Nummer 358 - April 2004 | Stadtentwicklung

Was Quadratmeter mit Wahlen zu tun haben

Das Projekt zur Verbesserung des Wohnungsbaus in Mexiko-Stadt

Seit einigen Jahren unterstützt die lokale Regierung von Mexiko-Stadt ein Programm zum Um- und Ausbau selbst gebauter Häuser. Da ein Großteil der Stadtbevölkerung in solchen Häusern lebt und diese oft defizitär sind, kommt das Programm entsprechend gut an. Allerdings gestaltet sich die Durchführung nicht ganz einfach, und schon werden die Zuwendungen für den allgegenwärtigen mexikanischen Populismus missbraucht.

Anna Dose, Jana Schulz

Sonntagmorgen, 8 Uhr 30. Einige Tausend Menschen haben sich auf dem Zócalo von Mexiko-Stadt, dem größten Platz Lateinamerikas vor dem Präsidentenpalast versammelt. Es sind die vielen Glücklichen, denen vom städtischen Wohnungsbauinstitut INVI ein Kredit für den Eigenheimbau zugestanden wurde. Sie sind aus allen 16 Stadtbezirken gekommen, um jetzt mit ihren Familien auf den für sie reservierten Sitzen Platz zu nehmen. Sie warten geduldig auf die Übergabe ihres ersten Schecks und auf ihren Bürgermeister, Andrés Manuel López Obrador, der gleich als generöser Spender ein Bad in der Menge nehmen wird.

Bescherung
Etwa 30 Kilometer weiter südöstlich im Stadtbezirk Iztapalapa hat die Architektin Ligia García das Bad in der Menge schon hinter sich. Mehr als vier Stunden dauerte der Workshop und die anschließende Verteilung der fertigen Pläne an die KreditnehmerInnen in der überfüllten Turnhalle. Dies ist der spannendste Moment nach Aushändigung der Schecks. Immer wieder kommt es dabei zu Rangeleien und sogar zu Tränen, manchmal auch zu glücklichen Umarmungen. Die Pläne vom neuen Heim aus Betonsteinen liegen schwarz auf weiß in der Hand. Ein Gewirr aus Linien und Zahlen beschreibt die genaue Lage und Größe von Räumen, Lichtschaltern und Wasserleitungen, nicht für jeden verständlich. Aufregung und Ratlosigkeit ist in vielen Gesichtern zu lesen. Für ausführliche Erklärungen bleibt vorerst keine Zeit in Anbetracht der vielen ungeduldig wartenden Familien. Ligia beantwortet dennoch immer wieder die gleichen Fragen, vertröstet, wimmelt manchmal ab, weil einfach zu viele auf sie einreden.

Auf der Baustelle
Alejandra de la Rosa ist ratlos. Die Architektin besucht bereits zum 5. oder 6. Mal die Baustelle der ihr zugewiesenen Kreditnehmerin Señora Isabel. Letztes Mal musste sie das Einreißen einer neu erstellten Mauerwerkswand anordnen, weil einer der beiden Söhne des Hauses zu schlampig gearbeitet hatte. Sie hat die verzweifelte Frau darum gebeten, einen erfahrenen Handwerker zu beauftragen – vergebens. Zudem tut sich ein Loch im Betonboden auf, bei dessen Betrachtung Alejandra kurz der Atem stockt: das notwendige und vorgeschriebene Fundament ist ein mickriger, nicht vollendeter Ringbalken, der kaum dazu taugt, ein Haus zu tragen.
Auf Nachfragen reagiert die Kreditnehmerin trotzig: das sei ein Fundament, erst vor ein paar Jahren fertig gestellt. Das hat sie auch auf dem Fragebogen des INVI zur Bewilligung eines Kredites angeben. Der zuständige Gutachter hat es dabei belassen. Und auch nicht überprüft, ob Señora Isabel überhaupt weiß, was ein tragfähiges Fundament ist.Die bereits ausgegebenen Beträge werden zusammengerechnet: nur 30 Prozent des Kredites sind noch übrig, obwohl bis auf zwei halbwegs passable Wände noch nicht viel von dem steht, was ursprünglich geplant war.
Señora Isabel hat wegen ihres geringen Einkommens nur einen sehr niedrigen Kredit bewilligt bekommen. Ein Fundament ist teuer. Und notwendig. Aber wenn sie eines fordert, wird das Geld nicht mehr für das Stahlbetondach reichen, der Rohbau wird nicht zu nutzen sein. Am liebsten würde Alejandra de la Rosa den Kredit annullieren, weil hier nichts so läuft, wie es soll. Aber die Frau tut ihr Leid. Sie wird den Ingenieur schicken, der kann vielleicht eine Alternative finden. Sie vertröstet Isabel auf den nächsten Tag.

Colonias Populares
Innerhalb der offiziellen Grenzen von Mexiko-Stadt leben etwa 56 Prozent der Menschen in den Unterschichtquartieren, die in Mexiko „colonias populares“ genannt werden. Feuchte und schimmelige dunkle Ecken, Sanitäranlagen, die manchmal nur aus einem Plastikeimer oder einem Loch in der Erde bestehen, endlos aneinander gereihte, fensterlose Räume: viele der „Selbsthilfe-Bauten“ entstehen ohne Fachkenntnis. Oft auch ohne Fundamente.
Die illegalen Siedlungsgebiete entstehen durch pseudolegalen Landverkauf und werden erst nach einigen Jahren „regularisiert“. Das Spektrum reicht von neueren Squatter-Siedlungen mit höchst prekärer Infrastruktur bis hin zu konsolidierten und inzwischen in die formelle Stadt integrierten Vierteln. Ältere, ehemals am Stadtrand entstandene Siedlungen befinden sich mittlerweile durch das rasante Wachstum im Kernbereich der Stadt.

Mejoramiento de Vivienda
Interessierte BewohnerInnen der „colonias populares“ können einen Kredit für einen Neubau oder einen Ausbau ihres Wohnhauses in Höhe von ca. 30.000 bis maximal 70.000 Pesos (derzeit 2.500 bis 6.500 Euro) beantragen. Das Programm ist zentral gelenkt, jedoch auf „lokaler“ Ebene organisiert, soweit man bei Stadtteilgrößen von bis zu 2 Millionen EinwohnerInnen noch von „lokal“ sprechen kann.
Voraussetzung für eine Bewerbung ist, dass die KreditnehmerInnen oder nahe Verwandte EigentümerInnen des zu bebauenden Grundstücks sind, dies etwa mit einer Kaufurkunde beweisen können und einen bestimmten Monatslohn nachweisen. Der kann auch informell erworben sein, also z.B. als selbstständige(r) StraßenverkäuferIn. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, kann sich jede(r) Volljährige, der/die einen Wählerausweis besitzt, um einen Kredit zur Verbesserung seines/ihres meistens in Eigenregie erstellten Hauses oder um einen Kredit zum Bau eines solchen bewerben. Ob der /die AnwärterIn ins Kreditnehmerprofil passt, entscheidet ein Komitee des INVI, das aus SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und ArchitektInnen besteht. Dort wird auch festgelegt, welche Art Kredit vergeben werden soll: Neu- oder Umbau.
In Zusammenarbeit mit den zugeteilten ArchitektInnen erarbeitet die Kreditnehmerfamilie einen Entwurf für ihr Haus. Falls vorhanden, wird der Bestand aufgenommen, ein Lageplan erstellt und die persönlichen Wünsche der KreditbewerberIn ausführlich diskutiert. In Eigenverantwortung werden HandwerkerInnen mit dem Bau beauftragt – oftmals Verwandte oder Bekannte. Das Programm soll so Impulse für die ortsansässige Bauwirtschaft geben, so lautet zumindest die Absicht. Die ArchitektInnen sind für die Bauüberwachung verantwortlich und zu regelmäßigen Besuchen verpflichtet. Nach Fertigstellung, in der Regel nach etwa 3 Monaten, beginnt die Rückzahlung. Je nach Einkommen zahlen die Familien den Kredit in 4 bis 6 Jahren zurück.

Workshops
Die ArchitektInnen des Büros „Team 3“ geben sich große Mühe,das Interesse der TeilnehmerInnen ihres Workshops für die Inhalte ihres Vortrags zu wecken. Sie sind ausgesprochen wichtig: es geht um Raumaufteilung, Belüftung und Belichtung des Gebäudes, Qualität der Baumaterialen, Handwerkerbezahlung und Buchführung.
Die KreditnehmerInnen sollen das Rüstzeug für die eigenständige Verwaltung und Leitung des Projektes bekommen, schließlich isind sie laut den vom INVI festgelegten Spielregeln höchstselbst verantwortlich, und nicht die ArchitektInnen oder die HandwerkerInnen, wie man annehmen könnte. Letztere stehen zwar gerne beratend zur Seite, verantwortlich für eventuelle Schäden und Fehlentwicklungen sind sie jedoch nicht.
Das Team 3 ist im Auftrag des Workshops „Habitar Construyendo“ (Bauen und Wohnen) der Architektenkammer im Norden der Stadt unterwegs. 60 Mitglieder des Berufsverbandes wollen so den vom INVI festgeschriebenen Arbeitsablauf auf Herz und Nieren prüfen. Daher nimmt man sich diesmal ausgesprochen viel Zeit für den Planungsprozess. Dazu gehören auch die Workshops, die ausnahmsweise direkt im Viertel, auf dem Hauptplatz, abgehalten werden.
Die Ausführlichkeit der Veranstaltung hat Seltenheitswert. Genauso wie die partizipativen Arbeitsmethoden, die Alejandra anwendet: Mit Klebstoff und Schere bewaffnet, stattet die Architektin den KreditnehmerIn Hausbesuche ab, um mit ihnen Modelle zu bauen. Aus Obstkartons oder Papier, eben mit dem, was gerade da ist. So hat sie die Chance, genauer auf die Wünsche ihrer KundInnen eingehen zu können und durch die gemeinsam verbrachte Zeit ihr Vertrauen zu gewinnen. Beim Zurechtschneiden und Platzieren von Wänden, Deckenplatten, Treppen und Stützen bekommen alle Beteiligten ein besseres Gefühl für den geplanten Raum als auf einem Plan. „En miniature“ liefert das Modell eine klare Diskussionsvorlage, und so werden manche bis zu vier Mal überarbeitet, bis vor lauter Klebeflecken kaum mehr etwas zu erkennen ist.

Der Kredit
Mit 7.200 Euro lassen sich ungefähr 45 m2 Rohbau erstellen. Das reicht für Fundamente, Wände aus Betonblöcken mit bewehrten Betonstützen und eine Stahlbetondecke. Die ArchitektInnen legen besonderen Wert darauf, dass ein Bad mit Kloschüssel, Waschbecken und Duschkopf ausgestattet wird. Selten reicht es für Türen und Fenster, Putz und Farbe, Fliesen oder Bodenbelag, dafür muss ein weiterer Kredit aufgenommen werden. Wenn möglich, wird aus eigener Tasche zugezahlt, um den Rohbau überhaupt erst bewohnbar zu machen.
Bei dem Ausbau und Erweitern eines vorhandenen Hauses verzehrt sich der Mikrokredit manchmal allein damit, die Wohnung so würdig und gesundheitsverträglich wie möglich zu machen. Viele der Bauten sind verwinkelt und ungeplant gebaut, so dass die wenigsten Räume ausreichend Licht und Luft haben.

Das Brötchen
Rubén, der als Architekt in dem Projekt arbeitet, hat dem geschätzten maestro, dem Polier, ein Baguettebrötchen mitgebracht. Aber nicht als Pausenvesper. Sondern als anschauliches Beispiel der Deckenbewehrung. Er greift das staubige Brötchen an beiden Enden und bittet den Handwerker, mit 3 Fingern von oben darauf zu drücken. Das Brötchen biegt sich sanft durch. „Fester!“ Das Brötchen reißt. „Und wo ist es gerissen? Oben oder unten?“, fragt der Architekt triumphierend. „Unten natürlich. Dort wird das Brötchen gedehnt. Und wie Beton reagiert das Brötchen auf Spannung empfindlicher als auf Druck. Also: Was müssen wir tun, damit das Brötchen und der Beton nicht reißen? Wir müssen sie bewehren! Wo müssen die Bewehrungseisen hin? Nach unten!“ Kreditnehmer und maestro brummeln zustimmend.
Das Brötchenbeispiel findet Anklang. Rubén hofft, dass es auch seine Wirkung tut, wenn der Handwerker morgen beginnt, die Bewehrung zu verlegen. Zu oft hat er erlebt, welche kreativen Interpretationen die albañiles (Maurer) für den sauber gezeichneten Plan finden. Und das ein maestro in vielen Fällen alles andere als ein Meister seines Berufes ist. Der Umgang mit den Handwerkern ist oft schwierig, da sie manchmal beharrlich auf ihrer fehlerhaften Arbeitsweise bestehen. Vom Architekten lassen sie sich nur ungern Anweisungen geben. Und die KreditnehmerInnen vertrauen oftmals lieber dem eigenmächtig handelnden Handwerker als dem ihnen unbekannten Akademiker, der mit technischem Vokabular um sich schmeißt. Statt großer Worte backt Rubén also bevorzugt kleine Brötchen.

Spiele zur Viertelaufwertung
Daniel klebt einen langen Streifen Kreppband auf den Boden. Die TeilnehmerInnen des „taller participativo“, der so genannten Beteiligungswerkstatt, schauen etwas skeptisch auf den Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation (NGO) COPEVI, der auf Knien durch den Raum rutscht. Sodann müssen alle mit vollem Körpereinsatz Fragen zum Wohnviertel beantworten. „Ist Dein Viertel gefährlich? Ja oder Nein?“ Das Kreppband trennt die Ja- von den Neinsagern. Meistens sind sich alle einig. Keiner steht gerne auf der falschen Seite. Und falls doch, werden die rebellischen, spärlich anwesenden Herren der Schöpfung schnell von ihren Ehefrauen zurück gepfiffen. Ein Hauch Spielshow liegt in der Luft, die Gruppendynamik ist gewaltig.
Die NGO will mit ehemaligen KreditnehmerInnen ein Aktionsprogramm zur Aufbesserung ihres Viertels erarbeiten. Denn wer weiß besser als sie, wo der Schuh drückt? COPEVI gibt, über das Programm „Mejoramiento de Vivienda“ hinaus, Anleitung zur Selbst- und Nachbarschaftshilfe. Mit den Anwesenden werden zuerst die Mängel und Probleme in der Umgebung erläutert, dann wird überlegt, was jede(r) Einzelne zu ihrer Behebung beitragen kann. Und welche Institutionen angesprochen werden müssen, um darin unterstützt zu werden, z.B. die Wasserwerke, das staatliche Elektrizitätsunternehmen oder, unter Vorbehalt, die Polizei. Als der nächste Termin verkündet wird, sehen die TeilnehmerInnen zufrieden aus. Hände werden geschüttelt und es wird betont, dass man kaum erwarten könne, dass es endlich losgeht. Und es habe großen Spaß gemacht.

Masse statt Klasse
Ohne Kredite wird meist nur das Geld in den Bau investiert, das der Familie am Ende des Monats übrig bleibt. Das ist nicht viel, und die Banken verweigern kleine Kredite. Insofern greift das Programm „Mejoramiento de Vivienda“ genau an der richtigen Stelle und trägt trotz der geringen Beträge der Kredite wesentlich zur Verbesserung der Wohnraumversorgung in den „colonias populares“ bei. Die Nachfrage ist groß: Sie stieg von etwa 600 Einzelkrediten 1998 auf 18.600 im Jahr 2003.
Viele ArchitektInnen der Hauptstadt sind arbeitslos. Die Stellen im Programm sind begehrt. 7 Prozent des Kreditvolumens gehen an die ArchitektInnen. Das führt manchmal dazu, dass Einzelne versuchen, so viele Aufträge wie möglich anzunehmen, um sie zur Bearbeitung an „Subunternehmer“ weiterzugeben. Eine Überprüfung seitens des INVI bleibt oft aus. So wird Masse statt Klasse produziert. Auch bei den nach Vorschrift arbeitenden ArchitektInnen und den zahlreichen ArchitekturstudentInnen im Praktikum reicht die Zeit kaum aus, um KreditnehmerInnen und HandwerkerInnen angemessen zu betreuen.
Eine stark schematisierte Arbeitsweise, für die massenhafte Bearbeitung der einzelnen Projekte unabdingbar, lässt wenig Raum für Experimente und die Evaluierung des Erreichten. Die NGOs und die Architektenkammer, die Vordenker von „Mejoramiento de Vivienda“, sind zu Nebendarstellern geworden. Fachlich kompetente, regierungsunabhängige Institutionen oder Stadtteilorganisationen werden bisher nicht beteiligt, könnten aber Qualität und Stabilität sichern.

Populismus
Jahr für Jahr wird evaluiert, welche Wahlbezirke besonders hilfsbedürftig sind. Nach diesen Kriterien werden bestimmte Budgets für unterschiedliche Wohlfahrtsprogramme zugeteilt. Als das Programm noch ein Pilotprojekt war, wurde das Budget allein durch die Nachfrage bestimmt. Die derzeitige Regierung orientiert sich eher an Prinzipien der Planwirtschaft. Die Anzahl der zu vergebenden Kredite in jedem Wahlbezirk wird zu Jahresbeginn festgelegt. Ist die Nachfrage größer als erwartet, wird das Budget gerne publikumswirksam erhöht. Die Zahl der betreuenden ArchitektInnen jedoch nicht. Sie müssen mehr arbeiten.
Ist die Nachfrage kleiner als erwartet, werden die Reste auf weitere, bisher nicht bedachte Wahlbezirke verteilt. Maxime ist dabei die Flächendeckung, nicht die evaluierte Bedürftigkeit.18.600 Kredite: Die Zahl beeindruckt nicht nur die Stadtregierung selbst. Doch ein nicht ganz unwichtiger Aspekt wird ausgespart: Die Rückzahlung der Kredite kommt in keiner Statistik vor. Kleine Geschenke für das richtige Kreuzchen auf dem Wahlzettel?
Ein Machtwechsel könnte das Programm gefährden, da das INVI erst existiert, seit die PRD die Stadtregierung stellt. Wahrscheinlicher ist aber, dass andere Parteien das Programm auch erfolgreich zur Popularitätssteigerung nutzen könnten und daher wahrscheinlich ungern abschaffen würden. Derweil profitiert López Obrador bei seinem Bad in der Menge.

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