Film | Nummer 300 - Juni 1999

„Weniger Titanic – mehr Juliette“

Interview mit dem Filmverleiher Hans Christian Böse von Ventura Film

Über der Titanic brechen nicht nur die Wassermassen sondern auch die Rekorde zusammen. Während den filmischen Untergang in Deutschland bereits 20 Millionen Menschen verfolgten, werden kleine Produktionen oft von weniger als 10.000 Menschen gesehen. Mit Filmen wie „Carla’s Song“, „Tupamaros“ oder „L’homme sur le quaie“ versucht der kleine Filmverleih Ventura, die sich bietenden Nischen zu nutzen.

Jürgen Vogt

Ist der lateinamerikanische Filme out?

Es gibt, und das ist ja nicht nur auf den Film beschränkt, ein klar abnehmendes Interesse an Lateinamerika. Bis vor einigen Jahren gab es in sehr vielen Städten regelmäßig lateinamerikanische Filmtage. Das ist jetzt kaum noch der Fall, und das hängt damit zusammen, daß es die Basis dafür nicht mehr gibt. Die Initiativen, die zu Lateinamerika gearbeitet haben, wo Lateinamerika bestimmte Emotionen bei vielen Leuten hervorgerufen hat, sind weg. Wir hatten „Tupamaros“ im Kino und die Leute, die ihn gesehen haben, waren begeistert. Der Film hatte sich auch stark an die Überreste von Linken gerichtet. Aber es sind eben Reste, und man schafft es mit solchen Filmen kaum, über diese Zielgruppe hinauszukommen. Das ist aber ein allgemeines Phänomen, das mit Film nur am Rande etwas zu tun hat.

Welche Filme aus Lateinamerika sind denn hierzulande erfolgreich gelaufen?

„Erdbeer und Schokolade“ lief relativ gut, also relativ gut heißt 120.000 Zuschauer. Er wäre vielleicht noch besser gelaufen, wenn er von Anfang an auch in der Originalfassung gelaufen wäre. Kuba ist gerade total angesagt und alle lieben kubanische Musik. Das heißt, wenn der Film „Buena Vista Social Club“ von Wim Wenders jetzt herauskommt – von Wim Wenders gedreht! – dann hat man den Namen Wim Wenders’ und hat den Namen Buena Vista Social Club. Der Film wird funktionieren, da werden die Leute massenweise reinrennen. Weil das ganze auch, ohne jetzt jemandem Böses zu wollen, auf der Abkocherschiene fährt. Das Publikum mag etwas, was nett ist, wo alte Herren agieren, die so authentisch sind und relativ harmlos. Man geht ins Kino, lehnt sich zurück, wippt ein bißchen mit, weil die Musik so schön ist und geht anschließend raus und hat zwei wunderschöne Stunden hinter sich. Es gibt den anderen Film „Lagrimas Negras“, der hatte keinen richtigen Verleih gefunden, aber dort, wo er gezeigt wird, läuft er ebenfalls sehr gut. „Wer zum Teufel ist Juliette“, ebenfalls ein Film über Kuba, läuft auch gerade einigermaßen gut und hatte bisher um die sechs- bis siebentausend Zuschauer. Was für einen kleinen Film mit dieser Herausbringungsgröße absolut o.k. ist.

Was aber auch herzlich wenig ist.

Das sind die Dimensionen in denen kalkuliert wird, macht man dann mehr, ist das super. Als wir den Dokumentarfilm „Tupamaros“ ins Kino gebrachten, kalkulierten wir ihn auf 5000 Zuschauer. Es gibt nunmal kein großes Publikum für so einen Film, und es gibt wenig neugieriges Publikum, das in einen Film geht, den es nicht kennt. Außer, es gibt gerade eine irrsinnige Kampagne dazu. Dann wollen die Leute hingehen und nachher den Arbeitskollegen sagen: Ich habe „Titanic“ gesehen, und dann kann man sich über den Film unterhalten. Über „Wer zum Teufel ist Juliette“ kann man sich nicht unterhalten. Bei „Juliette“, den Pegasus verleiht, sind es in der zehnten Woche bundesweit 8643 Zuschauer, wobei fünf Kopien unterwegs sind. Ein Film wie „Das Fest“, den aus unserer Szene jeder gesehen hat, und der für einen Programmkinofilm außerordentlich gut gelaufen ist, hat nach 17 Wochen 380.000 Zuschauer. Das ist aber kein Vergleich zu dem, was die Major-Filme einspielen. „Titanic“ ist jetzt bei über zwanzig Millionen Zuschauern. Der Film kam gleich mit sechs- bis siebenhundert Kopien ins Kino und in der dritten Spielwoche waren schon 1000 Kopien im Einsatz. Man kann sich vorstellen, wieviele Leinwände mit diesem einen Film blockiert sind. Und entsprechend wird der Druck für alle größer. Das geht immer weiter runter und es gibt wenig Programmkinos, die es sich noch leisten können, kleine Filme zu spielen. Ein Beispiel ist das 3001Kino in Hamburg, das in Bezug auf Lateinamerika ein gutes Publikum hat, da laufen solche Filme außerordentlich gut. Es ist aber falsch, zu glauben, mit einen kleinen Film müsse man nur in ein großes Kino, das bekannt ist und gute Zuschauerzahlen macht.

Und was ist mit den Festivals?

Da bekommt man regelmäßig lateinamerikanische Filme zu sehen. Zum Beispiel das Festival in Dresden. Die haben seit vielen Jahren eine Kooperation mit der Filmschule in Havanna und haben ein paar Filme gezeigt von Regisseuren, die gerade die Filmschule hinter sich hatten. Das war zwar alles sehr interessant, aber das war nichts von dem ich sagen würde, das könnte man hier in die Kinos bringen.

Was bedeutet es für einen Film, auf einem Festival wie der Berlinale zu laufen?

Filme, die auf der Berlinale gelaufen sind, ereilt im Normalfall das gleiche Schicksal wie alle Filme, die auf einem internationalen Festival laufen. Sie werden vom nächsten Festival eingeladen und haben am Ende eine Liste von 20 – 30 Festivals, auf denen sie gezeigt wurden. Sie kommen aber in den einzelnen Ländern kaum ins Kino.

Und was bringt eine Auszeichnung, beispielsweise der Goldene Bär für „Central do Brasil“?

Das läßt zumindest den Preis steigen, zu dem so ein Film verkauft wird. Aber „Central do Brasil“ wäre auch ohne Bär ins Kino gekommen, weil alle an ihm dran waren. Für die Herausbringung ist es dagegen völlig gleichgültig. Es gibt einen Film von Ken Loach, „Ladybird, Ladybird“, der hat damals den Silbernen Bären bekommen, der hat dann in Deutschland 12.000 Zuschauer gehabt. Und wer weiß heute noch, wer wann einen Bären bekommen hat. Genauso ist es mit Venedig, Cannes und den anderen großen Festivals.

Ein guter Festivalfilm ist also noch kein Kinofilm, der einen Verleih findet?

Nein, man sieht einen Film aus Lateinamerika auf dem Festival mit vier- bis fünfhundert anderen Lateinamerikainteressierten. Alle sind da und finden den Film großartig. Dann stellt man sich aber die Frage: Wird der Film auch das ‘normale’ Publikum anlocken, und dann ist es oft so, daß man nein sagen muß. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Film auf einem Festival beim Publikum gut ankommt, oder danach auch im Kino. Das Normalpublikum kommt mit viel weniger Neugier ins Kino als das Festivalpublikum.

Ist es denn nicht möglich, daß ein Film, der nicht die Massen bringt, einfach mal für eine Woche in einem Kino läuft, ohne ihn gleich groß herausbringen zu müssen?

Es ist möglich. Es gibt auch eine Reihe von Verleihern, die noch kleiner sind als wir. Das sind Verleiher, die nebenher ein Kino betreiben. Die sind genau auf die Idee gekommen, weil sie auf Festivals Filme gesehen haben, die kein Verleiher genommen hat. Es gibt in Deutschland rund 15 Kinos, die spielen diese Filme. Dann besorgt man sich ohne großen Aufwand die Festivalkopie, die untertitelt ist, übernimmt die Plakate meinetwegen vom französischen Verleih und schickt sie herum. Am Ende kommen dann vielleicht zwei- bis dreitausend Zuschauer, aber das ist zumindest eine Chance, daß die Filme überhaupt ins Kino kommen.

Ist es ein genereller Trend, daß das Interesse an Filmen, die nicht aus Europa oder den USA kommen, nachläßt, oder hat es sich verlagert – weg von Lateinamerika nach Afrika, Asien, Osteuropa…?

Nach Afrika sicherlich nicht, Afrika ist immer noch der vergessenste der Kontinente. Was immer gut läuft, sind Filme über Buddhismus, über Tibet.

Also Esoterik?

Ja, so ein wenig in Richtung Esoterik, obwohl diese Filme mitunter gar nicht so esoterisch sind, aber sie holen die Leute auf der Ebene ab. Ich weiß allerdings nicht, ob das eine Verlagerung ist, denn die waren immer stark und die laufen auch weiterhin gut. Eine Interessenverlagerung, die ich durchaus positiv empfinde, ist die hin zu Themen, die in Europa stattfinden. Das birgt auf der anderen Seite die Gefahr, daß man sich für Dinge außerhalb seines Wahrnehmungsbereichs nicht mehr interessiert. Unterhaltsamkeit ist im übrigen ein sehr wichtiges Kriterium für das Publikum. Auch der Film „Das Fest“ mit seiner sehr harten Thematik muß unterhaltsam sein. Die Leute wollen auch in diesem Film lachen. Dennoch gibt es verstärkt den Trend, sich mit den Realitäten und Zuständen hier zu beschäftigen. Das macht vielleicht den Erfolg des neueren britischen Kinos aus, das sich mit sozialen Realitäten wie Arbeitslosigkeit auseinandersetzt. Ein anderes Beispiel ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur. Es gibt eine Reihe von Filmen, die sich mit der jüdischen Kultur in der Vergangenheit oder in der heutigen Zeit auseinandersetzen. Hier spürt man das Bedürfnis der Leute nach etwas exotischem, etwas authentischem, etwas, das woanders liegt. Ich glaube, daß das bei Lateinamerika lange Zeit genauso war, daß Lateinamerika für das Exotische, das Angenehme stand, in das man Dinge hineinprojizieren konnte. Genauso wie in die jüdische Kultur und die Klezmermusik heute das Bedürfnis nach Authentizität reinprojiziert wird, wird auch viel in lateinamerikanische Filme oder Kultur projiziert.

Auf welche Kriterien wird geachtet, wenn ein Film aus Lateinamerika relativ erfolgreich sein soll?

Beim Dokumentarfilm ist es ziemlich klar. Es muß für den Film eine Zielgruppe geben. Und wenn der Film wirklich erfolgreich sein soll, muß er eine gewisse Harmlosigkeit haben. Er muß dem Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung entgegen kommen. Spielfilme müssen mir in erster Linie gefallen, ich möchte im Kino sitzen und mich unterhalten, gespannt sein oder heulen oder lachen, und danach überlege ich: Ist dieser Filme verleihbar? Ist er vielleicht zu speziell, ist die Thematik zu eingegrenzt, oder wird mit ihm eine Geschichte erzählt, die etwas Universelles hat? Die US-Filmindustrie ist Meister darin, Geschichten so zu erzählen, daß sie sich auf einen allgemein menschlichen Kern reduzieren lassen. Zum Teil bedienen sie sich dabei schamlos irgendwelcher Mythen, um Grundthemen anzusprechen wie Liebe, Tod, Angst, Glück, Familie. Das sind immer noch die wichtigsten Kriterien. Wenn es ein lateinamerikanischer Film schafft, einen universellen Zug zu haben, so wie es „Central do Brasil“ letztlich auf einer sehr sentimentalen Ebene geschafft hat, oder der Film „Die Strategie der Schnecke“, der an dem Wunch nach kollektiver Aktion gerührt hat, dann wird er auch erfolgreich sein. Und wenn sie erfolgreicher sind, geraten sie sofort unter die Fittiche der Majors und gehen in die USA und drehen dort. Stichwort „Central do Brasil“, Walter Salles, sein darauffolgender Film ist natürlich zusammen mit einem Major aus den USA gemacht.

Um welche Filme bemüht sich der Ventura Film?

Wir verleihen in erster Linie Filme, die wir selber mögen. Dabei gibt es bei uns ein klares Übergewicht zu Filmen, die sich auf die eine oder andere Weise mit sozialer Realität befassen. Und da ist es mir persönlich nicht so wichtig, ob es gesellschaftliche Realität in Uruguay ist oder eine, die hier stattfindet. Er sollte aber einen Bezug zur Wirklichkeit haben. In der Filmbranche haben wir sicher ein bestimmtes Image, weil wir eher die ungewöhnlichen Filme herausbringen. Nimm Ken Loach. Der dreht einen Film über Nicaragua, Carla’s Song. Jetzt macht man eine Kampange dazu und überlegt, wen man einlädt. Ken Loach dreht schon an seinem neuen Film und der männliche Hauptdarsteller, Robert Carlyle, war aber auch gerade wieder am Drehen. Also lädt man jemand aus Nicaragua ein, was teuer und aufwendig ist. Oyanka Cabezas kommt nach Deutschland. Und dann ist sie da, man versucht der Presse zu erklären, ihr könnt ein Interview mit der Hauptdarstellerin des neuen Ken Loach-Film machen, und die Reaktion darauf ist irrsinnig gering, das interessiert weiter nicht. Letztlich, und das will ich jetzt noch in dein Micro sagen, das Publikum hat es sehr stark in der Hand, die guten Ausgangsbedingungen für kleinere, für schwierigere, ungewöhliche Filme und auch lateinamerikanische Filme zu schaffen. Weniger „Titanic“, mehr „Wer zum Teufel ist Juliette“.

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