Mexiko | Nummer 251 - Mai 1995

Walter Reuter: Deutschland – Spanien – Mexiko

Ein sozialkritischer Fotograf auf der Flucht

Auf seiner Suche nach deutschen Fotografen im Spanischen Bürgerkrieg stieß Diethart Kerbs auf den Namen Walter Reuter. Nachdem er ihn selbst 1985 in Mexiko ausfindig gemacht hatte, bildete sich 1989 die “Arbeitsgruppe Walter Reuter”, die versuchte, mit ihm selbst seine Biografie und sein Lebenswerk zu rekonstruieren. Daraus entstand 1990 die Berliner Ausstellung mit dem gleichnamigen Buch, 1992 die erweiterte Ausstellung und Buchversion im Goethe-Institut Madrid. Die Madri­der Ausstellung wanderte durch mehrere spanische Städte und befindet sich heute in Mexiko. Damit wird, wenn auch sehr spät, die Persönlichkeit Walter Reuter gewür­digt und eine Facette der Fotogeschichte und der Zeitgeschichte bewahrt.

Ursula Tjaden

“Das sind schöne Bilder. Aber wohl leider nicht von mir…” sagt der eine. “Moment mal,” sagt der andere. Er hat den Namen un­ter dem dazugehörigen Artikel ent­deckt: Walter Reuter. “Na siehst Du,” sagt dieser, “ich habe doch gleich gesagt, es sind gute Bil­der.”
1989 blättert der 83-jährige Walter Reuter mit Diethart Kerbs, Fotohistoriker aus Berlin, in den gesammelten Ausgaben der “Arbeiter-Illustrierten-Zei­tung” aus den frühen 30er Jah­ren. Sie suchen nach Fotos von Walter Reuter, die damals dort aus Sicherheitsgründen meist ohne Namensnennung veröffent­licht worden sind. Es ist schwie­rig, sich nach so vielen Jahren an Themen, an die eigene Aufnah­meweise, an die konkrete Auf­nahmesituation zu erinnern.
Walter Reuter wird am 4. Ja­nuar 1906 in Berlin-Charlotten­burg in einer Arbeiterfamilie ge­boren. Der Vater ist Straßen­bahnführer, seine Mutter später Schlafwagenschaffnerin. Wäh­rend des ersten Weltkriegs ist der Junge über längere Zeiträume auf dem Land, so daß der Schul­besuch ziemlich knapp ausfällt. Seine Schule wird die Jugend­bewegung, der er als Zehnjähri­ger beitritt. Das Leben dort ge­fällt ihm, hier findet er die Kon­takte, die ihn fördern, die ihm entscheidende Anstöße für die Entwicklung von künstlerischen und kulturellen Interessen geben.
Mit vierzehn Jahren beginnt er eine Lehre als Chemigraph, be­treibt aber mindestens so inten­siv seine sportlichen und kul­turellen Ambitionen. Er begei­stert sich für den Tanz, beson­ders für den modernen Aus­druckstanz, über­haupt für die Ausdrucksfähigkeit der moder­nen Kunst. Angeregt durch sei­nen Freund Wolfgang Lukschy, dem späteren bekann­ten Berliner Schauspieler, nimmt auch er Schauspielunterricht. Beide wir­ken als Statisten, später in klei­neren Rollen an den aufre­genden Inszenierungen dieser Jahre mit.
Walter Reuter ist, abgesehen von einigen Unterbrechungen, bis Mitte 1929 als Chemigraph tätig. Er verliert die Stellung, als er als Gewerkschafter in seinem Gewerbe Unterschriften gegen das mörderische Vorgehen der Polizei bei der Berliner Mai-Demonstration 1929 sammelt, der über 30 Arbeiter zum Opfer gefallen sind. Da er nun auf einer Schwarzen Liste steht, bleibt seine Arbeitssuche, quer durch Deutschland, erfolglos. Zurück in Berlin, erhält er eine minimale Arbeitslosenunterstützung, lebt ab Frühjahr 1930, wie viele mit­tellose Jugendliche, an einem See am Rande der Stadt. Da bietet sich die Gelegenheit zum Kauf einer gebrauchten 6×9-Kamera.
Der kritische Blick
des Autodidakten
Die Aufnahmen vom Leben in einer Laubenkolonie werden von der “Arbeiter-Illustrierten-Zei­tung” sofort akzeptiert. In der Folge arbeitet er für sie und ei­nige andere linke und liberale Zeitschriften als freier Mitarbei­ter. Reuter ist als Fotograf Auto­didakt, bezeichnet sein Auge als geschult durch die Beschäftigung mit dem Tanz, mit der modernen Malerei, will mit seinen Auf­nahmen “soziale Mißstände auf­decken, Beweise liefern, wach­rütteln”, ist aber bewußt partei­po­litisch unabhängig. Reuter wird bereits vor 1933 wegen sei­ner Reportagen für die “Arbeiter-Illustrierten-Zeitung” von der SA bedroht.
Seine Freundin, die Schau­spielschüle­rin Sulamith Siliava, ist Jüdin. Ihr gemeinsa­mer Freund, der linke Rechtsan­walt Hans Litten, wird unmittel­bar nach dem Reichstagsbrand ver­haftet. Dies alles veranlaßt Wal­ter Reuter, Sulamith und eine ge­mein­same Freundin um­gehend, be­reits Mitte März 1933, zur Flucht. Über die Schweiz, Süd­frankreich und Madrid kommen sie nach Andalusien. Dort schla­gen sie sich mit Sin­gen und Mu­si­zie­ren auf den Straßen durch. 1934, Walter und Sulamith hei­ra­ten, kauft Reuter eine Mittel­for­mat­kamera. Es ge­lingt ihm, in den beiden folgen­den Jahren in Má­laga ein erfolg­reicher Por­trait­fotograf für wohlhabende Ein­heimische und Engländer zu werden.
Im Sommer 1936 lernt Reuter zufällig García Lorca kennen. Sie sprechen eine Nacht lang über Lorcas neues Stück “La casa de Bernarda Alba”, auch über Möglichkeiten seiner Dar­stellung in Fotosequenzen. We­nige Wochen später wird García Lorca ermordet. Reuter wird das Thema ein Leben lang beglei­ten. Viele Jahre später, Anfang der 50er Jahre und Ende der 80er Jahre, wird er sich fotografisch mit Ballettversionen des Stückes auseinandersetzen.
Der Spanische Bürgerkrieg bricht aus. Reuter schickt Frau und Sohn zu Verwandten nach Paris und schließt sich einer Mi­liz der Vereinigten Sozialisti­schen Jugend an. Er versteht dies als “Kampf für die Freiheit in ei­gener Sache”, weigert sich je­doch, sich an der Erschießung Gefangener zu beteiligen. Drei Monate später, eingekreist von den Putschisten, flieht er in einer Schauspielertruppe nach Madrid. Dort nimmt er nun statt des Ge­wehrs die Kamera zur Hand und fotografiert im Auftrag des Au­ßenministeriums und anderer staat­licher Stellen.
Die Aufnah­men gehen an viele ausländische Agenturen wie “Black Star” in London und New York, an Zeit­schriften wie “Regards” (Paris) und die “Züricher Illustrierte”. Kurze Zeit gibt es eine Zusam­menarbeit mit “Ahora”, der Ma­drider Illu­strierten der Vereinig­ten Soziali­stischen Jugend unter der Lei­tung von Santiago Ca­rillo. Reu­ter ist auch mit zahlrei­chen Auf­nahmen an der Pariser Ausstel­lung des spanischen Au­ßen-mi­ni­steriums über das Schicksal der Kin­der im Bürger­krieg beteiligt.
Der andere Blick im Spanischen Bürgerkrieg
Walter Reuter zeigt im Ge­gensatz zu vielen seiner Kolle­gen weniger das Leid, die Zer­störung, das Elend des Krieges, sondern oft den Mut, die Gelas­senheit, den Optimismus der Menschen, das Funktionieren der Versorgung an der Front und der Produktion in der Etappe – trotz der großen Schwierigkeiten, denen die Republik gegenüber­steht.
Reuter folgt der Regierung von Madrid nach Valencia, dann nach Barcelona. Als Barcelona im Januar 1939 unmittelbar be­droht ist, flieht er und über­schreitet am 9. Februar die fran­zösische Grenze. Sein Archiv, der Koffer mit den Negativen, bleibt in Barcelona im Presse­zentrum der Regierung zurück. Über fünfzig Jahre gänzlich verloren geglaubt, befindet sich das Material nun vermutlich un­ter den noch nicht archivierten Negativen der Biblioteca Nacio­nal in Madrid.
Reuter schlägt sich zu seiner Familie nach Paris durch. Die fehlende Aufenthaltsgenehmi­gung zwingt ihn zu ständigem Wohnungswechsel. Während Su­la­mith in Malschulen Modell steht, kann Reuter hin und wie­der einige Modelle fotografieren und in Robert Capas Labor ent­wickeln.
Als der Weltkrieg aus­bricht, meldet er sich freiwillig zur französischen Armee, wird je­doch als Deutscher interniert. Damit beginnt sein Weg durch eine Reihe französischer Lager. Schließlich gelingt ihm die Flucht nach Marseille. Dort trifft er seine Frau, seinen Sohn, doch die nächste Trennung steht un­mittelbar bevor. Während Sula­mith durch den Besitz eines ägyptischen Passes relativ ge­schützt ist, muß Reuter ständig den Zugriff der Gestapo fürch­ten. Als einziger Ausweg er­scheint die Flucht über Marokko nach Mittel- oder Südamerika. Reuter nutzt die Möglichkeit der Demobilisierung französischer Armeeangehöriger nach Nord­afrika, wird jedoch in Marokko festgenommen und tritt nun sei­nen Weg durch die dortigen La­ger an. Die Häftlinge, Juden, po­litisch Verfolgte und viele Frem­denlegionäre, werden zum Bau der Transsahara-Eisenbahn ein­gesetzt. Die Lebensbedingungen sind äußerst hart, bessern sich einige Monate später jedoch et­was, als Reuter zur Beaufsichti­gung marokkanischer Bauarbei­ter abgestellt wird. Sein solidari­sches Zupacken sollte ihm später bei der Flucht unverhofft zugute kommen.
Anfang März 1942 erreicht Reuter die Nachricht seiner Frau, sie habe noch für denselben Mo­nat drei Schiffspassagen von Casablanca in die Neue Welt und Einreisevisa für Mexiko. In abenteuerlicher Flucht schlägt sich Reuter bis Casablanca durch und erreicht in letzter Minute das Schiff. Trotz der Visa gibt es für die Familie Walter Reuters und zwanzig weitere politisch Ver­folgte Schwierigkeiten, Mexiko zu betreten. Das gelingt erst, als die beiden Deutschen Heinrich Guttmann und Max Diamant, die sich bereits im Land befinden, ihren Einfluß geltend machen können.
Reuter bezeichnet die beiden ersten Jahre in Mexiko als die schwierigsten seines Lebens. Kurz nach der Ankunft wird die Familie durch einen Diebstahl im Hotel um ihre letzte Habe ge­bracht. Die Aufenthaltsgenehmi­gung ist auf Puebla beschränkt, wo es keine Arbeitsmöglichkei­ten gibt.
Die parteipolitisch or­ga­ni­sier­ten Hilfskomitees, denen Reuter auf­grund seiner Spanien-Er­leb-nis­se zurecht miß­traut, die Zwie­tracht und der Egoismus unter vie­len Emigran­tInnen, der Kon­takt zu wenigen Freunden, hin und wieder etwas Hilfe von ein­zel­nen, das sind die prägen­den Er­fahrungen dieser Zeit. Reuters wirtschaftliche Si­tuation ist so ka­tastrophal, daß er ge­zwungen ist, auf der Straße und in den Ca­fés der Hauptstadt zu betteln.
Die Dächer von Mexiko
Schließlich gelingt es ihm, eine Kamera zu leihen. Er macht erste Portraitaufnahmen von jü­dischen Familien, Kontakte, die seine Frau ihm vermitteln kann. Ende 1943 ersteht er im Leihaus eine eigene Rolleiflex, die er al­lerdings mehrfach wieder in Zahlung geben muß. Angeregt durch seinen – illegalen – “Wohn­sitz”, einer Dienstboten­kammer auf einem Dach in Me­xiko-Stadt, macht er seine erste me­xi­ka­ni­sche Fotoreportage Los techos de Mé­xico. Er schildert das Leben des bunten, verarmten Völk­chens, das wie er hier oben Zu­flucht gefunden hat. Die Bil­der wer­den in der anspruchs­vollen Fo­tozeitschrift “Nosotros” veröf­fentlicht und tragen ihm auf­grund seiner Erfahrungen in der “Ar­beiter-Illustrierten-Zei­tung” ei­nen relativ gut dotierten Ange­stelltenvertrag ein. Später wird er freier Mitarbeiter dieser Zeit­schrift, ebenso wie bei “Hoy”, “Siem­pre”, “Mañana”, “Foto-Film Cinemagazin” und “Voz”. Die beiden namhaften mexikani­schen Fotografen Héc­tor García und Nacho López be­zeichnen Wal­ter Reuter als den­jenigen, der in Mexiko den mo­dernen Bild­journalismus einge­führt hat.
Reuters Thema sind die so­zialen und kulturellen Aspekte verschiedener Landstriche, das Leben der Indios, der Verfall ih­rer bedrohten Kulturen. Seine Position ist sozialkritisch. Er mischt sich jedoch nicht in die politischen Angelegenheiten je­nes Landes ein, dem er dankbar für die Gewährung des Gast­rechts ist.
Entscheidend für Reuters Ar­beit in Mexiko ist sein gutes Verhältnis zur indianischen Be­völkerung. Er lebt wochen- und monatelang mit ihnen, hilft, wenn es nottut und wo er kann, nimmt ihnen die Scheu vor der Kamera: “Ich habe stets ver­sucht, die Würde der Indios zu achten.” Arbeitet er in eigenem Auftrag, bewegt ihn darüber hin­aus besonders seine alte Leiden­schaft, der Tanz. Er portraitiert damals viele der bekannten me­xikanischen Tänzer und Choreo­graphen.
Bereits 1946 hatte Reuter schon für Wochenschaubeiträge zur Filmkamera gegriffen. Staat­liche Kommissionen verlangten damals ab und zu Kurzfilme über Lebensbedingungen an be­stimmten Orten, um Infrastruk­turmaßnahmen durchzusetzen. Aber Anfang der 50er Jahre be­ginnt seine eigentliche Laufbahn als Dokumentarfilmer und Ka­meramann bei Spielfilmen. In staatlichem Auftrag oder mit freien Produzenten entstehen Hi­storia de un río über Sitten und Gebräuche von Indígenas am Flußufer, Tierra de chicle über das Leben der Kautschuk-Ar­beiter in den Wäldern von Chia­pas, sowie die Spielfilme Raíces über Konflikte zwi­schen Indí­ge­nas und weißer Oberschicht und El brazo fuerte über die Vor­macht­stellung der Groß­grund­be­sitzer in Mexiko.
In den 50er und 60er Jahren filmt Reuter auch für europäi­sche Institutionen, macht für das “Museé de l’Homme” in Paris einen Film über das Leben der La­candonInnen, für die BBC ei­ne Dokumentation über die Tän­ze der Voladores von Pa­pantla im Bundesstaat Veracruz. Für den WDR verfilmt er “Die Baum­wollpflücker” von B. Tra­ven. Kleinere Arbeiten entstehen für holländische, englische und me­xikanische Gesellschaften.
Wie früher in seinen Reporta­gen für die “Arbeiter-Illustrier­ten-Zeitung” stellt Reuter in sei­nen Filmen gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte dar. Bei der Frage nach seiner ästhe­tischen Schulung für Kameraein­stellung und -führung verweist er wieder auf die Avantgardekunst der 20er Jahre. In den Jahren 1963/64 lehrt er Komposition am Centro Universita­rio de Estu­dios Cinematográficos der Universität UNAM.
Trotz seiner erfolgreichen Tä­tigkeit als Filmer ist Reuter kei­neswegs wirtschaftlich abgesi­chert. Immer wieder gibt es Ein­brüche, muß er zum Beispiel Wer­befilme machen: “Ich bin kein Geschäftemacher, ich habe nie viel Geld gehabt.” Anfang der 60er Jahre gelingt endlich ein großer Auftrag. Reuter doku­mentiert für die Comisión Fe­deral de Elec­tricidad den Bau von Staudämmen, Lichtleitun­gen, E-Werken in mehreren Ge­genden Mexikos und die soziale Situa­tion der dort lebenden indiani­schen Bevölkerung. Zu­nächst er­neut auftragslos durch das Aus­wechseln der Be­leg­schaft beim Präsidentenwech­sel 1970, über­trägt man ihm An­fang der 70er Jahre die Fotodo­ku­men­tation, wie sich das Fi­scherdorf Mel­chor Ocampo durch die Er­rich­tung ei­nes Stahlwerks zur Groß­stadt Lázaro Cárdenas ent­wickelt: “Das Pro­jekt Sicartsa hat mich tief be­eindruckt. In ei­ner Region, wo nichts vorhanden war, entstanden plötzlich Schu­len, Krankenhäu­ser, Straßen, Was­serleitungen und Ar­beits­plätze.”
Seit Ende der 70er Jahre übernimmt Reuter keine Auf­tragsarbeiten mehr, wendet sich wieder eigenen Produktionen zu. 1987 inszeniert er mit einer Tanztruppe Sequenzen aus “La casa de Bernarda Alba”, um sie auf­zunehmen. Immer wieder un­ter­nimmt er Autofahrten in die 800 Kilometer entfernten Berge von Oaxaca. Er hat sich vorge­nom­men, das Le­ben der dort woh­nenden Triques umfassend zu dokumentieren, was ihn wohl noch Jahre in An­spruch nehmen wird.
Heute ist Walter Reuter 89 Jahre alt und lebt in dem Land, das ihm seit Jahrzehnten zur Heimat geworden ist. Eine Rückkehr in das eine oder in das andere Deutschland hat er nie wieder in Betracht gezogen.

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