Was bleibt von den Intellektuellen?
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürzlich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet bereits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zukunft “die Menschen blind handeln werden.” Wallerstein ist gewiß nicht der Einzige, der meint, die Gegenwart sei verwirrend und die Zukunft unvorhersehbar. In Lateinamerika tragen Jugendliche aus Randgruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsicherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirklichung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Dominikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoischen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industrialisierung Anfang dieses Jahrhunderts ablehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewegungen in den letzten Jahren. Die utopische Zukunftsvision ist jedoch verschwunden. Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozialdemokratischen Form der “Utopía Desarmada” des mexikanischen Politikwissenschaftlers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer literarisch gebildeten Intelligenz aufrechterhalten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kritisches Bewußtsein der Gesellschaft agierten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, sondern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apostel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Gottes”. Dieses Ansehen muß im Zusammenhang von Gesellschaften mit einer geringen Lesefähigkeit verstanden werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Hauptakteure auf der öffentlichen Bühne hervor, sondern auch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Veränderung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch politischer Bedeutung für die lateinamerikanische Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemisphäre mitgestaltet. In den späten sechziger Jahren wurde die Definition von revolutionärem Schreiben immer enger gefaßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Padilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unterstützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der Sandinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zentralamerika spiegeln auch die traumatischen Nachwirkungen repressiver Militärregierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologische Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentlichen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Videos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika verspürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrängung wird von der wachsenden Privatisierung der Kultur noch verschärft. Zunehmend werden kulturelle Institutionen wie Galerien, Musikunternehmen und Fernsehkanäle von Privatunternehmern geführt. Sogar die nationalen Universitäten, traditionell Zentren politischer Aktivitäten, konkurrieren heute mit unzähligen privaten Universitäten, die in der Mehrzahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernsehmagnat Emilio Azcárraga, der Telenovelas in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der führenden Akteure der Kunstwelt geworden.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird sogar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor allem die des Fernsehens. Der argentinische Kulturkritiker Nestor García Canclini bezeichnet die Neuordnung des kulturellen Terrains als “Rekonversion”. Im Zeitalter von High-tech erfährt Kultur einen Bedeutungswandel. Ein hohes Niveau an Lesefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fernsehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität geworden.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich erschienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volkskunst beklagte, hört sich in diesem Zusammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesuskinder, die von den Gemeinden eingekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sandalen und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogenisierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie behaupten, daß Fernsehen, Massenmarketing und neue Technologien die Kultur demokratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybridkreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinamerikanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argument, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu erreichen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfinden. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aussehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschichten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der modernen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forderungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informationen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für lateinamerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimperialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technologien und Moden benutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, sondern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und indigenen Einflüssen. Die etablierte Kultur hat sich später Tango, Bolero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvierteln haben, als die Verkörperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schönste Tango der Welt” des Argentiniers Manuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander verbindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Beispiel für den kulturellen Wandel. Trotzdem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindustrie ist, wurde Rock zur Vorhut des Widerstandes gegen strenge Moral und Familienhierarchien. Die südamerikanischen Militärregierungen machten die Rockmusik zum Mittel einer Widerstandsbewegung, indem sie Musikmagazine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rockmusik den Autoritarismus der älteren Generation, aber auch die idealistische Nostalgie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvinen/Falkland-Kriegs organisierte die Militärregierung ein Rockkonzert der Nationalen Solidarität, um so um die Unterstützung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um seinen neoliberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginalisierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesellschaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußballspiel oder dem Besuch des Papstes verglichen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hinzuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Lebenshaltungskosten), “Si saliera petróleo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich regnet es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Kontinents handeln. Bezeichnenderweise kandidierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Vargas Llosa für die Präsidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Guarachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Brasilianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerechtigkeit aufnehmen und – im Falle von Veloso – das Verhältnis zwischen Konsumkultur und “Authentizität” untersuchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruckten Wortes ist das Fernsehen, dessen Einfluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum verwunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinigten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Telenovela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Kolumbien 10 bis 15 Million Menschen erreichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich attraktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasilianische Produzenten übernehmen häufig Romane für das Fernsehen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wiederentdeckt worden, wobei ein Typ von Telenovelas produziert wird, der die US-Produkte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Ausdruck der Modernität und der Bildung eines nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger globaler Kultur geworden. Wie der argentinische Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideutige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frühere Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen verknüpft gewesen. Es war in einigen Ländern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literarische Intelligenz in Bezug auf seine pädagogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmenden Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzulehnen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfähigkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plauderton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlungenen “Herbst des Patriarchen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunternehmen wie Joaquín Mortiz und Sudamericana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zumindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denkbaren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu vertreten, die früher schon von der Staatsbürgerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homosexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwischen oben und unten, Fiktion und Realität verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppositionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakomben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Freiheit ihn oft als Freiheitlich-Konservativen erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Konsumgesellschaft zu widerstehen – verholfen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Entschlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autonomie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und Allgemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Opposition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei revolutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschreiber.
Was für heutige Schriftsteller problematisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Vereinnahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schreibens in Trend oder Stil. “Magischer Realismus” war einst ein Wegweiser für lateinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exotik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kritiker die politischen und ethischen Funktionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kritiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteilsvermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezogen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populismus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion reduziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Fehlens anderer Unterscheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumentiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstlerischen Produkte, die mit der Kulturindustrie verbunden sind, und verdrängt so die hierarchische Autorität der Fachleute traditioneller Prägung. Hierarchien stürzen ist eine Sache, aber kritisches Urteilsvermögen zurückzuweisen, ist Sarlos Meinung nach eben schlimmer, weil der Verzicht, über Werte zu diskutieren, zur passiven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forderung nach Wiederaufwertung des Ästhetischen gerade im Zusammenhang mit Redemokratisierung und angesichts wachsender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Verteidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kritische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trotzen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rückkehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditionelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es befreit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzeitig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allgemein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schriftsteller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wiederum die Ära der internationale Bennetton-Epoche und den E-mail-Universalismus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie erscheinen mag: In der Epoche globaler Informationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität geworden.