Musik | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

“Weil ich Teil dieser Geschichte bin”

Interview mit dem Sänger der chilenischen Gruppe Illapu, José-Miguel Márquez

Antje Krüger

Schon lange bevor das Konzert losgeht, spüre ich ein Vibrieren in der Luft. Eine fröhliche Spannung nimmt sich meiner an. Bald schon sieht man nicht mehr einzeln zusammenstehende Grüppchen, sondern eine wogende Menschenmasse. Überall Gelächter. Teenager haben sich herausgemacht und lassen erwartungsvoll ihre Blicke umherschweifen. Eine Omi neben mir hakt sich bei ihrem Enkel unter. Und ein kleiner Junge spielt Verstecken zwischen den Beinen der Großen. Ich bin erstaunt über dieses Miteinander von Jung und Alt, was ich aus Deutschland nicht kenne.
Plötzlich geht ein Ruck durch die Menge. Trommelrhythmen erklingen, und auf die große, abgedunkelte Bühne treten nacheinander die Musiker von Illapu. Es dauert Minuten, bis sich ihr erstes Lied gegen den tosenden Beifall, das Klatschen, die Sprechchöre und die Zurufe durchsetzen kann.
Zu den Konzerten der Gruppe Illapu strömen in ganz Chile jedes Mal tausende von Menschen. Ihre Lieder kann man an jeder Straßenecke hören. Die Musik von Illapu ist eine mitreißende Mischung aus chilenischer Folklore mit ihren typischen Instrumenten Quena (Flöte), Charango (Saiteninstrument) und Panflöte und modernen Elementen. Sie kennt ausgelassene Töne genauso wie Trauer und Nachdenklichkeit.
Seit Illapu sich Anfang der 70-er Jahre gegründet haben, sind sie ein Symbol für aufrechte Haltung geworden. Sie sprechen die Probleme an, die sonst ignoriert werden, besingen ihre Liebe zu Chile und schrecken vor allem nicht davor zurück, immer wieder auf die nach wie vor nicht gesühnten Verbrechen der jüngsten Vergangenheit des Landes aufmerksam zu machen, deren Opfer sie selbst geworden sind. Die Gruppe verbrachte mehr als zehn Jahre im französischen Exil, weil sie Chile nicht mehr betreten durfte.
In einem Interview sprach José-Miguel Márquez, einer der Márquez-Brüder, die Illapu ins Leben gerufen haben, über seine Erfahrungen während der Diktatur und im Exil und vor allem über die kulturelle Entwicklung im heutigen Chile.

Illapu gibt es seit 1971. Warum spielt ihr andine Folklore?

Seit Anfang der 70-er Jahre gibt es in Chile eine musikalische Bewegung, die “Nueva Canción Chilena”, deren Hauptanliegen die Folklore und die Suche nach unserer nationalen Identität war. Unter Allende entstanden viele Programme zur Entwicklung unserer Kultur. Diese Bewegung war für unseren Weg ausschlaggebend.

Habt ihr deshalb Chile verlassen müssen? Eure alten Lieder sind doch überwiegend rein traditionell. Reichte es denn schon aus, als Gruppe in der Allendezeit entstanden zu sein und sich in der Bewegung “Nueva Canción Chilena” engagiert zu haben?

Wir sind die letzte Gruppe, die in diese Bewegung eingetreten ist. Das war unter der Diktatur schon gefährlich. Der Grund, weshalb wir aber ins Exil mußten, waren die vielen Solidaritätskonzerte, die wir für Organisationen der Pobladores (Vereinigungen in Armenvierteln), die Essensstellen für Kinder), die Arbeitslosenvereinigungen oder der Vereinigung für verschwundene Gefangene gegeben haben. Wir waren unter der Diktatur Opposition.

Ihr seid also nicht sofort nach dem Putsch ins Ausland gegangen?

Nein, aber wir mußten erstmal eine Zwangspause machen. Ein Jahr nach dem Putsch, ab Ende 1974, traten wir als Illapu wieder in Santiago auf. Als wir 1980 von einer Europatournee nach Chile zurückkamen, wurden wir am Flughafen verhaftet und innerhalb von drei Stunden ausgewiesen und zwar als Gruppe und als Einzelpersonen. Das bedeutete, daß keiner von uns zurück konnte, auch wenn er nicht mehr zur Gruppe gehörte.

Welche Macht hatte denn ein Lied? Konnte es Pinochet wirklich gefährlich werden?

Viele Lieder klagten an, was in Chile passierte. Das wichtigste war, die Musik und die Instrumente wie das Charango oder die Quena am Leben zu erhalten, denn sie waren nach dem Putsch verboten worden. Sie erinnerten zu sehr an die Zeit unter Allende. Was die Militärs aber am meisten störte, waren die Solidaritätskonzerte, weil hier die Menschen anfingen, ihre Angst zu verlieren und sich wieder trafen und versammelten.

Und wie sieht es heute aus?

Lieder sind auch heute noch sehr wichtig. Sie sprechen von den vielen Problemen wie der Armut, wo die Verschwundenen sind, der Zensur, den Drogen usw., für die immer noch keine Antworten oder Lösungen gefunden wurden.

Was geschah mit dem offiziellen kulturellen Leben unter Pinochet? Erstarb es?

Bis 1976 erlebten wir unter Pinochet den sogenannten kulturellen Stromausfall. Es waren die schweren Jahre, und viele Künstler hatten Angst. Aber ab Mitte 1976 erschienen, zunächst nur schüchtern, verschiedene Gruppen und SolistInnen und begannen, wieder aktiv zu werden. Es eröffneten einige Peñas, und ein Lied von uns, “Cadombe para José”, das Ende 1975 aufgenommen wurde, kam auf Platz eins in den “Charts”. Es war das erste Mal, daß wir vom Fernsehen eingeladen wurden. Dieses Lied und unsere Gruppe selbst motivierten viele KünstlerInnen, und es entstand eine neue Bewegung. Zuerst hieß sie “Boom de la Música Andina”, später dann “Canto Nuevo”. Außerdem wurde die Plattenfirma “Alerce” gegründet, die viele dieser neuen Gruppen veröffentlichte. Die Radiostationen, vor allem Radio Chilena mit seiner Sendung “Nuestro Canto” (Unser Gesang), fingen wieder an, unsere Musik zu spielen.

“Kultureller Stromausfall”

Es war eine Form alternativen Lebens innerhalb der Möglichkeiten, die die Junta bot. Dieses Leben spielte sich vor allem in Theatern und Konzertsälen ab und wurde in der Presse veröffentlicht. Die Gruppen waren große Könner. Nur so konnten sie die Freiräume nutzen und für sich vereinnahmen, die noch nicht verboten waren. Man mußte sehr aufpassen, mit dem, was man sagte und sehr gewitzt sein.

Wart ihr auf der “Schwarzen Liste”, vermerkt?

Ja, seit 1978 standen wir auf der Schwarzen Liste. Das bedeutete, daß man nicht im Fernsehen auftreten durfte, daß die Radiosender unsere Lieder nicht sendeten, daß man keine Verträge abschließen konnte und daß man, um Konzerte durchführen zu können, eine spezielle Erlaubnis der Polizei benötigte.

Warum seid ihr ausgerechnet nach Frankreich gegangen?

Wir kamen gerade aus Paris, als wir ausgewiesen wurden. Dort hatten wir auch Freunde und Bekannte. Außerdem glaubten wir, in Frankreich gute Entwicklungsmöglichkeiten zu haben.

Wie wurdet ihr dort empfangen? Interessierte man sich in Frankreich für eure Musik und euer Schicksal? Half man euch? Gab es Solidaritätsbewegungen?

Naja, man hat uns Asyl gegeben, und das war für uns schon sehr viel. Unsere Freunde, egal ob FranzösInnen oder andere ChilenInnen im Exil, haben uns sehr geholfen. Unsere Musik wurde gut angenommen, aber es kostete viel Arbeit, sich einen Platz zu verschaffen. Unser Asylstatus war dabei nicht das Entscheidende, sondern die Qualität der Musik.

Welchen Einfluß hatte die Zeit im Exil auf eure Musik?

Der europäische Einfluß auf unsere Musik war nicht groß. Wir wollten nach Chile zurück, identifizierten uns noch stärker mit unserem Land. Unsere Lieder waren für Chile gedacht. Aber die Konfrontation mit dieser anderen Kultur hat uns veranlaßt, unserer Musik einen modernen Klang zu geben.

Ja, das hört man. Ihr verwendet immer noch so wie früher typisch
lateinamerikanische Instrumente, Rhythmen und Melodien, greift aber verstärkt auch zu Elementen aus dem Rock und anderen Stilen. Warum eigentlich?

Das hat mit unserem persönlichen Geschmack als Komponisten zu tun. Wir wollten unseren eigenen Klang entwickeln. Folklore ja, aber von uns gemacht, beeinflußt vom alltäglichen modernen Leben. Vielleicht wird die Musik, die wir heute machen, die Folklore von morgen sein.

Sind Lieder oder Kassetten von euch bis nach Chile vorgedrungen? Wußten die Menschen, daß ihr weiterspielt und öffentlich macht, was in Chile passiert?

Viele unserer Auftritte wurden in Chile bekannt. Unsere Platten und Kassetten konnte man fast täglich hören, Videos wurden kopiert. Zwar durfte das Radio uns nicht senden, aber in Peñas, Clubs und in Versammlungen in Armutsvierteln wurden unsere Lieder gespielt.

Nach so vielen Jahren und einer so tiefgreifenden Erfahrung hat sich Chile sicherlich geändert. Welche drei Veränderungen sind dir am meisten aufgefallen?

Chile erlebte unter Pinochet eine bedeutenden ökonomischen Aufschwung. Aber der Preis dafür waren der Ausverkauf der nationalen Industrie und fast vier Millionen. Arme, viele Verschwundene und Arbeitslose. Chile wurde zu einem Versuchslabor.

Folklore von morgen

Zum zweiten gibt es eine große Selbstzensur und Selbstbeschränkung der Menschen und einen Verlust an Solidarität.
Und was mich drittens sehr bedrückt, sind die Probleme mit Drogen und Alkohol. Und auch, daß die jungen Leute an Politik kein Interesse mehr haben.

Heute hört man kaum noch etwas von Gruppen wie Inti Illimani oder Quilapayún, die vor der Diktatur ja bekannter und bedeutender waren als ihr. Wie erklärst du dir das?

Quilapayún sind in Frankreich geblieben und hier kaum noch bekannt. Inti Illimani leben in Chile, aber machen viele Tourneen im Ausland. Ich denke, sie haben nicht wieder die richtige Verbindung zu den Leuten in Chile gefunden. Mit den Themen ihrer Lieder können sich die Jugendlichen von heute nicht identifizieren. Deshalb haben sie nicht den Platz erreicht, den sie in Chile verdient hätten.

Es scheint, als habe sich die Folklore, die unter Allende ja eine so herausragende Rolle spielte, wieder verloren.

Folklore hat heute nur wenig Einfluß auf das tägliche Leben. Die Massenmedien folgen dem “freien Markt”. Die Charts und cool zu sein ist wichtiger als Kultur. In vielen TV-Programmen sieht man ein Chile, das nichts mit der Realität zu tun hat. Musikläden führen keine Folklore, da sich ihrer Meinung nach diese Musik nicht verkauft. Heute ist fast nichts mehr vom kulturellen Leben unter Allende übrig, weil niemand in Kulturhäuser, Clubs, Plattenfirmen, in unsere Kultur investiert. Chile verliert nicht nur seine Folklore, sondern seine Identität.

In eurem Konzert sah ich vom Baby bis zur Oma einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten. Die Mehrheit waren aber Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die ja die Diktatur nicht mehr miterlebt haben. Wie erklärst du dir diese “Fans”?

Das hat mit unserer Haltung zu tun. Wir stehen vielen Dingen kritisch gegenüber und versuchen, die Gedanken der Jugendlichen in unsere Texte miteinzubeziehen. Die Jugendlichen finden, daß wir uns in vielen Sachen einig sind. Sie identifizieren sich mit unseren Liedern.

Habt ihr heute noch irgendwelche Probleme mit offizieller oder inoffizieller Zensur?

Es existiert noch eine starke Zensur in den Köpfen der Menschen. Aber auch in den Medien. Es gibt den Nationalen Fernsehrat, der damit beschäftigt ist, was das Fernsehen so zeigt. Dann gibt es noch den Nationalen Kinorat, der auch ein Element der Zensur ist. Gerade beschloß ein Gericht, in Chile den Film “Die letzte Versuchung Christi” zu verbieten. Sie zensieren Viedeoclips, Lieder, Fernsehspots über Aids, Kabelfernsehen und, und, und. Wir sind noch weit ab von einer wirklichen Meinungsfreiheit.

Vermißt du irgendetwas aus Deutschland oder Frankreich? Besitzt die europäische Kultur etwas, was du gerne mitgenommen hättest?

Es würde mir gefallen, wenn in Chile eine bessere, gesündere Beziehung zwischen den Menschen entstehen würde, weniger Lügen, weniger Zensur, weniger Vorurteile, weniger Komplexe, weniger Neid. Daß wir eine wirkliche Freiheit hätten, mehr Bildung, bessere medizinische Versorgung, eine größere kulturelle Entwicklung. Daß der Unterschied zwischen arm und reich nicht mehr der zwischen sterben und leben ist. Ich denke, daß vieles von dem in Europa existiert, und ich vermisse das sehr.

CD-Tips: Illapu: “En estos días”, “Multitudes”

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