Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

Weiße Nasen – schräge Töne

Die mexikanischen narcocorridos huldigen musikalisch dem Drogenhandel

Während der öffentliche Diskurs Drogenhandel verteufelt, erfreuen sich Lieder über die angeblichen Heldentaten der DrogenhändlerInnen besonders bei der Bevölkerung im Norden Mexikos höchster Beliebtheit. Die Popularität der so genannten narcocorridos, vorgetragen in traditioneller Balladenform, ist dabei Ausdruck für die weit verbreitete Perspektivlosigkeit, auf legale Weise der Armut entrinnen zu können. Dabei sind die MusikerInnen oftmals selbst in die Machenschaften der Drogenbarone verstrickt.

Madlen Schering

Der Drogenhandel in Richtung USA hat nicht nur enorme Auswirkungen auf die Gewaltstatistiken Mexikos, sondern auch auf die Ökonomie und die Kultur des Landes. Letzteres spiegelt sich besonders in den narcocorridos wider, die von den Grenzabenteuern, Schießereien, Bandenkriegen und Reichtümern der Drogenbarone erzählen. Die gesamte Geschichte der mexikanischen Drogenindustrie ist so im Repertoire dieses Musikgenres gespeichert. Dabei handelt es sich bei dem narcocorrido um die Weiterentwicklung eines Musikstils, der auf eine lange Geschichte zurückblicken kann.

Volkstümliche Nachrichten

Bereits während der mexikanischen Revolution von 1910 bis 1917 berichteten Volkslieder, die corridos, vom Verlauf des Krieges und den Taten der Revolutionshelden wie Emiliano Zapata und Pancho Villa. Sie unterrichteten die vorwiegend analphabetische Bevölkerung vom aktuellen Geschehen im Land und speicherten die Volksgeschichte Mexikos für die nachfolgenden Generationen. Die corridos repräsentierten die Stimme des Volkes. Sie sangen eine Version der Ereignisse und Konflikte, die oft mit der offiziellen Version kollidierte.
Mit der Prohibition und dem Beginn des Schmuggels verbotener Substanzen Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts begannen die narcocorridos zu zirkulieren.
Auf Grund des Anstiegs des Drogenkonsums in den USA gewann der expandierende Drogenhandel in Mexiko in den 70er Jahren an Macht und Einfluss auf die mexikanische Gesellschaft, was eine sprunghaft ansteigende Produktion von narcocorrido – Musik mit sich brachte. SchmugglerInnen und Drogenbarone avancierten zu den neuen Outlaws, die als GegenspielerInnen der mexikanischen – und vor allem auch der US-amerikanischen – Behörden die Sympathie des Volkes ernteten.
Die offene Respektlosigkeit gegenüber den offiziellen Autoritäten des Staates hat einigen Vertretern der narcocorridos beachtlichen kommerziellen Erfolg beschert. Bestes Beispiel hierfür sind die Tigres del Norte, die längst Bestandteil der Mainstreamkultur geworden sind. Gleichzeitig provoziert der Erfolg der narcocorridos leidenschaftliche Diskussionen. Kritische Stimmen empfinden die narco-Musik als Erniedrigung der noblen Folktradition und als Verherrlichung von Drogenhandel und Gewalt. Das Drogengeschäft erscheint in den Liedern als respektable und lukrative Einkommensquelle und würde so einen unheilvollen Einfluss auf die Jugend ausüben. Auf der anderen Seite sehen die BefürworterInnen dieser Musik die narcocorridos als Ausdruck der gesellschaftspolitischen Verhältnisse und der Identität der GrenzbewohnerInnen. Die Musik ist in ihren Augen ein wichtiges Dokument, das von der alltäglichen Gewalt und der Abwesenheit des Gesetzes in dieser Zone berichtet.

Knastmusik

Aufsehen und Empörung hat die narco-Musik auch auf Grund der häufigen Verbindungen der MusikerInnen mit der Drogenszene ausgelöst. Einige narcocorrido-Bands erzählen nicht nur von den kriminellen Machenschaften der Drogenbosse, sie sind zuweilen selbst darin verstrickt. Manche musizieren aus dem Gefängnis heraus, wo sie wegen Drogendelikten einsitzen, wie zum Beispiel das Quartett Los Compas del Norte (Die Kumpel des Nordens).
Auch der legendäre „Chalino“ Sánchez begann seine Musikerlaufbahn hinter Gefängnismauern. Er wurde zum größten Star des Genres, nachdem er nach einem Konzertauftritt erschossen wurde. Viele narcocorridistas haben auch zugegeben, von Drogenhändlern Geld angenommen zu haben, um ihnen zu Ehren ein Lied zu verfassen. Bis zu 30.000 US-Dollar kann ein/e narcocorrido-KomponistIn auf diese Weise verdienen, schreibt der Autor Elijah Wald in seinem Buch Narcocorrido –
a journey into the music of drugs, guns and guerillas.

Geld stinkt nicht

In einem Land wie Mexiko, wo PolizistInnen im Ruf stehen, mehr Verbrechen zu begehen als zu verhindern, wo Drogenbekämpfungseinheiten mit Drogen dealen oder Anti-Entführungs-Kommandos an Entführungen mitverdienen, ist das Rechtsempfinden bei Teilen der Gesellschaft gestört, Gut und Böse werden zu austauschbaren Variablen. Die auf der anderen Seite des trügerischen Gesetzes Stehenden genießen zuweilen mehr Vertrauen als die „GesetzeshüterInnen“. Hinzu kommt, dass die Banditenverehrung in der Bevölkerung Mexikos eine lange Tradition hat. Zahlreiche „edelmütige BanditenInnen“, Robin-Hood-ähnliche Figuren, die gegen Unterdrückung und Armut protestierten und das Gesetz missachteten, werden in Mexiko verehrt, wie zum Beispiel Pancho Villa oder Jesús Malverde. Von diesem Kult profitieren nun die DrogenhändlerInnen, die zuweilen mit den edelmütigen BanditInnen identifiziert werden, da sie manchmal die Landbevölkerung finanziell unterstützen. Wegen ihrer Freigebigkeit genießen manche narcos ein hohes soziales Ansehen in ihrem Heimatort. Die narcos sind es, so erzählt man sich, deren Geld es ermöglicht, dass die verarmten Dörfer des Nordens ihre Infrastruktur selbst ausbauen und soziale Programme durchführen, ohne auf die Hilfe des Staates warten zu müssen.
Viele narcocorridos preisen den Drogenhandel als Ausweg aus der Armut. Die Botschaft gleicht dabei dem Brechtschen „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“: „Viele Leute kritisieren mein Leben/ weil ich gegen das Gesetz arbeite/ sie sagen, ich verdiene schmutziges Geld/ das leugne ich nicht, ich weiss es sehr wohl/ aber das Geld, obwohl es schmutzig ist, stillt den Hunger…“ singen die Tucanes de Tijuana in „El cartel de a kilo“.
Tatsächlich ist die Drogenindustrie zu einem wichtigen Bestandteil der nationalen Wirtschaft geworden. Obwohl es keine offiziellen Zahlen gibt, wird geschätzt, dass allein der Kokainhandel den mexikanischen Kartellen jährliche Gewinne von sieben Milliarden US-Dollar beschert. Eine beträchtliche Versuchung angesichts der Tatsache, dass bei optimistischen Berechnungen die Hälfte aller ArbeitnehmerInnen in Mexiko weniger als acht US-Dollar am Tag verdienen.

Blutiges Geschäft

Doch es fließt nicht nur viel Geld, sondern auch viel Blut. Das Sekretariat der öffentlichen Sicherheit Mexikos informiert, dass die Zahl der Morde im Zusammenhang mit dem Drogenhandel sich auf 3,3 Tote täglich beläuft. Im Jahr 2004 gab es mehr als 1:000 Mordopfer, unter ihnen Bandenmitglieder, PolizistInnen, RechtsanwältInnen und andere in den Drogenhandel involvierte Personen. Bei einer derartigen Entwicklung wird den narcocorrido-Bands der (Erzähl-)Stoff leider nicht so schnell ausgehen.

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