Chile | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Wald ist nicht gleich Wald

Chiles Umweltzerstörung ist ein Kind der Militärdiktatur

Während der Militärdiktatur trat die Regierung Pinochet Chiles natürliche Ressourcen mit Füßen. Sie reduzierte sie auf ihren ökonomischen Nutzen. Heute sprechen chilenische UmweltexpertInnen von einer historischen Schuld. Sie sprechen dabei nicht nur die Abholzung der Primärwälder an sondern auch die starke Luftverschmutzung in Santiago de Chile und das große Problem der Müllentsorgung. Der heutigen Regierungskoalition aus Christ- und Sozialdemokraten fällt der Umgang mit diesem Erbe nach über einem Jahrzehnt der Demokratie immer noch schwer. Auf der anderen Seite setzen sich die Betroffenen zusammen mit nationalen und internationalen Umweltverbänden unermüdlich für eine nachhaltige Umweltpolitik ein.

Tanja Rother

Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt diesen Planeten nicht“ („quien no conoce el bosque chileno, no conoce este planeta“), schrieb Pablo Neruda. Der große chilenische Dichter, der selbst nahe den regenreichen, immergrünen Wäldern des chilenischen Südens aufgewachsen ist, hat diesen Wäldern zahlreiche Hymnen gewidmet. Immer wieder hat er den Wind, die Bäume und das Leben in ihnen besungen – und damit auf den drohenden Verlust aufmerksam gemacht.
Melancholische Verse Nerudas stehen bei der chilenischen Lobby der Forstwirtschaft – repräsentiert durch die Forstwirtschaftsvereinigung CORMA – aber nicht auf dem Programm. Vielmehr definieren die VertreterInnen des für die nationale Ökonomie bedeutendsten Devisenbringers den Begriff Wald einfach neu.
So soll die zum dritten Mal in den Medien lancierte Kampagne „Bosques para Chile“, die chilenische Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die auf riesigen Flächen angelegten Monokulturen von Kiefern und Eukalyptus einen positiven Beitrag für die Umwelt leisten. Das Gegenteil ist der Fall: Die schnell wachsenden Baumarten, die für den Export von Cellulose und Holzchips bestimmt sind, bieten nicht die Bedingungen für ein Ökosystem mit einer hohen Artenvielfalt, wie es einem intakten Wald entspräche.
Entgegen der Angaben der CORMA stellten chilenische Ökoverbände wie das Nationale Komitee zum Schutz von Flora und Fauna, CODEFF, fest, dass vor der Anlage einer neuen, schnell rentablen Forstfläche häufig Primärwälder abgeholzt werden. Jährlich handelt es sich um 120.000 Hektar Urwald, der durch die Forstwirtschaft geschädigt oder vernichtet wird, 14.000 Hektar werden durch Monokulturen ersetzt. Die Folgen, erodierte Böden, durch Pestizide verseuchtes Grundwasser, Verringerung der Wasserläufe, Verlust von Heilpflanzen und sinkende touristische Attraktivität rufen soziale und ökonomische Probleme hervor.
Die transnationalen Unternehmen der Forstwirtschaft legitimieren ihre Machenschaften, indem sie vorgeben, damit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber die Realität ist anders: denn neue Arbeitsplätze bietet der Sektor kaum. Die immer dichter an die hiesigen Ortschaften vordringenden Forstplantagen haben nicht nur gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung, sondern beschränken auf drastische Weise die Wirtschaftsmöglichkeiten der Bauern – viele von ihnen gehören der indigenen Bevölkerung der Mapuche an. Eine stetig wachsende Zahl sieht sich gezwungen, in die Städte abzuwandern.

Gesetze des Waldes

Die Ursache dieser seit 25 Jahren anhaltenden, skandalösen Situation im Süden Chiles liegt in der Pinochet-Ära, genauer gesagt im Gesetz Nr. 701, das die massive Subventionierung der Holzwirtschaft mit bis zu 75 Prozent der Investitionen vorschreibt. In den 1970er und 80er Jahren stand ebenfalls die Privatisierung der bis dahin von der Corporación Nacional Forestal (CONAF) verwalteten Waldflächen auf der Agenda.
Heute sind es vor allem transnationale Konzerne wie Mininco und Bosques Arauco S.A., die im Zeichen von Entwicklung und Wachstum in den chilenischen Wäldern das Sagen haben. Sie stellen damit auch die stärksten Gegner der Mapuche im Konflikt um ihr angestammtes Territorium dar.
Seit Beginn der 1990er Jahre kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Mapuche, den Sicherheitskräften der Forstunternehmen und der Polizei. Die Mapuche versuchen über Landbesetzungen ihren historischen Anspruch auf das Land geltend zu machen.
Zur Eindämmung des Konflikts wendet der chilenische Staat in jüngster Zeit immer häufiger das Antiterroristengesetz an. „Das Vorgehen der Forstwirtschaft und des Staates stellt eine klare Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Mapuche dar“, sagt dagegen der Sondergesandte der Vereinten Nationen Rudolfo Stavenhagen.
Auf Grund der alarmierenden Situation trafen sich Mitte diesen Jahres um die 450 RepräsentantInnen von indigenen Gemeinden und KleinunternehmerInnen aus verschiedenen Regionen Temucos zu einem ersten nationalen Treffen und einer Demonstration. Die mehrheitlich indigenen TeilnehmerInnen diskutierten über den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Wälder und verabschiedeten schließlich die Deklaration „Soziale Bewegung für die Wälder Chiles“ (Movimiento Social por los Bosques de Chile).
Ihre Hauptforderung: die chilenische Regierung solle das seit zwölf Jahren debattierte Urwaldgesetz (Ley de Bosque Nativo) endlich verabschieden.
Die Mapuche erhoffen sich davon einen stärkeren Schutz der Primärwälder und die Einführung von Restriktionen und Normen für die Anlage von Monokulturflächen für die Holzproduktion. Vom chilenischen Staat verlangen die Mapuche und ihre MitstreiterInnen auch, traditionelle Wirtschaftsformen anzuerkennen und endlich die Unterordnung von Indígena-Politik unter Wirtschaftspolitik sowie die Widersprüchlichkeit der Gesetze aufzuheben.

Holzlobby will Ausbeutung der Wälder legitimieren

Paradoxerweise fordert auch die Holzlobby, vertreten durch die CORMA, die schnelle Verabschiedung des geplanten Gesetzes. Nach ihrer Version des Gesetzestextes sollte aber die ökonomische Ausbeutung der chilenischen Wälder ungeachtet der Konsequenzen für Mensch und Umwelt endgültig legitimiert werden.
Dass das Gesetz für den Primärwald auch dieses Jahr wieder scheitert, ist unwahrscheinlich. Es scheint, als ob Chiles Regierung es sich nicht leisten kann, die Umweltschutzorganisationen im Land und die internationalen Abkommen, wie das Kyoto-Protokoll, völlig zu ignorieren.
An Konzepten zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der Wälder mangelt es zudem nicht, denn viele Umweltschutzorganisationen wie das Nationale ökologische Aktions-Netzwerk, RENACE, Greenpeace Chile und das Institut für politische Ökologie, IEP, beschäftigen sich intensiv mit dem Thema. Sie hatten sich zumeist noch zu Zeiten der Militärherrschaft gegründet und mit Straßentheater und anderen Aktionen auf die desaströse Umweltpolitik Pinochets hingewiesen.
Auf die laufende Kampagne der Holzlobbyisten CORMA, „Wälder für Chile“, starteten CODEFF und RENACE nun eine Gegenkampagne unter dem Titel „Echte Wälder für Chile“. Ihr Ziel: sie wollen die chilenische Öffentlichkeit über den verklärenden Charakter der Prestigeaktion der CORMA aufklären.
Warum der chilenische Staat in naher Zukunft trotz anderweitiger Beteuerungen nicht von seinem Kurs abweichen wird und damit unausweichlich auf die Zerstörung der Wälder zusteuert, steht außer Frage: Die Forstwirtschaft ist der zweitwichtigste Wirtschaftssektor des Landes mit jährlich steigenden Exportzahlen. Allein im ersten Quartal 2003 konnte ein Wachstum von 7,2 Prozent an Exporten im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet werden. Die Ausfuhr von Rohmaterial, Papier und Holzchips macht rund zwölf Prozent der gesamten chilenischen Exportwirtschaft aus, größte Abnehmer sind die USA und Asien. Die Regierung Lagos forcierte diese Entwicklung noch weiter, indem sie abermals die großen Forstunternehmen mit einem Förderprogramm bedachten.

Plastiktüten, Smog und Stau

Während Chiles Wälder den transnationalen Unternehmen zum Opfer zu fallen drohen, streiten die Umweltschutzorganisationen konsequent um eine neue Umweltpolitik. So existiert erst seit kurzem die einzige, nach modernen technischen Standards funktionierende Mülldeponie Chiles in Santiago.
Im Rest des Landes wird der Müll immer noch unsortiert zusammengeschoben und verbrannt. An abgelegenen Orten ohne die notwendige Infrastruktur kommt die Müllabfuhr nur selten oder gar nicht vorbei und deshalb graben die Leute tiefe Erdlöcher für den Müll. Das ist eine Form der „Problemlösung“ mit geringen Mitteln, denn für die Müllentsorgung ist jede Kommune selbst verantwortlich.
Um dem entgegenzuwirken, wird von Umweltgruppen und einzelnen Privatleuten Recycling propagiert und zentrale Sammelstellen wurden eingerichtet. Es handelt sich jedoch um eine kleine Minderheit, die dieses Angebot nutzt oder im Supermarkt mit schon gebrauchten Plastiktüten einkaufen geht.
Das Problem Müll ist für die meisten ChilenInnen kein Thema, sind doch Recycling- und Mülltrennsysteme eine jüngere Erscheinung, die sich ebenso wie die Aufkärungsarbeit der Umweltvereine oftmals auf die Viertel der Oberschicht beschränken.
Der permanente Smog in Santiago ist in der breiten Öffentlichkeit eher ein Thema, denn der beeinträchtigt sichtbar die Lebensqualität der HauptstädterInnen und hat bei vielen zu Atemwegserkrankungen geführt. Ursache ist in erster Linie der Verkehr. Die zu Hunderten durch die Straßen rasenden gelben Busse, wie zum Hohn heißen sie zum Teil „ecológico“, fahren oftmals halb leer, weil es zu viele von ihnen gibt, aber jede Linie einem anderen Unternehmen gehört, das auf der Jagd nach Fahrgästen ist.
Staus gehören durch sie und das Verkehrsvolumen zum Alltagsbild in der Stadt. Fahrrad zu fahren traut sich bei den dicht befahrenen Straßen kaum jemand, die Radwege in Santiago umfassen weniger als fünf Kilometer.
Da sind die Fahrverbote für Autos ohne Katalysator, die jeden Tag eine andere Gruppe von Autokennzeichen betrifft, zwar ein positiver Schritt, aber noch keine Lösung für das Problem. Der Direktor von RENACE, Alvaro Gómez, bezeichnete bei einer Veranstaltung zum Weltumwelttag im Juni die Luftverschmutzung in Santiago als ein strukturelles Problem, das nicht mit der Autorestriktion gelöst werden könne. Der Lagos-Regierung bescheinigte er einen fehlenden Willen, das Problem anzugehen.
Ebenso wenig erfüllt die staatliche Umweltbehörde Comisión Nacional del Medio Ambiente (CONAMA) was ihr Name verspricht. Sie dient vielmehr den Interessen der Unternehmen als der Umwelt. Deshalb möchte IEP-Direktor Manuel Baquedano wie Goméz die CONAMA zu einem Ministerium erhoben wissen, als eine unabhängige, starke Umweltbehörde. Seiner Meinung nach müsste zudem das 1992 verabschiedete Ley del medio ambiente (Umweltgesetz) neu aufgelegt werden, um endlich die Trennung von Umweltprüfungen und politischen Interessen zu gewähren.

Ex-Hippies und reiche Amerikaner

Reale Alternativen für die staatliche Umweltpolitik basieren meist auf privaten Initiativen. Denn um die chilenischen Grünen, die sich 1988 als erste grüne Partei Lateinamerikas Los Verdes gründete und dem seit 1995 existierenden Movimiento Ecológico herrscht Ruhe, seit Grünen-Kandidatin Sara Larraín bei den Präsidentschaftswahlen 1999 kandidierte und nur 0,44 Prozent der Stimmen einholte.
Eine weitere Bewegung ist die ökologische Gemeinschaft Peñalolen am östlichen Stadtrand von Santiago, die sich 1980 spontan gegründet hat. Die Häuser sind in Eigenbau aus recyclebarem Material entstanden, die natürliche Umgebung wurde in die Planung schonend miteinbezogen, heimische Bäume wurden angepflanzt.
Heute experimentieren die BewohnerInnen mit Solarstrom und wehren sich gegen eine von der Stadtverwaltung geplante exzessive Bebauungsmaßnahme in ihrer nächsten Nachbarschaft. Das gemeinsame Besitzrecht existiert zwar immer noch, aber aus der Kommune ist ein Ort geworden, der dem Ruf nach elitär geworden ist und so nur SchauspielerInnen und andere Menschen mit entsprechendem Geldbeutel anzieht.
Dass sich meist nur ChilenInnen mit größerem finanziellen Rückhalt die Sorge um die Umwelt leisten können, wird auch an anderen Ecken schnell klar. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in dieser Hinsicht ist sicherlich der 60-jährige Douglas Tompkins, Ex-Esprit-Inhaber und Millionär, der wie einige andere US-AmerikanerInnen Land kaufen will, um es unter Schutz zu stellen. Er allerdings hat daraus ein Projekt im großen Stil gemacht.
An der Carretera Austral, der Straße, die nach Ende der Panamericana in Puerto Montt in die grüne Wildnis der chilenischen Fjordlandschaft führt, befindet sich Tompkins privater Ökopark „Parque Pumalín“, der 756.000 Hektar umfasst. Sein Haus, 120 Kilometer südlich von Puerto Montt, inmitten des seit 1992 bestehenden Parks, erreicht der Ökoaktivist nur per Kleinflugzeug. In der Einsamkeit schreibt er Bücher, in denen er sich mit Globalisierung, Internet und Macht oder industrieller Landwirtschaft kritisch auseinander setzt.

Der Traum des Millionärs

Sein Traum ist ein maßvolleres Konsumverhalten, die Stärkung der Gemeinden und die Wiederbelebung der Subsistenzwirtschaft. Letzteres hat ihn oftmals in die Ecke eines Messias gerückt. An der Wirkung der von ihm und den beiden Umweltstiftungen Foundation for Deep Ecology und dem Conservation Land Trust initiierten Landkäufe im Sinne des Erhalts der Flora und Fauna besteht jedoch kein Zweifel.
Wahrscheinlich hätte Tompkins auch das nötige Kleingeld, um Alumysa zu verhindern, ein in seiner Nachbarschaft geplantes Megaprojekt zur Aluminiumverarbeitung eines kanadischen transnationalen Unternehmens an der Chacabuco-Bucht in Aysén.
Aber dies ist vielleicht gar nicht nötig, wenn die chilenische Regierung nach zahlreichen nicht bestandenen Umweltverträglichkeitsprüfungen und dem jahrelangen Protest von Bevölkerung und Umweltschutzorganisationen endlich einsieht, dass das Unternehmen die Wälder, Flüsse und Fauna der Region unwiederbringlich zerstörte. Lagos zieht seit seiner Reise in das Gebiet eine Verlagerung des Projektes in den Norden des Landes in Betracht, wo auch Umweltverbände eine umweltschonendere Umsetzung der Aluminiumverhüttung für möglich halten.
Dass es bald zu einer allgemeinen Kehrtwende der chilenischen Umweltpolitik kommt, ist trotzdem nicht absehbar. Neruda hatte eigentlich die „Ode an die Hoffnung“ angestimmt, um die Menschen zum Mitsingen zu bewegen.

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