Wer gewinnt schon gegen seinen Schatten
Der argentinische superclásico Boca Juniors gegen River Plate
11. April 1998, Boca gegen River, die Bombonera im Stadtteil La Boca seit Tagen ausverkauft. Zur Pause führt der Gast 1:0. Zweite Halbzeit, siebte Minute, blankes Entsetzen: Foul im Boca-Strafraum. Rivers Marcelo Salas legt sich den Ball auf den Punkt, läuft an und drischt ihn über das Tor in die Reihen der Boca-Fans. Ein Jubel, als hätte er den Ausgleich geschossen. Plötzlich ist sie im Stadion, diese Ahnung, daß das Spiel kippt. Und sie erfaßt alle. 55. Minute, 1:1 Ausgleich durch Claudio Caniggia: die Menge steht und jubelt. 71. Minute, Martín Palermo trifft zum 2:1 für Boca: die Menge tobt, hüpft mit nacktem Oberkörper, wirbelt mit dem Hemd überm Kopf. Nur zwei Minuten später, Rodolfo Arruabarrena, das 3:1: die Menge ist im Rausch, explodiert, das GOOOOOOOO kommt nicht zum L, Maradona flachliegend auf der Brüstung seiner Loge. Rivers 3:2 – bestenfalls Kosmetik. Schlußpfiff.
„Boca ist der schwarze Schatten von River“, sagte der damalige Trainer Bambino Veira. Und wer gewinnt schon gegen seinen Schatten. „Boca gewinnt die superclásicos und wir die Meisterschaften,“ kontert River-Trainer Ramón Díaz. Schließlich gibt es auch hier für einen Sieg nicht mehr als drei Punkte und von denen hatte River in den letzten Jahren einige mehr eingeheimst. Aber wer Meisterschaft und superclásico vergeigt, hat schmerzlich leidende Fans, und Meister wurde am Ende der Saison Vélez Sarsfield.
Der Mythos von Arm und Reich
Die Gegensätze könnten größer nicht sein. Hier das arme Hafenviertel, in dem die Straßen enger sind und über das die Wasserstraße des Riachuelo seinen Gestank legt, wenn der Wind wie meistens ungünstig steht. Und mittendrin, wie eine Trutzburg die Bombonera, die Bonbonschachtel. Bosteros, die die mit Mist handeln, nennen die River-Fans die Hinchas, die Fans von Boca.
Dort der Klub der Reichen mit seinem Anhang (Gallinas, Hühnchen, sprich Feiglinge, wie die Boca-Fans sie rufen) in den feineren Vierteln und einem riesigen Stadion in luftiger Umgebung mit guten Parkmöglichkeiten. Die Legenden von Weiß und Schwarz, Gut und Böse ließen sich endlos weiterspinnen und doch bleibt das Körnchen Wahrheit, ohne das der Mythos nicht leben kann.
Aber Boca oder River ist nicht nur eine Klassenfrage. In ‘Samba, Coca und das runde Leder’ läßt Autor Chris Taylor einen der bekanntesten Boca-Spieler der 60er- und 70er Jahre zu Wort kommen: „Die Boca-Fans wollen durchgeschwitzte Trikots sehen, die River-Fans nicht. Die River-Fans wollen dich spielen sehen. Sie wollen Heber, Schlenzer und Pässe, während die Boca-Fans mehr auf Charakter und Kraft stehen. Wenn du auf dem Platz alles gibst, und wenn du mit schweißnassem Trikot vom Platz gehst, sind sie glücklich.“ Das sagt Antonio Ubaldo Rattin, der fünfzehn Jahre ein gefeierter Spieler bei den Boca Juniors war und 27 Mal den superclásico spielte. Rattin zum Duell Boca-River: „Das ganze Land ist wie gelähmt… Das ist eine Rivalität, die man gesehen haben muß. Boca-River, die ganze Atmosphäre, nicht das jeweilige Spiel, denn das Spiel selbst ist oft häßlich, selten wird guter Fußball gezeigt, aber die Atmosphäre überwältigt dich, das vergißt du nie.“ Und zur möglichen Niederlage: „Zu meiner Zeit bist du nach einer Niederlage bis Mittwoch, Donnerstag nicht auf die Straße gegangen, aber es war trotzdem wunderbar…“
Selbstverständlich ist für die porteños Boca-River das größte Stadtderby der Welt und fast die gesammte argentinische Fußballnation spaltet sich entlang der Linie Boca-River. Zum eigenen Lieblingsverein kommt entweder Boca oder River und noch in der hintersten Provinz bolzen die Kids in Trikots der Hauptstadtklubs.
Genueser Wurzeln und schwedisches Blau-gelb
Die Vereine wurden kurz nach der Jahrhundertwende im Hafenviertel La Boca gegründet. River Plate 1901, Boca Juniors 1905. Später verlagerte River seinen Standort in noblere Gegenden. Das Stadion steht heute in Belgrano.
Bocas Spitzname Los Xeneizes verweist auf die Herkunft der Klubgründer aus Genua. Zur Legende des Klubs gehört, daß sie sich nicht auf die Vereinsfarben einigen konnten und übereinkamen, daß es die Farben der Flagge des nächsten in den Hafen einlaufenden Schiffes werden sollten: Das kam aus Schweden. Doch daß sich da niemand was vormacht. Heute ist Boca wie River ein finanzschweres Unternehmen mit Spielbetrieb.
163 Mal sind die beiden Vereine in der Liga schon aufeinandergetroffen. Boca führt mit 60 Siegen bei 55 Niederlagen und 48 Unentschieden. Rivers Labruna führt mit sechzehn Treffern die Torschützenliste des superclásicos an. Er gehörte in den 40ern zur legendären Mannschaft La maquina von River Plate, die von 1941 bis 47 ungeschlagen blieb. Noch heute kennt fast jeder argentinische Fußballfan die berühmten fünf Namen der damaligen River-Mannschaft: Munoz, Moreno, Pedernera, Loustau und eben Labruna. Aber die goldenen Zeiten für River sind Geschichte. Von den letzten sechs Begegnungen hat Boca vier gewonnen, zweimal gab es ein Unentschieden. Und auch was die berühmten Namen angeht, steht Boca River in nichts mehr nach: El Diez – Diego Maradona, der Boca-Spieler Anfang der 80er mit der Zehn auf dem Rücken.
Ausgleich durch zwei Tote
Der Haß der beiden Fangruppen aufeinander ist unglaublich. Im Fußballstadion Bombonera, wie aber auch in allen anderen Stadien der Liga gelangen die Spieler durch riesige, wie Bierdosen gestylte Schläuche, auf das Spielfeld. Wer das Pech hat, in der gegnerischen Fankurve einen Eckball treten zu müssen, wird gnadenlos von oben bis unten vollgespuckt und kann anschließend zum Handtuch greifen. Am 11. April 1998 waren rund 1200 Polizeibeamte im Einsatz um größere Ausschreitungen zu verhindern. An diesem Spieltag blieb es ruhig. Das war schon mal anders. Nach einer 0:2-Pleite 1994 im heimischen Stadion griffen Boca-Fans zur Waffe. Und glichen, wie sie selbst zynisch anmerkten, mit zwei toten River-Anhängern aus, (Siehe LN 288). Das war der vorläufige Höhepunkt der Gewaltspirale zwischen den Hinchas der beiden Vereine.
Boca, mi buen amigo
Im Gegensatz zu den europäischen Ligen mit Vor- und Rückrunde, wird in der argentinischen Profiliga die Apertura und die Clausura ausgespielt. Das heißt, Vorrunde und Rückrunde sind hier zwei getrennte Meisterschaftsrunden, die jeweils bei Null wieder beginnen.
In der laufenden Clausura steht Boca mit dem neuen Trainer Carlos Bianchi bisher ungeschlagen auf Platz Eins der Tabelle, River rangiert im unteren Bereich. Vorletzten Sonntag war wieder superclásico, auswärts bei River, im Stadion Monumental. Das Spiel war nicht sonderlich gut und Boca hielt mit Glück ein 0:0. ¡Bueno, las Gallinas no ganan nunca más!