Warten auf Godot in Guantánamo
Flüchtlinge leiden unter katastrophalen Zuständen in den Lagern
Symptomatisch ist ein Zwischenfall vom 13. August. In den Morgenstunden formierte sich nach Angaben von US-Militärs in einem der sieben Lager ein Protestzug. Die Stimmung sei anfangs eher gedämpft gewesen. Mal still, mal singend, mal Parolen rufend wuchs der Zug rasch. Andere Lager schlossen sich der Aktion an. Zu einer Eskalation sei es erst gekommen, als etwa 120 Flüchtlinge begannen die Stacheldrahtrollen, die die Lager umschließen, zu überspringen, ins Meer stürzten und schwimmend versuchten, kubanisches Territorium zu erreichen.
“Die Menschen Haitis haben die Insel aus politischen Gründen verlassen und jetzt haben wir das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben.” So beschrieb Henry Claude Delva, der Sprecher von Camp 5, den Frust, der sich unter allen LagerbewohnerInnen breit gemacht hatte. An diesem Punkt griffen nach Angaben des Informationsdienstes “Haiti Progrès” US-Militärs ein und versuchten, eine Massenflucht von Flüchtlingen zu verhindern – angeblich unter einem Hagel von Steinen, Dosen und Zeltstangen.
Unabhängige BeobachterInnen haben starke Zweifel an dieser Version und vermuten, daß die Flüchtlinge sich nur gegen einen massiven Einsatz der US-SoldatInnen wehrten. In der Vergangenheit wäre die Gewalt immer von brutal vorgehenden US-Militärs ausgegangen. In ähnlich gelagerten Fällen hätten die Militärs, so “Haiti Progrès”, relativ schnell Wasserwerfer und Hunde, ja sogar Panzer und Flugzeuge eingesetzt.
Am Ende eines hitzigen Tages zogen die US-Behörden Bilanz: 45 verletzte Flüchtlinge und 20 verletzte SoldatInnen. Gerüchte sprechen von drei LagerbewohnerInnen, die beim Fluchtversuch ertranken. 330 Flüchtlinge sollen danach in einen gesondert bewachten Abschnitt auf Guantánamo gebracht worden sein. Die Ereignisse vom 13. August sind kein Einzelfall. Nur vier Tage später soll es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Und am 22. August verhaftete die US-Militärpolizei nach eigenen Angaben über 700 LagerbewohnerInnen nach einem zunächst friedlich verlaufenen Protestmarsch gegen die Zustände in den Lagern. Alle Festgenommenen, darunter Kinder und Frauen, seien danach in unterirdische Bunker gebracht worden, in denen sie nach Angaben von “Haiti Progrès” vier Tage lang von allen anderen getrennt unter schlimmen Bedingungen eingesperrt waren.
Briefe, die aus den Lagern geschmuggelt wurden, sprechen davon, daß US-Soldaten Frauen aus den Lagern sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Nachdem die US-Küstenwache Kleider und Schuhe der Bootsflüchtlinge zum Teil verbrannt habe, fehlt es nun selbst daran.
Politik der schleichenden Desillusionierung zeigt Wirkung
Die Politik der USA, es den Flüchtlingen so unangenehm wie möglich zu machen, zeigt erste Erfolge: In den Monaten Juli und August sind weit über 5.000 Menschen nach Haiti zurückgekehrt – frustriert, ohne Hoffnung. “Repatriierung” ist der Technokratenterminus für das System der schleichenden Desillusionierung. Die Stimme von Stanley Schrager, US-Botschaftssprecher in Port-au-Prince, kennen die meisten in Haiti. In Radiosendungen warnt er die HaitianerInnen die Insel per Boot zu verlassen: “Die US-Küstenwache wird Dich auf dem Meer abfangen. Du wirst nicht in die USA gebracht. Sie werden Dich in ein Flüchtlingslager in einem anderen Land bringen, in dem Du sechs Monate, ein Jahr darauf warten kannst, bis die Krise zu Ende ist und Du nach Haiti zurück kannst. Mein Freund, wenn Du in Erwartung eines besseren Lebens aufs Meer gehst, zerstörst Du Dein Leben.”
Um in den Lagern ein Klima des Frustes zu begünstigen, scheuen sich die US-Behörden nach Angaben von “Haiti Progrès” auch nicht, Tontons-Macoutes, die Schergen des Geheimdienstes von Ex-Diktator Baby-Doc Duvalier, als Übersetzer in den Lagern anzustellen. Täglich fänden sogenannte Lagerbegehungen statt, bei denen versucht werde die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Haiti zu bewegen.
Dort wissen mittlerweile fast alle, daß die Chancen auf Asyl in den USA minimal sind. Nur noch wenige verlassen ihre Heimat. Brachte die US-amerikanische Küstenwache im Juli noch mehr als 16.000 haitianische Flüchtlinge auf, waren es im August nicht mehr als 500. Allerdings stieg die Zahl von Bootsflüchtlingen Ende August wieder an, aus Furcht vor den Konsequenzen einer möglichen Invasion der USA und alliierter karibischer Staaten.
In Haiti selbst schloß die US-Botschaft im August zwei “Abwicklungszentren” für Flüchtlinge und gab anschließend bekannt, daß sie sich außerstande sähe, 1.000 Menschen aus Haiti auszufliegen – Flüchtlinge, denen die USA bereits offiziell Asyl gewährt hatte. Irgendwo auf Haiti versteckt warten sie in ständiger Angst vor dem brutalen Repressionsapparat des Militärregimes immer noch auf ihre Ausreise. Neue Berichte sprechen davon, daß sich das Militärregime in Port-au-Prince einverstanden erklärt habe, diese Menschen in einem “regelmäßigen Rhythmus” über den Landweg in die Dominikanische Republik ausreisen zu lassen.
Kubanischer Flüchtlingsstrom verschärft Situation
Die Entscheidung der Clinton-Regierung auch die kubanischen Flüchtlinge erst einmal auf Guantánamo zu internieren, hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die internierten HaitianerInnen sind, so “Haiti Progrès”, der festen Überzeugung, daß die US-Behörden und -Militärs auf Guantánamo ein Zweiklassensystem für Flüchtlinge etablieren. Kleinigkeiten reichen, um dem neue Nahrung zu geben. Zwischen den Lagern der KubanerInnen und der HaitianerInnen gibt es nicht einmal Sichtkontakt. Die HaitianerInnen sind sich sicher: Flüchtlinge aus Kuba werden weit besser versorgt als sie selbst. Das Essen für die KubanerInnen sei nahrhafter, auch seien Baseball-Spielfelder angelegt worden. Sie selbst warteten immer noch auf ein Fußball-Feld.
Bei der haitianischen Exilgemeinde in den USA besteht kein Zweifel über den Wahrheitsgehalt solcher Anschuldigungen. Sie tut sich schwer, angesichts einer fast übermächtig erscheinenden Lobby von Exil- KubanerInnen mit dem “Haiti-thing” nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem sind viele kubanische Bootsflüchtlinge weiß, die schwarzen HaitianerInnen haben da einfach die falsche Hautfarbe.
Kuba befürchtet Eskalation
Jetzt wird auch die kubanische Armee nervös. Sie befürchtet einen Gewaltausbruch in Guantánamo. 14.000 haitianische und 23.000 kubanische Flüchtlinge quetschen sich in den Lagern Guantánamos, umgeben von 8.000 stationierten US-SoldatInnen. Es bestehe die Gefahr eines gewaltsamen Massenausbruches mit Todesopfern, so ein kubanischer General – Guantánamo ist von kubanischen und US-amerikanischen Tretminen eingekreist.
Wie sich die Entscheidung der USA, jährlich 20.000 KubanerInnen einreisen zu lassen, auf die Lage in Guantánamo auswirkt, ist noch offen.
Für die haitianischen Bootsflüchtlinge gestaltet sich die Sache schwieriger. Surinam erklärte sich im August bereit, 2.500 Flüchtlinge aufzunehmen – widerwillig und mißtrauisch von der eigenen Bevölkerung beäugt.