Brasilien | Nummer 449 - November 2011

Wenn die Peripherie ins Zentrum rückt

Der Kampf um Kultur nimmt in den armen Vororten von São Paulo poetische Formen an

In der periferia von São Paulo wird in kleinen Bars des Abends Poesie zelebriert: Auf dem sarau, abgeleitet vom französischen soirée, wird Poesie gemacht, gesungen, gerappt. Der sarau schafft für die Marginalisierten ein Podium – und schlägt damit Wellen weit über die Vororte hinaus.

Érica Peçanha do Nascimento und Ingrid Hapke

Der schlechtbeleuchtete Weg von der Bushaltestelle steigt steil an, die Unebenheiten des Bürgersteigs zwingen die Fußgänger_innen auf die Straße, von den Wohnhäusern blättert der Putz. Von weitem schon ist der Lärm, Samba, Lachen und Gesprächsfetzen aus der Bar do Zé Batidão zu hören. Die Leute drängen sich mit Bierflaschen in der Hand vor der Bar. Alle Tische im geräumigen Vorderraum sind besetzt und auch bis zur Theke im hinteren Raum stehen die Menschen auf Tuchfühlung. Diese Szene wiederholt sich fast jeden Mittwoch Abend im Jardim Guarujá, einem Stadtteil in der periferia, wie die Banlieues und Favelas in Brasilien zusammengefasst werden, in der Südzone von São Paulo. Der Samba verstummt und der sarau, eine Art offene Bühne oder open mike, beginnt.
Sérgio Vaz, einer der Gründer des sarau tritt ans Mikrofon, das in einer Lichtung zwischen den Tischen, zu ebener Erde, aufgestellt ist, und ruft die Menschen zur Ordnung: „Herzlich Willkommen in der Bar do Zé Batidão. Alle sind willkommen, alle Farben, alle Schmerzen, alle, von überall her!“ Als Einschränkung gilt für den Abend nur eine Regel: „Die Stille ist ein Gebot! Wer nicht ruhig sein kann, geht besser gleich. Doch wer bleibt, wird mit einer Nacht voll Poesie und Magie belohnt. Auf unserer Liste stehen 40 Poeten, die heute hier vortragen wollen.“
Die Cooperifa – die Cooperativa Cultural da Periferia – ist ein Kollektiv um den Autor und sozialen Aktivisten Sérgio Vaz, das sich der Organisation und der Förderung von kulturellen Aktivitäten und Produktionen, vor allem der Literatur, in der Peripherie von São Paulo verschrieben hat. Seit zehn Jahren veranstalten sie den sarau in einem von großer Prekarität und Gewalt geprägten Stadtviertel.
Bedenkt man die historischen Wurzeln, will der sarau, abgeleitet vom französischen soirée, hier nicht so recht hinpassen, war dieser doch im 18. Jahrhundert den „Herrenhäusern” vorbehalten und den schönen Künsten gewidmet. Doch hier, in der zona sul von São Paulo, hat das alles eine andere Couleur. „Sarau ist, wenn die Poesie von ihrem Sockel steigt und die Füße der comunidade küsst”, lautet die Einladung zu der Veranstaltung von Vaz in seinem Blog.
Als der Sarau da Cooperifa 2001 ins Leben gerufen wurde, hatte es kaum jemand mitbekommen. Nur einige Freund_innen und Verwandte fanden sich ein, und selbst die hatten nach einer Stunde genug, erinnert sich der 47-jährige Vaz. Heute ist der sarau ein Ereignis und die Cooperifa eine Institution im kulturellen Leben der Bewohner_innen der Peripherie: Jeden Mittwochabend zwischen neun und elf kommen bis zu 300 Menschen in der Bar do Zé Batidão zusammen, um am „Wunder der Poesie” teilzuhaben, wie ein Gedicht von Vaz lautet. Sie hören Poesie, rezitieren, rappen.
Der sarau beginnt auch heute mit dem selben Ritual wie jeden Mittwochabend: Vaz springt vor dem Mikrofon auf und ab, und ruft ein kraftvolles: „Povo lindo!” – schönes Volk!, in den Raum. Das Publikum wiederholt die Worte. Sérgio Vaz schilt mit einem verschmitzten Lachen: „Lauter! Das hier ist doch keine Reichenparty!” Und der Funke springt über: Das Publikum skandiert die Worte mit voller Inbrunst zurück. „Schönes Volk! Intelligentes Volk! É tudo nosso! – Es ist alles unser!”
Der Jargon é tudo nosso betont die Herkunft der Cooperifa aus der Peripherie. Vaz, wie die acht Mitorganisator_innen des sarau, stammt selbst aus der zona sul, und sein professioneller Lebenslauf gleicht dem anderer Bewohner_innen in den Vororten: staatliche Schulen bis zur Mittelstufe, Jobs im Dienstleistungssektor und – dennoch – Autor von sieben Büchern. Im Gegensatz zu den vielen sozialen und kulturellen Bewegungen, die durch Ausländer_innen und internationale Nichtregierungsorganisationen geleitet werden, wird hier Kultur aus der periferia für die periferia gemacht.
Die meisten Besucher_innen des sarau kommen aus der Region oder den anderen periferias, doch die Bar do Zé Batidão ist im Laufe der Zeit zu einem Magneten für Künstler_innen, Journalist_innen und Querdenker_innen aus dem ganzen Land geworden. Auch internationale Gäste sind keine Seltenheit mehr.
Die regelmäßig anwesenden Poeten des sarau sind motoboys, also als Mopedkuriere oder mit ihrem Mopedtaxi Arbeitende, Hausangestellte, Fensterputzer_innen, fahren Taxi, beziehen Rente oder gehen noch zur Schule, arbeiten als Krankenschwester oder Lehrer_innen. Der Altersdurchschnitt liegt irgendwo zwischen neun und 71. Vortragen darf jeder, wer seinen Namen auf die Liste setzt, die Rose, groß, schwarz, mit Turban und afrikanischem Schmuck, die „Muse der Cooperifa”, verwaltet. Hier ist man stolz auf die afrikanischen Wurzeln, die Hautfarbe, das krause Haar, viel zu oft keine Selbstverständlichkeit in Brasilien.
Das Programm könnte diverser nicht sein: Japanische Haikus und kurze Prosatexte sind ebenso vertreten wie epische Gedichte, kurze Theaterstücke und Rap. Für Vaz ist der sarau eine Bühne für die sem-palco, die „Bühnenlosen”, wie er analog zu den sem-teto, den Obdachlosen formuliert. Die Cooperifa schafft ein Podium für die Marginalisierten, die nicht teilhaben an Bildung, Kultur und Politik, und deren eigene Kultur und Geschichte, die bis auf die Sklavenschiffe zurückreicht, ignoriert wird. Deshalb achten die MCs, die Masters of Ceremony, die den sarau moderieren, auch peinlich darauf, dass das Gebot der Stille eingehalten wird. Wer nie spricht, wem nie zugehört wird, weiß nicht, wie das geht, schon gar nicht vor 299 Menschen.
Etwa Zweidrittel der Bevölkerung der 18-Millionen-Stadt São Paulo, die als Kulturhauptstadt Brasiliens gilt, wohnen in den Randgebieten. Die meisten der Einwohner_innen wohnen hier und arbeiten im Zentrum im Niedrig- und Niedrigstlohnsektor. Der Staat markiert Abwesenheit, in den Medien konfiguriert die zona sul nur als Tatort, stigmatisiert die Einwohner_innen als Täter_innen. Die öffentlichen Schulen sind schlecht ausgestattet, die Lehrenden schlecht ausgebildet und noch schlechter bezahlt. Außerhalb der Institution Schule gibt es kaum Möglichkeiten für ein kulturelles Programm. Das brasilianische Statistikinstitut Instituto Brasileiro de Geografia und Estatística (IGBE) ermittelte 2010, dass höchstens dreizehn Prozent der Brasilianer_innen einmal im Jahr ins Kino gehen, 92 Prozent waren noch nie in einem Museum, 99,4 Prozent noch nie in einer Kunstausstellung. Der Grund ist einfach: Mehr als 90 Prozent der Munizipien haben kein Kino, kein Theater, keinen Kulturraum. In São Paulo konzentrieren sich diese Institutionen alle im Zentrum, anderthalb bis zwei Stunden mit dem Bus entfernt. So wird die Bar, mangels Alternativen, zum Kulturzentrum: „Der einzige öffentliche Raum, den uns der Staat gegeben hat, ist die Bar. Die haben gedacht, dass wir uns zu Tode trinken würden, aber wir haben die Bars in Kulturzentren umfunktioniert und jetzt gibt es kein Halten mehr. Denn wenn es eins in den periferias gibt, dann sind das Bars!¨, polemisiert Vaz.
Die über 15 saraus, die sich in den Randgebieten São Paulos in den letzten Jahren als kulturelle Einrichtung etabliert haben, geben ihm Recht. José Cláudio Rosa, der Besitzer der Bar do Zé Batidão, hat neben der Theke ein Regal mit Büchern aufgestellt, um auch den Kulturhunger seiner Gäste stillen zu können.
Viele der Gedichte des sarau protagonisieren die periferia und ihre Misstände, aber es geht auch darum, die hegemonialen Verhältnisse umzukehren, die eigene Kunst und Kultur zu valorisieren, die Geschichte der Sklav_innen, als deren Erben sich viele sarau-Besucher_innen verstehen, dem Vergessen zu entreißen. „Keiner soll mehr beschämt den Kopf hängen lassen”, sagt der 34-jährige Cocão, einer der MCs. Es geht darum, selbstbewusst zu sagen „Eu posso. Sou possível” – „ich kann, ich bin möglich”. Beim Deklamieren des Refrains “Eu vou pra Palmares” brüllt das Publikum lauthals mit. „Selbst wenn meine Fersen bluten. Ich geh nach Palmares. Selbst wenn meine Feinde tausende sind. Ich geh‘ nach Palmares!”. Palmares ist das berühmteste Quilombos Brasiliens, in dem entflohene Sklaven lange erfolgreich Widerstand leisteten. Für einige der Gäste am heutige Abend ist die Cooperifa ihr quilombo cultural.
Durch den sarau, den Informations- und Wissensaustausch, lernen die Bewohner_innen der Peripherie, den Stift selbst in die Hand zu nehmen. Einige der cooperifericos beginnen zu lesen und Gedichte zu schreiben, sie schreiben sich an der Uni ein oder holen die Sekundarstufe nach. „Die Literatur verbessert deine Haltung, deine Ansichten, die Art, wie du sprichst, deine Kinder erziehst”, sagt der 34-jährige Ferréz , der mit zwei Romanen, die in sechs Sprachen übersetzt sind, einer der bekanntesten Autoren der Südzone ist. Ausgehend von den saraus entwickelt sich, parallel zum traditionellen Literaturmarkt, ein eigener mit peripherer Literatur. Über 70 Romane, Kurzgeschichten, Gedichtbände und Sammelbände sind, meist in alternativen Verlagen, publiziert worden. Freilich gibt es diese dann nicht im herkömmlichen Buchhandel zu kaufen. Allan Santos da Rosa hat mit den Edições Toró 2005 einen Verlag gegründet, um der neuen Nachfrage und den ästhetischen Ansprüchen aus der periferia nachzukommen, einige haben es ihm schon nachgemacht. Auf den Segen der Literaturkritik und Traditionsverlage wartet keine_r mehr, auch wenn zum Beispiel der Verlag Global mit einer neuen Sparte, der linha periférica, Interesse an dieser „neuen” Literatur zeigt, die Ferréz generisch literatura marginal nennt.
Mitte Oktober feiert der sarau seinen zehnjährigen Geburtstag: Autor_innen, Poet_innen, Rappende und soziale Aktivist_innen kommen zusammen, um zehn Tage lang über Ästhetik und Engagement, Frauen in der Bewegung und afrobrasilianische Einflüsse zu diskutieren. Einmal mehr wird die periferia zum Kulturzentrum. Aber das war noch längst nicht alles. Für Vaz muss sich noch viel verändern. Solange wird weiter gemeinschaftlich an dieser kreativen Revolution gearbeitet. Vaz sieht das so: „Während andere die Realität kapitalisieren, sozialisieren wir unsere Träume.”

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