Gesundheit | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Weiß ist der Tod

Gesundheitspolitik und indigene Alternativen in Chile

Seit kurzem gibt es in Chile Versuche, auf die Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung im Gesundheitsbereich einzugehen. Einzelne Initiativen sollen westliche Schulmedizin und traditionelle Heilmethoden zusammenbringen. Jedoch scheint eine generelle Anerkennung von indigenen Krankheits- und Heilungskonzepten noch in weiter Ferne zu liegen.

Tanja Rother

Paula*, die Tochter von Don Manuel*, Mapuche und Kleinbauer am Lago Budi in der neunten Region Chiles, ist seit ihrem neunten Lebensjahr krank. Über zehn Jahre wurde die heutige Studentin im Krankenhaus von Puerto Saavedra behandelt: ohne spürbaren Erfolg. „Wenn sie einmal im Monat von der abgelegenen Insel ins Krankenhaus fuhr, haben sie Paula sowieso nur Schmerzmittel gegeben”, erzählt Don Manuel. Gleichzeitig räumt er ein: „Natürlich haben die Ärzte ihr Wissen, aber sie sind immer sehr fern gewesen und das nicht nur, weil sie kein Wort mapudungun sprechen.” Sie wüssten nichts über die Mapuchetraditionen und an die Kenntnisse einer meica, einer Heilerin aus der comunidad, reichten sie in keinem Fall heran. Wenn sie jemanden nicht leiden können, würden die Ärzte manchmal nur noch mehr Schaden anrichten. Don Manuel und seine Frau glauben deshalb nicht mehr an die Behandlung im Krankenhaus. Einige aus der comunidad gehen dort zwar hin, sie aber schicken ihre Tochter nur noch zu einer meica, durch deren Hilfe es ihr heute deutlich besser geht.
Die Mapuche in ländlichen Regionen wie der am Lago Budi haben die nicht ganz selbstbestimmte Qual der Wahl zwischen gleich drei verschiedenen Gesundheitssystemen. Unter den verschiedenen Akteuren steht die meica gewissermaßen zwischen der Mapuchetradition und der westlichen Schulmedizin, da sie sich sowohl der allgemeinen bäuerlichen Heilpraktiken als auch der traditionellen Methoden der Mapuche bedient. Im Gegensatz zu den meica folgen die meistens weiblichen machi einer Berufung und sind als Schamanen der Tradition der Mapuche und ausschließlich ihren Konzepten von Krankheit und Heilung verpflichtet. Ihre Fähigkeit, mit den Geistern der Vorfahren und anderen guten und bösen Kräften Kontakt aufzunehmen, verschafft den machi Respekt und Autorität, denn nach Auffassung der Mapuche hängt von ihnen das Wohl des Einzelnen sowie der Gemeinschaft ab. Wie viele indigene Völker glauben auch die Mapuche, dass Krankheit und Tod nicht durch natürliche Ursachen ausgelöst werden und nicht nur den Kranken selbst, sondern immer auch die Gemeinschaft und ihr Handeln betreffen.
Nachdem die traditionelle politische Organisation der Mapuche durch die Dominanz des chilenischen Staates weitgehend verloren gegangen ist, vertritt die machi heute oftmals ihre Dorfgemeinschaft nach außen und gehört damit zu den wichtigsten Personen in der Kultur der Mapuche. Die Einführung der westlichen Schulmedizin in die Mapuchekultur hat demnach nicht zwangsläufig zu einem Verschwinden der traditionellen Heilmethoden geführt. Die zahlreichen Versuche von Seiten der staatlichen Gesundheitspolitik, die Arbeit der machi zu verbieten und sie als Scharlatanerie zu diskreditieren, haben jedoch ihrem Image geschadet, so dass sie heute in starker Konkurrenz zu den Einrichtungen des öffentlichen chilenischen Gesundheitssystems steht.

Götter in weiß?

Abgesehen davon, dass viele Mapuche durch die anhaltende Diskriminierung in der chilenischen Gesellschaft mehr oder weniger freiwillig Abstand zur eigenen Kultur gewinnen wollen, bringen sie vor allem ökonomische Gründe und weniger der fehlende Glaube an die Mapuchetradition dazu, eher die Dienste des staatlichen Gesundheitswesens in Anspruch zu nehmen. Denn eine Behandlung bei der machi ist ungleich teurer. Nur wer es sich leisten kann, wählt je nach Beschwerden zwischen machi, meica und Arzt.
Allerdings zeigen sich, wie Don Manuel, immer mehr Mapuche unzufrieden über die Bedingungen, denen sie sich in lokalen Gesundheitsstationen und in den Krankenhäusern der Städte aussetzen müssen. Die Statistik beweist die gravierenden Qualitätsunterschiede der Gesundheitsversorgung zwischen Stadt und Land. In abgelegenen Orten wie Puerto Saavedra in der neunten Region liegt beispielsweise die Säuglingssterblichkeit bei 42,2 von tausend Neugeborenen, in der Kommune Vitacura in Santiago dagegen bei nur 2,6. Die Mapuche wie auch die anderen indigenen Gruppen Chiles, Aymara, Atacameños, Colla, Rapa Nui, Kawashkar und Yagana, gehören auf dem Land und in der Stadt zu den 25 Prozent der Armen innerhalb der chilenischen Gesellschaft. Als Einkommensschwache haben sie, wenn überhaupt, nur Zugang zur staatlichen Krankenversicherung FONASA, deren Leistungen mit langen Wartezeiten, mangelnder technischer und personeller Ausstattung und schlechter Erreichbarkeit verbunden sind.
Zu diesen miserablen Bedingungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung kommt für die indigene Bevölkerung das Problem des kulturellen Verständnisses. Mapuchefrauen entbinden zunehmend im Krankenhaus, weil sie dies für weniger gefährlich halten, haben aber eine skeptische bis ablehnende Haltung, was die Art der Behandlung angeht. Dass die Räume kühl sind, sie mit kaltem Wasser gewaschen werden und die verwendeten Geräte und Instrumente kalt sind, hinterlässt bei den Frauen große Verunsicherung, denn all dies widerspricht ihren traditionellen Vorstellungen. Nach diesen ist die Entbindung ein warmer Vorgang und der Kontakt zu „kalten“ Dingen eine Gefahr für die Gesundheit von Mutter und Kind. Ebenso glauben sie, dass die Plazenta wertvolle Informationen über die Zukunft des Neugeborenen enthält und deshalb sorgfältig bewahrt und untersucht werden muss. Während sie im Krankenhaus gleich entsorgt wird. Außerdem ist weiß – die vorherrschende Farbe in den meisten Gesundheitseinrichtungen – bei den Mapuche im Zusammenhang mit Krankheit ein Symbol für bestimmte, in der Nacht aktive Geister, den wekufe, und wird deshalb negativ bewertet.

Interkulturalität als Alternative

Um diesen Widersprüchen etwas entgegenzusetzen und sie überhaupt erst einmal in die öffentliche Wahrnehmung zu bringen, gibt es neuerdings in Chile verschiedene Initiativen. Das Krankenhaus von Makewe in der Nähe von Temuko ist mit Sicherheit die berühmteste und gefeiertste unter diesen Alternativen, die aus einer interkulturellen Perspektive heraus das Angebot im Gesundheitsbereich für die lokale Bevölkerung verbessern wollen.
Interkulturalität ist ein Schlagwort vielfältiger Definitionen, das auch im Zusammenhang mit indigenen Grundbedürfnissen gegenwärtig eine hohe Konjunktur in Chile hat. In Makewe bestimmt seit März 1999 die Asociación Indígena para la Salud Makewe-Pelale (Indigene Vereinigung für Gesundheit Makewe-Pelale), was das konkret heißt. Das erste interkulturelle Krankenhaus Chiles ist ein Angebot an etwa 20.000 Menschen der umliegenden Gemeinden Padre Las Casas, Temuko, Freire und Imperial, von denen achtzig Prozent Mapuche sind. In den verschiedenen Programmen der Einrichtung, die an die üblichen Erwachsenen-, Frauen-, Drogen- und Kinderprogramme der durchschnittlichen Krankenhäuser des Landes anknüpfen, wird das Wissen der Mapuche und ihrer Spezialisten einbezogen und durch die westliche Schulmedizin ergänzt.
Die kulturelle Logik der Mapuche steht jedoch im Vordergrund. Greifbar wird dies im nielukuyfikekimün, dem Rat der Wissenden, in dem sich eine Reihe von Mapuche, die meisten über 65, zusammengefunden haben, um die „Indigene Vereinigung für Gesundheit” und die technische Leitung des Krankenhauses zu beraten. Außerdem wurde die innere Gestaltung des Krankenhauses an die Bedürfnisse der Mapuche angepasst, das heißt es wurden zweisprachige Hinweisschilder angebracht, Informationsmaterialien in Spanisch und Mapudungun erarbeitet. Weiße Kleidung ist bei den Angestellten Tabu und vor dem Beginn der Behandlung gibt es ein Gespräch zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn, in dem es um allgemeine Themen geht. Nachdem ein erstes Vertrauen geschaffen ist, kann eine Anamnese durchgeführt werden. Bei dieser und allen anderen Vorgängen im Krankenhaus sind so genannte paramedizinische Hilfskräfte dabei, die als Mapuche sowohl Kenntnisse über die westliche als auch über die traditionelle Medizin haben und die unter anderem die Aufgabe haben, den PatientInnen jeden einzelnen Schritt ihrer Behandlung zu erklären. Auf Wunsch werden eine machi oder ein anderer Heiler ins Krankenhaus bestellt oder die PatientInnen zu ihnen gebracht.
Offen bleibt jedoch bei diesem wohlklingenden Beispiel für einen Wandel in der chilenischen Gesundheitspolitik zu Gunsten der indigenen Bevölkerung, ob auch langfristig Gelder von der regionalen Vertretung des Gesundheitsministeriums in das Projekt fließen werden.

Machi in Santiago

Obwohl sich die staatliche Unterstützung der indigenen Bevölkerung zum großen Teil auf den ländlichen Raum beschränkt, gibt es seit 1996 im städtischen Krankenhaus von Temuko, einem riesigen, hässlichen Hochhaus an der Schnellstraße inmitten der Stadt, so genannte interkulturelle VermittlerInnen (facilitadores interculturales). Das sind Mapuche, die ihre Sprache beherrschen und ihre traditionelle Kultur kennen und so auf Kommunikationsprobleme direkt einwirken sollen, um ein ausgewogeneres Miteinander von PatientInnen und ÄrztInnen zu fördern. Es wurde bereits erreicht, dass die Betten der PatientInnen nicht mehr Richtung Westen ausgerichtet werden, denn daher kommt nach dem Glauben der Mapuche der Tod und die Krankheit.
Vor dieser Initiative war es für die Ärzte unerklärlich, wenn einige ihrer Patienten über Nacht ihre Lage verändert hatten. Ohne dass es ihnen auffiel, hatten sie sich immer gen Osten gebettet, der Richtung, mit der Leben und Gesundheit assoziiert wird.
Diese Einsicht sei zwar noch nicht der Durchbruch hinsichtlich der Akzeptanz der kulturellen Vielfalt im Gesundheitsbereich, aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, meint Eliseo Cañulef, Mapuche und Akademiker am Institut für indigene Studien in Temuko. Er bezweifle jedoch, dass die Zusammenarbeit mit einer machi in diesem städtischen Krankenhaus möglich wäre und man so etwas wie in Makewe dort wiederholen könne.
Allerdings ist die Nachfrage nach den Heilmethoden der machi auch in Städten wie Temuko und Santiago groß. Und das nicht nur bei der großen Zahl der dort lebenden Mapuche, sondern zunehmend auch bei der chilenischen Bevölkerung. In beiden Städten praktizieren eine Reihe von machi, bisher eher im privaten Rahmen oder mit Unterstützung von Mapucheorganisationen. Seit 2000 wird in acht Stadtteilen Santiagos auf Initiative der Kommission für die städtischen Mapuche und des Gesundheitsministeriums ein interkulturelles Gesundheitsprogramm umgesetzt. In der ersten in El Bosque eröffneten Praxis, für die eigens eine ruka, ein traditionelles Haus der Mapuche errichtet wurde, arbeitet machi Manuel Lincovil, der auch schon einen katholischen Priester von seinem Krebsleiden heilen konnte. Das Beispiel ist kein Einzelfall.
Möglicherweise steckt gerade im Bereich der Gesundheit die Aussicht auf eine Annäherung zwischen der indigenen und der chilenischen Kultur. Bisher kann jedoch angesichts der immer noch sehr isolierten, oft von Einzelpersonen abhängenden Initiativen und der halbherzigen Finanzierungspolitik von Seiten des chilenischen Staates nicht von einer reellen Gleichberechtigung im Gesundheitsbereich die Rede sein.
So werden Don Manuel und seine Tochter weiterhin ausschließlich auf die traditionellen Methoden vertrauen und auf manche, möglicherweise Erfolg bringende westlichen Erkenntnisse verzichten.

* Namen von der Redaktion geändert.

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