Mexiko | Nummer 497 - November 2015

„Wenn du nicht zahlen kannst, bringen sie dich um“

Ihre Arbeit ist unter der neuen Abschiebepolitik Mexikos wichtiger denn je. Reportage aus einer Herberge für Migrant*innen in Chiapas

Seit dem Inkrafttreten des Programms „Südgrenze“ im Juli 2014 ist der Weg für Migrant*innen durch Mexiko in die USA noch gefährlicher geworden. Die Zahl der Abschiebungen ist sprunghaft angestiegen. Der Güterzug „Die Bestie” ist dabei die Hauptangriffsfläche. Die Herbergen entlang der Strecke sind oft die einzige Hoffnung der Fliehenden.

Ardilla Negra

Es ist 6.30 Uhr, die Sonne ist gerade aufgegangen. Einige Migrant*innen waschen bereits Wäsche, andere warten in dem großen Aufenthaltsraum auf das Frühstück. Ein neuer Tag beginnt im Casa del Caminante Tatic Samuel Ruíz García in der Kolonie Pakal-na in Palenque, Bundesstaat Chiapas. Es ist eine von über 80 Herbergen, die Migrant*innen aus Zentralamerika aufnimmt. Viele von ihnen reisen auf dem Dach des Güterzuges „Die Bestie“ von der mexikanischen Südgrenze zur Nordgrenze – meistens, um von dort aus in die USA zu gelangen.
Gerade kommt eine Gruppe Migrant*innen mit wund gelaufenen Füßen in der Herberge an. Für viele ist sie das erste Ziel seit ihrem Grenzübertritt nach Mexiko. „Die Gemeindepolizei hat uns kurz hinter der Grenze angehalten,“ berichtet einer von ihnen. „Sie hat eine Gebühr dafür verlangt, dass sie uns in Ruhe lässt.“ Obwohl die Gemeindepolizei überhaupt nicht zuständig für die Migrant*innen ist, missbraucht sie oft ihre Macht. Sie ist nicht die einzige: Von Grenzbeamt*innen, Taxi- und Busfahrer*innen, über Soldat*innen bis zur Staatsanwaltschaft machen alle ein Geschäft, indem sie Migrant*innen den doppelten oder gar dreifachen Preis für ein Taxi oder den Bus nach Palenque zahlen lassen. Das Militär kassiert bei Drogenkontrollen gesondert ab. Da viele diese hohen Preise nicht zahlen können, laufen sie bereits von der Grenze aus zu Fuß. Drei bis fünf Tage dauert so ein Marsch, denn um der Migrationsbehörde zu entkommen, müssen oft große Umwege in Kauf genommen werden. Aber auch ein teures Busticket hilft oft nicht weiter. Wenn die Busfahrer*innen von entgegenkommenden Bussen das Zeichen bekommen, dass die Migrationsbehörde im Einsatz ist, müssen die Migrant*innen aussteigen und zu Fuß weitergehen.
Schwester Yolanda behandelt die eingetroffenen Migrant*innen mit Salbe, Puder und Verbandsmaterial und verabreicht ihnen Medikamente. Die Herberge ist eine vom Staat unabhängige, katholische Einrichtung, die neben Verpflegung und Schlafmöglichkeiten auch medizinische und juristische Unterstützung leistet. Sie wird von Schwestern geleitet und finanziert sich ausschließlich aus Spenden. Einmal in der Woche kommt eine angehende Ärztin von einer unabhängigen Frauenrechtsorganisation aus Palenque vorbei. Es gibt keinen Behandlungsraum, die Sprechstunde muss in aller Öffentlichkeit stattfinden. Die Medikamente und Utensilien werden vom deutschen katholischen Entwicklungshilfswerk MISEROR finanziert.
Heute werden zum Mittagessen Quesadillas aufgetischt. Mit viel Liebe bereitet Schwester María die mit Käse gefüllten Tortillas zu, die es heute anlässlich eines religiösen Feiertages gibt. Dreimal täglich gibt es etwas Warmes, am Sonntag jedoch nur Frühstück. Wenn genug Geld da ist, werden manchmal auch Käse oder Fleisch gekauft, aber oft besteht das Essen aus Reis, Bohnen und Tortillas oder einer Suppe. Einige Helfer*innen und Migrant*innen, die ebenfalls mit in die anfallenden Arbeiten einbezogen werden, haben heute Obst und Gemüse aus einem Container des nahe gelegenen Supermarktes geholt. Immer wieder kommen Freiwillige vorbei, um die Einrichtung mit ihrer Arbeitskraft zu unterstützen oder mit einem offenen Ohr für die vielen Geschichten der Migrant*innen da zu sein.
„Die allerhäufigsten Migrationsgründe sind Armut, Arbeitslosigkeit, aussichtslose Situationen und Gewalt”, berichtet Schwester Nelly, die administrative Leiterin der Herberge. So machen sich vor allem viele junge Männer auf den Weg in die USA. Ihre Wünsche sind einfach: genug Geld verdienen, um ihren Familien ein würdevolleres Leben zu ermöglichen, sich eventuell ein Stück Land leisten zu können. Denn viele wollen gar nicht lange in den USA bleiben, sondern nur ein paar Jahre, um sich eine ökonomische Grundlage für ein Leben in ihrem Herkunftsland aufbauen zu können.
Das Land, aus dem mit Abstand die meisten Migrant*innen in die Herberge kommen, ist Honduras. „Es gibt keine Arbeit, die Armut ist groß und die Regierung ist korrupt”, klagt ein Honduraner. Laut einem Bericht der UNO wurden in Honduras 2013 über 90 Personen pro 100.000 Einwohner*innen umgebracht, es ist die mit Abstand höchste Mordrate der Welt. Vor allem kriminelle Banden, die oft in Verbindung mit dem Drogenhandel stehen, sind für die Gewalt verantwortlich.
Ein offenes Ohr braucht es auch für die Erlebnisse der Migrant*innen auf dem Weg bis zur Herberge. Seit dem Inkrafttreten des Programms „Südgrenze“ im Juli 2014 hat die Migrationsbehörde ihre Kontrollen an den einschlägigen Routen verschärft. Doch nicht nur die ständige Drohung einer Festnahme oder Abschiebung bereitet den Migrant*innen Sorge. Kriminelle Banden kontrollieren die Migrationswege und den Zugang zum Güterzug und verlangen dafür eine Gebühr. „Vor der Migrationsbehörde habe ich keine Angst, vor ihnen kann ich wegrennen oder sie schieben mich ab, wenn sie mich schnappen. Aber die Maras (zentralamerikanische Jugendbanden, Anm. d. Red.) Banden) bringen dich einfach eiskalt um, wenn du nicht zahlen kannst”, berichtet ein anderer Migrant aus Honduras.
Als gerade der Güterzug vorbeifährt, der von der Herberge aus zu sehen ist, sagt eine Migrantin: „Das Geräusch der Bestie macht mich traurig, weil es mich an die ganze Gewalt erinnert, die auf ihr passiert.” Frauen sind noch mehr Gefahren ausgeliefert, Vergewaltigungen finden häufig statt. Viele spritzen sich deshalb vor ihrer Abreise Hormone, um zumindest nicht schwanger zu werden. Obwohl der Großteil des Wegs noch vor ihnen liegt, ist die Liste der Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen bereits jetzt sehr lang.
Nach dem Mittagessen leert sich die Herberge. Bis zum Abendessen müssen die meisten Migrant*innen die Herberge verlassen, denn es gibt nicht genug Personal, um den ganzen Tag präsent zu sein. Aufgrund des hohen Andrangs darf jede*r Migrant*in meist sowieso nur drei Tage bleiben. Ein längerer Aufenthalt ist jedoch den sogenannten „Internen“ erlaubt. Sie haben Asyl oder das Visum aus humanitären Gründen in Mexiko beantragt und warten auf ihr Ergebnis. Schwester Nelly unterstützt sie dabei, denn auch wenn sie keine Anwältin ist, kann sie auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Die Aussichten auf Asyl sind sehr gering: Laut der Menschenrechtsorganisation WOLA wurden 2014 lediglich 16 Prozent der Anträge bewilligt. Für das Visum aus humanitären Gründen sieht es – zumindest in Palenque – besser aus. „Lediglich zwei Fälle wurden hier bisher abgelehnt”, sagt Schwester Nelly.
Das Visum aus humanitären Gründen ist zum Beispiel für jene Migrant*innen gedacht, die Gewalt, Raub oder Amtsmissbrauch von Seiten der mexikanischen Behörden erfahren. Solche Fälle landen bei der Staatsanwaltschaft, die sich auf Delikte gegenüber Migrant*innen spezialisiert hat. Dort scheint es tatsächlich Personen zu geben, die sich für die Rechte der Migrant*innen einsetzen. Drei Migranten berichten von ihrem Fall und ihrer erfolgreichen Klage: Während einer Kontrolle der Gemeindepolizei war ihnen der Inhalt ihrer Geldbörsen entwendet worden. Die drei entschieden sich, den Fall anzuzeigen und wandten sich an die Staatsanwaltschaft. Und tatsächlich hatte ihr Prozess Erfolg: Auf Grundlage von Fotos konnten die Polizisten ausgemacht und schuldig gesprochen werden. Damit können sich die drei nun an die Migrationsbehörde wenden und einen Antrag auf das Visum aus humanitären Gründen stellen, dem mit großer Wahrscheinlichkeit stattgegeben wird. Doch auch wenn es viele solcher Fälle von Raub und Amtsmissbrauch gibt, haben nur wenige der Migrant*innen die Zeit und die Geduld, einen solchen Prozess zu führen, geschweige denn einen Antrag auf Asyl zu stellen, dessen Bearbeitungszeit 45 Werktage beträgt.
Am 8. September hat das Casa del Caminante Tatic Samuel Ruíz García sein dreijähriges Bestehen gefeiert. Die Migrant*innen sind auf ihren Schutz und ihre Hilfe angewiesen. Ein Migrant drückt es während des Besuchs des Bischofs aus San Cristóbal so aus: „Die Herberge ist für uns wie ein Zuhause geworden. Hier wurden wir mit sehr viel Respekt und Liebe aufgenommen.“ Ihm gibt es Hoffnung, dass es noch weitere Herbergen entlang des Weges gibt.

Das Programm „Südgrenze“ und seine Folgen
Das Programm „Südgrenze“ ist eine Initiative der mexikanischen Regierung, das am 7. Juli 2014 in Kraft trat. Offiziell soll es dazu dienen, Migrant*innen zu schützen und ihre Menschenrechte zu sichern. Bisher hat es vor allem zu stärkerer Kontrolle der Migrationsrouten und einem Anstieg der Abschiebungen geführt – zwischen 2013 und 2014 um 35 Prozent. Zudem wurde der Aufstieg auf den Güterzug „Die Bestie” erschwert, er fährt nun mit höherer Geschwindigkeit, was das Risiko von Verletzungen und tödlichen Unfällen drastisch erhöht. Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen entweder laufen oder Schleppern viel Geld zahlen, um sie halbwegs sicher in die USA zu bringen. Die Schlepper*innen können angesichts der Situation die Preise in die Höhe treiben. Zurzeit erreichen weniger Migrant*innen die USA.
Das Netzwerk für Dokumentation von migrationsverteidigenden Organisationen (REDODEM) gibt jedes Jahr einen Bericht über die Analyse der aktuellen Migrationspolitik und Menschenrechtssituation der Migrant*innen in Mexiko heraus. Ihr letzter Bericht erschien im Juli dieses Jahres und kann auf folgender Webseite in spanischer Sprache heruntergeladen werden:
www.sjmmexico.org.mx/wp-content/uploads/2015/07/informe-migrantes-2014.pdf

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