Erinnerung | Nummer 343 - Januar 2003

Wer der Folter erlag, wird nicht mehr heimisch in der Welt“*

Dinah Stratenwerth

Lateinamerika ist voller Heimatloser, welche durch Folter erlittene Verletzungen in sich tragen und durch die mehr oder weniger demokratischen Demokratien auf dem Kontinent irren. Sind ihre Wunden heilbar? Ist es für sie möglich, das Erlebte zu verarbeiten, wenn sie wissen, dass ihre Peiniger nie bestraft wurden? Wie lebt es sich mit so einer Last, wo kann man sie abladen? Wie beeinflusst die Traumatisierung eines großen Teils der Bevölkerung die Gesellschaft eines Landes?
Fragen, die nicht nur im Zusammenhang mit Straflosigkeit wichtig sind. Die Art und Weise, wie mit Folteropfern umgegangen wird, sagt viel über den Zustand einer Demokratie und über den Stellenwert der Vergangenheit in der Gegenwart aus. Benedettis Satz „Das Vergessen ist voller Erinnerung“ ist für viele, die Folter erlebt haben, ein wichtiger Wahlspruch. Sie wehren sich gegen Stigmatisierung und eine Politik der Versöhnung, die ihre Leidensgeschichte für beendet erklärt.
Dieser Schwerpunkt versucht, einige der oben gestellten Fragen zu beantworten und so seinen Teil zum Erinnern und Verstehen beizutragen.
Horacio Riquelme erklärt in dem einleitenden Interview, was Folter für Folgen hinterlassen kann und wie sie in den Cono Sur- Staaten und Chile behandelt wurde. Er ist Herausgeber eines Buches, das sowohl PatientInnen als auch PsychotherapeutInnen zu Wort kommen lässt. Die persönlichen Schicksale und die psychologischen Analysen sollen dem Leser ein Bild von der psychosozialen Verfassung der Gesellschaft in Argentinien, Chile und Uruguay geben. Die Rezension von Dinah Stratenwerth, welche dem Interview folgt, fasst die wichtigsten Aussagen des Buches zusammen, die zeigen, wie Folteropfer ihre Heimat in der Welt verlieren.
Patricio Bustos, der während der chilenischen Militärdiktatur im Gefängnis war und gefoltert wurde, beschreibt seine Gefühle im Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch das Erinnern an die Vergangenheit soll in der Gegenwart für Gerechtigkeit gekämpft werden, die eine bessere Zukunft möglich macht. Die Hoffnung, die aus seinen Worten spricht, wird getrübt, wenn man bedenkt, dass die Folter nicht nur ein Auswuchs der finsteren Zeiten des kalten Krieges ist. Arturo Requesens Artikel zeigt, wie in Mexiko Menschen auch heute noch systematisch gefoltert werden. Meistens trauen die Opfer sich nicht, Hilfe zu suchen, denn sie haben Angst vor weiterer Repression oder schämen sich. Wenn sich die Betroffenen aber an Gerichte wenden, um gegen ihre Folterer zu klagen, so deckt die Staatsanwaltschaft häufig die Täter, die Interessen der Opfer werden unzulänglich vertreten. Hier sind nicht nur PsychologInnen und PsychotherapeutInnen, sondern der mexikanische Staat und letztlich auch die internationale Gemeinschaft gefragt, der Zerstörung von Menschenleben Einhalt zu gebieten.
Diese Zerstörung führt häufig zu Flucht und der Suche nach Asyl. Dabei muss die schmerzhafte Geschichte wieder aufgerollt werden, da Folteropfer höhere Chancen haben, dass ihr Asylantrag angenommen wird. Mechthild Wenk-Ansohn vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin erklärt, was das für die Asylsuchenden bedeutet und wie ihnen geholfen wird.
Das was ihnen geschehen ist, ist für uns schwer vorstellbar – und doch gibt es AutorInnen, die versuchen, das Unvorstellbare der Öffentlichkeit näher zu bringen und das Thema Folter in Literatur zu verarbeiten und sogar auf die Bühne zu bringen. Helga Dressel stellt im abschließenden Artikel einige Stücke vor, die auf sehr verschiedene Art das Thema Folter behandeln.

*Jean Améry

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