Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Lateinamerikanische Alternativen für die Selbstbestimmung über Territorien, Ernährung und Energie
Im Jahr 2023 wurden laut Global Witness weltweit 196 Land- und Umweltschützer*innen ermordet, 166 davon in Lateinamerika. Damit ist die Region für diese Gruppe von Aktivist*innen wieder die tödlichste weltweit. Kolumbien verzeichnete die höchste Zahl an Morden – mit einem Rekord von 79 getöteten Umweltschützer*innen im vergangenen Jahr, gefolgt von Brasilien, Mexiko und Honduras. Die seit 2012 erhobenen Daten zeigen, dass diese Morde häufig im Zusammenhang mit der Rohstoffförderung und dem Agrobusiness stehen. Darüber hinaus hat die Region die ungerechteste Landverteilung der Welt: 51,19 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen befinden sich in den Händen von nur einem Prozent der Eigentümer*innen.
Diese alarmierenden Zahlen verdeutlichen die Herausforderungen für eine sozial-ökologische Transformation, mit denen die Bevölkerung der Region infolge des Vordringens des extraktivistischen Kapitalismus und des grünen Kolonialismus (siehe Kasten Seite 21) konfrontiert ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, das tragische Erbe und die Reproduktion des Kolonialismus, der Versklavung, der zivil-militärischen Diktaturen, des Neoliberalismus und der aktuellen Finanzialisierung zu berücksichtigen, wenn es um eine gerechte Energiewende geht. Genauso wichtig ist es, den historischen Widerstand von Frauen, Schwarzen, Indigenen und traditionellen Gemeinschaften gegen die Bedrohung ihrer Territorien sowie den Widerstand von Arbeiter*innen in verschiedenen politischen Räumen mitzudenken.
Fest steht: Eine sozial-ökologische Transformation ist unabdingbar. Die Frage ist, wie diese aussehen könnte. Die kolumbianische Anthropologin Astrid Ulloa unterteilt aktuell zu beobachtende Strategien der Energietransformation in zwei Kategorien: Die institutionalisierten Transformationen werden auf Basis von internationalen Abkommen von Regierungen und Unternehmen vorangetrieben. Sie zielen auf die Dekarbonisierung und die gewinnbringende Erzeugung erneuerbarer Energien ab, stellen aber den industriellen Extraktivismus nicht in Frage, sondern suchen nach Möglichkeiten, ihn zu erweitern und seine Auswirkungen zu kompensieren.
Gerechtigkeit steht im Vordergrund
Soziale Transformationen dagegen gehen von Organisationen und Bewegungen aus, die den Klimawandel bekämpfen wollen und den extraktivistischen Kapitalismus kritisieren. Sie schlagen verschiedene Lösungen vor: Zum Beispiel sollen fossile Brennstoffe im Boden gelassen, Energie dezentral erzeugt und Energieautonomie erzielt werden. Dabei stehen Konzepte wie Umwelt- und territoriale Gerechtigkeit im Vordergrund, die sich verschärfende Ungleichheiten in Bezug auf Klasse, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit mitdenken.
Eine soziale Transformation und damit eine Form der Verteidigung von Territorien und Gemeinschaftsgütern ist die Agrarökologie. Als Wissenschaft, Praxis und soziale Bewegung ist sie eine Antwort auf Agrobusiness, Umweltverbrechen, ungleiche Landnutzung, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Gewalt gegen Frauen. Sie ist antirassistisch und antipatriarchal und versucht, gerechtere Beziehungen aufzubauen, um Hunger und Klimawandel zu bewältigen.
In der Lateinamerikanischen Koordination ländlicher Organisationen (CLOC-Via Campesina) haben sich Dutzende von bäuerlichen und Landlosenbewegungen zusammengeschlossen. Seit Anfang der 90er Jahre bringt die Vereinigung das Prinzip der Ernährungssouveränität als Alternative zur neoliberalen Politik auf die Tagesordnung. Später haben Frauenorganisationen das Prinzip um einen bäuerlichen und populären Feminismus ergänzt. Pancha Rodríguez von der chilenischen Nationalen Vereinigung der Landfrauen und Indigenen (ANAMURI) erklärt auf der feministischen Online-Plattform Capire: „Die Ernährungssouveränität hat uns unsere Identität zurückgegeben, denn sie beruht auf der Anerkennung der Geschichte der Frauen, die das Saatgut entdeckt und gepflegt haben.“
Zu den Organisationen der CLOC gehört auch die brasilianische Bewegung der Landlosen (MST), die sich seit 40 Jahren für eine Agrarreform einsetzt und die Nahrungsmittel- und Energiesouveränität stets in den Mittelpunkt ihres Kampfes gestellt hat. In den vergangenen Jahren ist die Debatte über erneuerbare Energien zu einem zentralen Thema der Bewegung geworden. Für den MST muss die Energieerzeugung an die verschiedenen Biome und Ökosysteme Brasiliens angepasst werden, indem geeignete Technologien eingesetzt werden, die den Zugang zu Energie für die Nahrungsmittelproduktion, den privaten Gebrauch und den Bedarf kollektiver Räume wie Gesundheitszentren und Schulen gewährleisten.
Ein Beispiel dafür ist die Gemeinschaftsschule Rosa Luxemburgo im Landesinneren vom Bundesstaat São Paulo, in der Wissensaustausch stattfindet und verschiedene Sozialtechniken (Ansätze, um Effizienz, Produktivität und Wohlbefinden in Organisationen und Gemeinschaften zu verbessern, Anm. d. Red.) erlernt werden. Dazu gehört die Solarenergie, an deren Produktion die dort lebenden Bäuer*innen beteiligt und einbezogen werden. Die MST-Aktivistin Lisbet Julca betont: „Öffentliche Maßnahmen, die die Beteiligung der Bevölkerung gewährleisten, sind für die Stärkung von Prozessen der Umweltgerechtigkeit und für den Abbau von Ungleichheiten unerlässlich.“
Diese Vorschläge werden auch von der brasilianischen Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB) unterstützt. Die Bewegung arbeitet seit Jahren am Aufbau eines gemeinschaftlichen Energieprojekts, das auf den Prinzipien Souveränität, Reichtumsverteilung und Kontrolle durch die Gemeinden beruht.
Im Jahr 2024 haben mehr als 30 zivilgesellschaftliche Organisationen und Indigene Gemeinschaften im Nordosten Brasiliens ein Dokument unter dem Titel „Soziale und ökologische Schutzmaßnahmen für erneuerbare Energien“ veröffentlicht. Die Herausgeber*innen zeigen darin die Widersprüche bei der Umsetzung großer Wind- und Solarenergieprojekte auf: Obwohl diese behaupteten, eine saubere Energiequelle zu sein, würden sie die biologische Vielfalt und traditionelle Lebensweisen beeinträchtigen. Dagegen schlagen die Organisationen 100 juristische, administrative und politische Maßnahmen vor. Zu den Empfehlungen gehören die kumulative Folgenabschätzungen der Projekte und der Einsatz sozialer Kartographie, also von Karten, die in Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften erstellt werden. Außerdem fordern sie, dass die Land-nutzungsverträge für die Energieerzeugung ihre soziale Funktion erfüllen und kollektive Interessen gewährleisten müssen. Dokumente wie diese sind wichtig, da sie konkrete Forderungen formulieren, die von Regierungen und Unternehmen unmittelbar umgesetzt werden könnten.
Mehrheit stimmte gegen Ölförderung im Yasuní
Einer der symbolträchtigsten Kämpfe der sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist zweifellos die Volksabstimmung zum Yasuní-Nationalpark in Ecuador. Im August 2023 stimmten 59 Prozent der Bevölkerung dafür, die Ölförderung im Yasuní zu stoppen (siehe LN 605). Das ist der Beginn eines bedeutenden Prozesses, um Ölbohrungen an 225 Stellen einer der artenreichsten Regionen der Welt zu beenden, die dazu errichteten Anlagen abzubauen und die verursachten Schäden zu beheben. Esperanza Martínez von der Umweltorganisation Acción Ecológica betont in einem Bericht der weltweiten Regenwaldbewegung (Movimento Mundial pelas Florestas Tropicais): „Für die unvermeidlichen Transformationen müssen wir nicht nur die Grenzen der Förderung, sondern auch die Wiederherstellung der Opfergebiete auf die Tagesordnung setzen. Es ist ein Kampf um die Zukunft und um den Wiederaufbau dessen, was bereits beschädigt wurde.“
Erwähnenswert ist auch die brasilianische Kampagne „Not one more well“, die seit 2014 verschiedene Kollektive, soziale Bewegungen, kirchliche Organisationen und Netzwerke wie Oilwatch zusammenbringt. Die Kampagne will die Politik mit dem Ziel beeinflussen, eine von Erdöl unabhängige Zivilisation aufzubauen, um die Klimakrise und ihre ungleichen Folgen zu bewältigen. Die Vereinigung weist darauf hin, dass „die Energiewende nur dann möglich und real ist, wenn Territorien rechtlich abgesichert werden, eine Agrarreform durchgeführt wird und die Menschenrechte und die Natur geschützt werden.“ Um gerecht zu sein, könne „der Übergang nicht von denselben Unternehmen durchgeführt werden, die die Klimakrise verursachen und den Umweltrassismus fördern.“
Dekarbonisierung mit einem kollektiven Gesellschaftsprojekt verbinden
Die Kampagne wird auch von Organisationen unterstützt, die sich 2018 im lateinamerikanischen Netzwerk für Energie und Macht von unten (Red de Energía y Poder Popular en América Latina) zusammengeschlossen haben. Das Netzwerk analysiert die Energieszenarien in der Region und beobachtet die Umsetzung der sogenannten Energiewende. In diesem Prozess des Austauschs und der Reflexion haben Organisationen und Bewegungen aus Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko und Uruguay darauf hingewiesen, dass der Ausbau von Bergbauprojekten für Lithium, Nickel und seltene Erden und Energieprojekte für Windkraft oder grünen Wasserstoff die neokolonialen Strukturen der Abhängigkeit und Unterordnung in der Region aufrechterhalten. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen hin zur Elektrifizierung der Wirtschaft müsse mit einer Änderung der Konsumgewohnheiten und der Nutzung des städtischen Raums einhergehen. So lässt sich Dekarbonisierung mit einem gesellschaftlichen Projekt verbinden, das elektrischem, öffentlichem Nahverkehr und der Verbesserung der städtischen Mobilität Vorrang einräumt – statt dem Markt für private Elektrofahrzeuge.
Der „gerechte Übergang“ darf sich weder auf einen einfachen Wechsel der Energiequellen beschränken, noch darf er Modelle wiederholen, die Unternehmensgewinne auf Kosten lokaler Gemeinschaften und der Umwelt priorisieren. Er darf auch nicht Umweltkonflikte sowie den Kampf um Land im Globalen Süden verschärfen. Stattdessen ist es notwendig, sich in Richtung eines Post-Extraktivismus zu bewegen, für den es bereits viele kollektiv erarbeitete Vorschläge gibt. Diese müssen von verbündeten Organisationen, vor allem im Globalen Norden, gewürdigt, unterstützt und weiterverbreitet werden. In vielen Fällen ist die Garantie von Land und Territorium für Indigene Völker und traditionelle Gemeinschaften, Bäuer*innen und für die Bevölkerung in den Peripherien der Städte die Voraussetzung für einen guten Schritt in die richtige Richtung.
Elis Soldatelli ist Koordinatorin des RLS-Klimaprogramms in Lateinamerika.
WER ÜBER VERÄNDERUNG SPRICHT, IST ENTSCHEIDEND
Verschiedene Konzepte dienen zur Orientierung für die Becchreibung des gesellschaftlichen und politischen Wandels, der notwendig ist, um die aktuellen Probleme und Herausforderungen der Welt anzugehen. Zwei Begriffe, die im Kontext der zivilisatorischen Krise und dem damit einhergehenden Umweltkollaps zunehmend Verwendung finden, sind zum einen die sozialökologische Transformation und zum anderen der gerechte Übergang (letzteres Konzept ist jedoch viel bekannter im Englischen als just transition oder im Spanischen als transición justa). Beide beziehen sich auf eine tiefgreifende Veränderung unserer Wirtschafts- und Energiesysteme, die soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung vereint. Die sozialökologische Transformation untersucht als systemkritisches, akademisches Konzept Wechselwirkungen zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialen Strukturen und schlägt Alternativen auf der Makroebene vor. Sie legt den Fokus darauf, dass Gesellschaften ihr Produktions- und Konsummodell grundsätzlich neu ausrichten müssen, um im Einklang mit den planetaren Grenzen zu leben.
Unter transición justa hingegen wird ein praxisnäheres, etwas spezifischeres Beteiligungskonzept verstanden, welches auf die Interessen von Arbeiter*innen umweltbelastender Sektoren und Gemeinden, die direkt von der Klimakatastrophe betroffen sind, ausgerichtet ist. Hierbei geht es meist um konkrete Übergangsmaßnahmen in spezifischen lokalen Kontexten. Wird transición justa von Arbeiter*innen und Gemeinden gefordert, stehen demokratische Beteiligung, grundlegende Veränderung und das Schmieden von Bündnissen meist im Fokus. Jedoch wird der Ansatz, wie auch häufig bei anderen Konzepten, teilweise von Unternehmen oder Politiker*innen angeeignet und in der Praxis zu einer Scheinbeteiligung verwässert, um den Protest gegen Ausbeutung und Umweltzerstörung zu schwächen.
// Johanna Fuchs