen hatte, sieht den Umsturz nun auch als Putsch. Als Añez ihre Kandidatur für die kommenden Wahlen ankündigte, meinte selbst Carlos Mesa, jetzt hätten diejenigen, die von einem Putsch sprachen, die „Bestätigung“ erhalten.

Die Konflikte könnten nach den Wahlen wieder aufflammen

Die MAS hatte in der vergangenen Legislaturperiode auch in den eigenen Reihen viel Sympathie eingebüßt. Ein immer autoritärer werdender Regierungsstil, der sich gegen Teile der sozialen Bewegungen richtete, die ihre Basis bildeten und die Partei 2005 an die Macht brachten, hatte dazu geführt, dass ihre Basis erodierte. Beim Konflikt mit den Kokabauern und -bäuerinnen in den Yungas, nördlich vom Regierungssitz La Paz, oder den Auseinandersetzungen mit den Kooperativen der Bergbauarbeiter*innen zeigten sich deutliche Risse zwischen der Basis und der Regierung. Die Auseinandersetzungen mit den Minenarbeiter*innen forderten 2016 mindestens vier Tote. Neben dem Staatssekretär Rodolfo Illanes, der von den protestierenden Bergleuten getötet wurde, kamen auch drei der Protestierenden, wahrscheinlich durch Sicherheitskräfte, ums Leben. Auch hier gibt es keine Aufklärung.

Im Januar bezeichnete es Evo Morales in einem Interview mit Radio Coca Kawsachun als einen Fehler, während seiner Amtszeit keine „Milizen wie in Venezuela” aufgebaut zu haben, um den Prozess des Wandels zu verteidigen. Zwar distanzierte er sich später von dieser Aussage, aber es bleibt insgesamt unklar, wie die MAS mit der Spaltung im Land umgehen will, sollte sie die Wahlen gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen. Da sich beide Seiten nicht anerkennen, ist davon auszugehen, dass die Konflikte nach den Wahlen wieder aufflammen. Das Bürgerkomitee von Santa Cruz hatte Mitte Februar bereits mit Blockaden gedroht, sollte Evo Morales als Kandidat für den Senat zu den Wahlen zugelassen werden. Morales, der sich im Exil in Argentinien befindet, wurde nicht zugelassen. Er habe keinen ständigen Wohnsitz in Bolivien, begründete der Präsident des Obersten Wahlgerichts diese Entscheidung. Sollte Luis Arce von der MAS tatsächlich gewinnen, ist davon auszugehen, dass es im östlichen Tiefland zu Protesten kommen wird, wie zu Beginn der Amtszeit von Evo Morales in den Jahren 2007/2008. Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, dass die MAS, beziehungsweise der große Teil der indigenen Bewegungen, Landarbeiter*innengewerkschaften und anderen Basisorganisationen eine Präsidentin Añez oder einen Präsidenten Mesa anerkennen würden. Añez hat zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem, da sie sich von der Übergangspräsidentin in eine Kandidatin verwandelt hat, die den gesamten Regierungsapparat für ihren Wahlkampf nutzen kann. Carlos Mesa dagegen gilt als schwach und opportunistisch.

Ob es eine wirklich unabhängige Aufklärung der Vorfälle in Senkata und Sacaba geben wird, ist daher ungewiss. Pablo, der Glück hatte, weil das Projektil nicht ins Gehirn eindrang, ist immer noch arbeitsunfähig. Für seine Tochter, die Mitte Februar geboren wurde, fehlt es am Notwendigsten, an Kleidung und Windeln. Das kann er nicht kaufen, da er kein Einkommen hat. Wie Pablo geht es vielen der Betroffenen in Senkata. Neben dem Verlust von Familienangehörigen und den Verletzungen, mussten sie auch die Beerdigungskosten oder ärztliche Behandlungen begleichen und sich mit Einnahmeausfällen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auseinandersetzen.

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