Militär | Nummer 425 - November 2009

Waffen in der Friedenszone

Die Länder Südamerikas rüsten derzeit so stark auf, wie seit Jahrzehnten nicht mehr

Sowohl Venezuela, als auch Brasilien haben in den letzten Monaten große Waffenkäufe getätigt. In Kolumbien wird die ohnehin schon große Militärpräsenz der USA ausgeweitet. Droht ein Wettrüsten in Lateinamerika?

Thilo F. Papacek

Die südamerikanische Staatengemeinschaft UNASUR, die letztes Jahr gegründet wurde, sieht ihren Kontinent als eine „Friedenszone“; durch diese Organisation sollen zwischenstaatliche Konflikte friedlich gelöst werden, Kriege soll es so auf dem Subkontinent nie mehr geben. Doch nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut SIPRI haben sich die Rüstungsausgaben in Lateinamerika von 2003 bis 2008 um 91 Prozent erhöht. Und in den letzten Monaten verstärkten sich die Spannungen zwischen Kolumbien und Venezuela. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez nannte das Abkommen zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August, das die Nutzung von sieben kolumbianischen Basen durch das US-Militär vorsieht, eine „Kriegserklärung“ (siehe LN 424).
Wenig später, am 14. September, verkündete Chávez auf einer öffentlichen Veranstaltung in Caracas ein neues Rüstungsabkommen mit Russland. Für die neuen Waffenkäufe bekam Venezuela von Russland einen Kredit über 1,5 Milliarden Euro. Von diesem Geld will Chávez 92 Panzer des Typs T-72 kaufen sowie eine nicht genannte Zahl von S 300 Luftabwehrsystemen. Dies führt die bisherige Rüstungskooperation zwischen Russland und Venezuela weiter. Seit 2005 gab Venezuela insgesamt etwa 3,6 Milliarden Euro für russische Waffen aus. Die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich sofort „besorgt“ über die Waffenkäufe Venezuelas.
Die neuesten Waffenkäufe legitimierte Chávez mit der Bedrohung durch die Militärbasen in Kolumbien, die demnächst von den US-Streitkräften benutzt werden dürfen. „Wir wollten keine Waffen kaufen, aber was sollen wir machen, wenn die Yankees sieben Basen dort bauen? Wir statten uns für die Verteidigung aus. Damit niemand auf die Idee kommt, sich mit uns anzulegen!“, sagte Chávez. Die neuen Waffen seien für rein defensive Zwecke, er bekenne sich zur „Friedenszone Südamerika“. Doch Venezuela habe große Erdöllagerstätten, die vor dem Zugriff des „Imperiums“ geschützt werden müssten. Dabei nannte Chávez auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung, die Mitte letzten Jahres reaktiviert wurde, nachdem sie seit 1950 stilllag. Die 4. US-Flotte hat die Aufgabe, US-Interessen in der Karibik und vor den südamerikanischen Küsten zu schützen.
Ähnlich wie Chávez erklärte auch sein brasilianischer Amtskollege, Luiz Inácio „Lula“ da Silva, seinen neuesten Waffendeal mit Frankreich. Die Investitionen in die Rüstung seien nötig, um die Grenzen Brasiliens, insbesondere im Amazonasgebiet, zu schützen. Doch auch die im vergangenen Jahr gefundenen Ölfelder vor der brasilianischen Küste gelte es zu schützen. In diesen Feldern werden über 50 Milliarden Barrel Erdöl vermutet – mehr als doppelt so viel, wie in allen brasilianischen Lagerstätten, die bisher gefunden wurden. Sollten sich die optimistischsten Prognosen als real erweisen, würde Brasilien in den Kreis der zehn Länder mit den größten Erdölreserven weltweit aufsteigen. Mit den Erlösen aus dem Öl soll ein Fonds zur Finanzierung von Bildungs- und Sozialmaßnahmen geschaffen werden. Bei seiner Fernsehansprache zum Unabhängigkeitstag am 7. September präsentierte Lula diese Pläne der Bevölkerung. „Dieser 7. September läutet unsere neue Unabhängigkeit ein“, sagte Lula pathetisch.
Es war gewiss kein Zufall, dass der Ehrengast bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der französische Präsident Nicolas Sarkozy war: Der große Waffendeal mit Frankreich sollte wohl Lulas Anspruch auf eine „Neue Unabhängigkeit“ unterstreichen. Auf dem Treffen am 7. September vereinbarten die beiden Präsidenten den Vertrag über die große Rüstungskooperation.
Für 1,9 Milliarden Euro sollen 50 Hubschrauber französischen Designs im Bundesstaat Minas Gerais von der Firma Helibras hergestellt werden. Helibras gehört zur einen Hälfte dem europäischen Rüstungs- und Flugzeugkonzern EADS, zur anderen dem brasilianischen Flugzeugkonzern EMBRAER. Sarkozy will im Gegenzug die C-130 Transportflugzeuge der französischen Armee durch KC-390 Flugzeuge von Embraer ersetzen.
Für 6,6 Milliarden Euro will Brasilien seine U-Boot-Flotte modernisieren. Drei französische U-Boote will die brasilianische Marine kaufen; Kernstück des Projekts ist aber der gemeinsame Bau eines nuklearbetriebenen U-Boots durch französische und brasilianische TechnikerInnen (siehe LN 411/412).
Es ist dieser Technologietransfer, der die Kooperation mit Frankreich für Brasilien so interessant macht. Deshalb werden den französischen Bewerbern auf die brasilianische Ausschreibung für 36 neue Jagdflugzeuge auch die besten Chancen gegeben. Derzeit versuchen die US-amerikanische Boeing mit dem Jagdflugzeug F-18 Super Hornets, die schwedische Saab mit dem Gripen NG und die französische Dassault mit dem Rafale den Auftrag über 2,7 Milliarden Euro zu bekommen. Dassault bot an, dass EMBRAER die Flugzeuge unter Lizenz bauen und vertreiben könnte. Das technologische Wissen soll dabei an die brasilianische Firma weitergegeben werden. Nun versuchen Boeing und Saab, sich mit noch attraktiveren Angeboten zu überbieten. Saab bot bereits zwei Gripen zum Preis von einem an. „Bald kriegen wir die Flugzeuge noch umsonst“, witzelte Lula dazu. Eigentlich wollte sich Brasilien am 21. September entschieden haben, doch wurde die Frist bis zum 2. Oktober verlängert, in dem die verschiedenen Anbieter ihre Vorschläge einreichen konnten.
Am 6. Oktober erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim, dass er weiterhin den französischen Vorschlag am besten findet. Um seine eigenen Bewerberchancen zu erhöhen, war am Tag zuvor der Vizepräsident des F-18 Programms von Boeing, Robert E. Gower, nach Brasilien gereist, um sich mit Jobim zu treffen. Er versprach ebenfalls einen Technologietransfer. „Wir sind entschlossen, den notwendigen Technologietransfer an Brasilien zu ermöglichen“, erklärte Gower auf einer Pressekonferenz. „Das Wort ‚notwendige‘ Technologietransfers macht mich stutzig“, erklärte Jobim nach dem Treffen. Wer wisse schon vorher, was „notwendig“ ist und was nicht, sinnierte vor Journalisten der ausgebildete Jurist Jobim. Bereits zuvor hatte Jobim erklärt, dass er von Flugzeugtechnologie wenig verstehe; dafür um so mehr von Wirtschaftsverträgen – und deshalb könne er sagen, dass das französische Angebot das interessanteste sei.
Mit diesen Rüstungsplänen versucht Brasilien, in den Kreis der Weltmächte aufzusteigen. Wer, wie Brasilien, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebe, brauche auch eine moderne und starke Armee, erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim. Für Brasilien bedeutet der Vertrag mit Frankreich das größte Rüstungsvorhaben seit seinem Eintritt in den zweiten Weltkrieg 1942. Doch Lula betonte wie Chávez den rein defensiven Charakter des Deals. Er bekannte sich zur „Friedenszone“ Südamerika, nannte aber auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung für die Ölfelder.
Viele Linke in Lateinamerika begrüßen die aktuelle Aufrüstung als Emanzipation von den USA. So kommentiert Raul Zibechi, Mitherausgeber der linken uruguayischen Wochenzeitung Brecha, auf der chavistischen Internetplattform Aporrea, dass die jüngsten Waffenkäufe in Lateinamerika das Ende der US-amerikanischen Hegemonie auf dem Subkontinent bedeuteten. Mit der Autonomie in der Rüstung höre die Region endlich auf, „der Hinterhof der USA“ zu sein. Offenbar sollen ausgerechnet Waffen die „Friedenszone Südamerika“ schaffen. Doch einige, wie etwa Uruguays Präsident Tabaré Vázquez, lehnen offen die wachsenden Rüstungsausgaben ab.
Von einem neuen Wettrüsten in Südamerika zu reden, ist jedoch übertrieben. Im internationalen Vergleich ist Südamerika noch immer schwach gerüstet. Etliche RüstungsexpertInnen sehen die jüngsten Waffenkäufe Venezuelas und Brasiliens als ohnehin notwendige Modernisierung ihrer recht veralteten Streitkräfte an – so „notwendig“ Waffenkäufe eben sein können. Dem Friedensforschungsinstitut Bonn International Center for Conversion BICC zufolge belegen fast alle lateinamerikanischen Länder eher die hinteren Plätze in der Liste der militarisiertesten Länder der Welt. Das BICC berechnet den Grad der Militarisierung, den Global Militarization Index, indem es mehrere Vergleiche anstellt: die Rüstungsausgaben eines Landes mit dem Bruttoinlandsprodukt, die Rüstungsausgaben mit den Gesundheitsausgaben, die Anzahl der Ärzte mit der Anzahl von paramilitärischen Truppen und offiziellen Soldaten sowie die Anzahl der schweren Waffen im internationalen Vergleich.
Daraus ergibt sich eine Liste aller Länder nach dem Grad ihrer Militarisierung. In Südamerika liegt Venezuela mit der Nummer 107 auf dem drittletzten Platz; nur Argentinien und Paraguay sind auf dem Subkontinent noch weniger militarisiert. Argentinien nimmt Platz 137 ein, Paraguay den 109. Schon weiter vorne liegen dagegen Ecuador (48. Platz) und Kolumbien (44. Platz), darauf folgen Peru (63. Platz), Brasilien (87. Platz) und Bolivien (91. Platz). Unangefochtener lateinamerikanischer Spitzenreiter ist Chile auf Platz 29.
Hillary Clinton zeigte sich indes lediglich über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Offenbar misst sie mit verschiedenen Standards, eben ob eine Regierung den US-Interessen in den Kram passt oder nicht. Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt gibt kein Staat in Südamerika so viel Geld für Rüstung aus wie Chile – dies scheint das US-State Department nicht zu beunruhigen. Doch diese hohen Militärausgaben will die Regierung Chiles nun ändern. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet will ein Gesetz kippen, dass zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferexport automatisch den Militärausgaben zuschlägt. Man kann nur hoffen, dass dies einen Trend für Südamerika einleitet. Denn welche Friedenszone braucht schon Waffen?

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