Brasilien | Nummer 419 - Mai 2009

Wer profitiert wirklich?

Das neue Wohnungsprojekt Lulas in der Kritik

Bei dem neuen Wohnungsbauprogramm der Regierung Lulas geht es nur vordergründig darum, Wohnraum für die arme Bevölkerung zu schaffen, Hauptziel ist, die Wirtschaft anzukurbeln. Städtische soziale Bewegungen fordern radikalere Maßnahmen, wie die Nutzung leerstehender öffentlicher Gebäude.

Marcão dos Santos

Minha casa, minha vida – „Mein Haus, mein Leben“ nennt die brasilianische Bundesregierung ihr Förderprogramm zum Bau von einer Million Wohnungen, das Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva am 25. März der Öffentlichkeit präsentierte. Das Programm zielt laut Lula darauf ab, einerseits die seit langem in Brasilien herrschende Wohnungsnot zu lindern und andererseits die Konjunktur durch die direkte Förderung der Bauindustrie anzukurbeln. Dafür will die Regierung 34 Milliarden Reais (derzeit etwa 11 Milliarden Euro) zur Verfügung stellen.
Laut dem Statistikinstitut IBGE fehlen in Brasilien derzeit landesweit 7,2 Millionen Wohnungen, wobei davon der weitaus größte Teil die ärmsten Bevölkerungsschichten betrifft. Dennoch sieht das Förderprogramm für diese Bevölkerungsgruppe nur 40 Prozent der Wohneinheiten vor, während die Mittelschicht den größeren Teil des Programms zur Verwirklichung des Traums von den eigenen vier Wänden erhalten soll. Dies macht durchaus Sinn, ist „Mein Haus, mein Leben“ doch in erster Linie Teil des Konjunkturpakets zur Bekämpfung der internationalen Wirtschaftskrise und ihrer Auswirkungen auf Brasilien.
Hatte Präsident Lula letztes Jahr noch bei jeder Gelegenheit verkündet, wie gut Brasilien für die Krise gewappnet sei und dass das Land gar nichts von der globalen Rezession spüren würde, beweisen der Rückgang der industriellen Produktion und der Anstieg der offiziellen Arbeitslosenzahlen seit Ende 2008 nun das Gegenteil. Im Sinne der Krisenbewältigung soll „Mein Haus, mein Leben“ den Bau- und Immobiliensektor beleben und damit hunderttausende Arbeitsplätze im formellen Sektor schaffen, so zumindest die Hoffnung der Regierung. Die Bauindustrie reagierte sofort und feierte das Programm als historisch.
Die Initiative der Regierung erntet jedoch nicht nur Zustimmung. Wenn das Programm über die Wirtschaftsförderung hinaus auch das Wohnungsdefizit entscheidend senken will, bedarf es weitergehender Schritte. Darauf macht derzeit die brasilianische Bewegung für eine Stadtreform aufmerksam. Denn der Bau von neuen Häusern und Wohnungen lindert die Wohnungsnot nur dann nachhaltig, wenn gleichzeitig die notwendigen öffentlichen Einrichtungen, wie Kindergärten, Schulen, Gesundheitsposten oder Buslinien in erreichbarer Nähe geschaffen werden.
In der Vergangenheit legte die Öffentliche Hand immer wieder Wohnungsprogramme für die ärmere Bevölkerung auf, die zum Bau von sozialen Ghettos weit ab der Stadtzentren führten. Das Fehlen einer Grundausstattung an öffentlichen Einrichtungen und die große Entfernung zum Arbeitsplatz zwangen die BewohnerInnen dieser Siedlungen zurück in die Favelas, aus denen sie gerade erst gekommen waren. Um derlei Entwicklungen in dem neuen Förderprogramm von vornherein zu verhindern, fordern die städtischen sozialen Bewegungen von der Regierung Lula, dass nicht nur der Neubau von Wohnungen gefördert wird, sondern auch die Umnutzung von tausenden leerstehenden öffentlichen Gebäude in den brasilianischen Innenstädten für den sozialen Wohnungsbau. Diese hätten neben ihrer zentralen Lage eben auch den Vorteil einer bereits funktionierenden Infrastruktur.
Außerdem sollen Alternativen zum Wohnungseigentum, wie etwa Genossenschaften oder Mietwohnungen, gefördert werden. Denn die bisherige Politik, jedem und jeder BrasilianerIn den Erwerb der eigenen vier Wände zu versprechen, führte zu der paradoxen Situation, dass heute ein Überangebot von 6,7 Millionen Wohnungen, gebaut für die Mittel- und Oberschicht, besteht, während über sieben Millionen Wohnungen für die ärmere Bevölkerung fehlen. Dazu kommt, dass viele arme Familien, die ein Haus aus einem der Wohnungsbauprogramme erhalten haben, dieses aufgrund der hohen Nebenkosten nicht halten können.
Um die Erfüllung ihrer Forderungen zu garantieren, bestehen die sozialen Bewegungen auf einer Integration des neuen Förderprogramms in das bestehende Nationale System für Wohnungsbau, das durch die Einrichtung von Beiräten eine soziale Kontrolle der Regierungsprogramme gewährleisten soll.
Denn eine weitere Gefahr des jetzt lancierten Programmes sehen die sozialen Bewegungen in der Vorgabe, dass es den Bau- und Immobilienfirmen überlassen wird, die Projekte zu entwerfen und bei der Bundesregierung zu beantragen. Diese interessieren sich aber weniger für die städtische Integration ihrer Bauvorhaben, als für den Gewinn, den diese abwerfen. Für sie ist es viel lukrativer, massenhaft Einfamilienhäuser auf der „grünen Wiese“ zu bauen, als Wohnungen in innerstädtischen Lagen. Denn die Häuser von der Stange werden einmal geplant und dann tausendfach errichtet, während jedes innerstädtische Projekt an die gegebene Situation angepasst werden muss.

Über sieben Millionen Wohnungen fehlen für die ärmere Bevölkerung.

Weiterhin sieht „Mein Haus, mein Leben“ vor, dass Bundesstaaten und Kommunen in eine Art Wettbewerb um die eine Million Wohnungen treten. Wer mehr Bauland und dessen Erschließung kostenlos zur Verfügung stellt und lokale Steuern für die Bauindustrie senkt, erhält mehr Fördermittel. Den sozialen Bewegungen, vor allem den im ganzen Land zahlreichen Nachbarschaftsorganisationen, ist von Regierungsseite dagegen nur die Rolle einer Vermittlerin zwischen den Baukonzernen und ihren künftigen KundInnen zugedacht.
Kritik aus einer ganz anderen Richtung kommt von der Opposition im Kongress. Dort wird „Mein Haus, mein Leben“ als reine Wahlwerbung für Dilma Rousseff abgetan. Präsident Lula möchte seine Parteikollegin von der Arbeiterpartei PT, die derzeitige Ministerin des Präsidialamtes Casa Civil und damit seine rechte Hand in der Regierung, gerne zu seiner Nachfolgerin machen. Bei den Präsidentenwahlen im nächsten Jahr darf Lula laut Verfassung nicht mehr für eine dritte Amtszeit kandidieren. Deshalb bereitet er schon jetzt seine Nachfolge vor. Derzeit sieht man Dilma stets an Lulas Seite, wenn er neue Projekte einweiht oder Investitionen verkündet, so auch bei der Präsentation des Eine-Million-Häuser Pakets.
Wenn die Regierung auch stets abstreitet, dass es sich bei Dilmas Auftritten bereits um Wahlkampf handelt – denn dies wäre anderthalb Jahre vor der Wahl verboten – so ist doch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass das Paket zu einem Zeitpunkt verkündet wurde, der sicherstellt, dass die ersten Wohneinheiten genau zum Wahlkampf 2010 fertig sein dürften. Einen derartig vorzeigbaren Erfolg kann die – noch nicht offizielle – Kandidatin der PT sicher gut gebrauchen, denn die Projekte des ebenfalls von ihrem Ministerium koordinierten Programms zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums PAC kommen nicht so recht vom Fleck.
Das 2007 gestartete PAC sieht Investitionen von über einer Billion Reais in die öffentliche Infrastruktur vor und wurde in einer Wachstumsphase der brasilianischen Wirtschaft aufgelegt, um dieses Wachstum längerfristig zu garantieren. Im Zeichen der globalen Krise könnte das Programm nun zu einer weiteren Konjunkturspritze werden, würde es denn so laufen wie geplant. Viele Großprojekte kommen jedoch nur mit großer zeitlicher Verzögerung voran oder sind ganz gestoppt. Es mehren sich Anzeichen von Korruption bei der Vergabe von Aufträgen und in vielen Bereichen fehlt es schlicht an umsetzbaren Projekten. So sah das PAC allein für 2007 zehn Milliarden Reais für die prekäre Abwasserentsorgung in den brasilianischen Städten vor. Davon wurden aber nur dreieinhalb Milliarden wirklich investiert. Der Rest konnte nicht abgerufen werden, weil Städte und Gemeinden nicht genügend Fachleute haben, um Projekte zu entwickeln. In einer Zwischenbilanz Anfang Februar musste die Regierung eingestehen, dass derzeit erst 11 Prozent der geplanten Projekte abgeschlossen sind.
Während Dilma Rousseff also weiter um Popularität kämpfen muss, braucht sich Präsident Lula um Umfragewerte keine Sorgen zu machen. Mit seiner Kombination aus assistenzialistischer Sozial- und entwicklungsorientierter Wirtschaftspolitik gelang es ihm in den vergangenen Jahren die Mehrheit der BrasilianerInnen hinter sich zu bringen. Programme wie „Bolsa Familia“ konnten die extreme Armut spürbar verringern und vom stetigen Wirtschaftswachstum profitierte insbesondere die Mittelschicht.
Auch außenpolitisch kann Lula Erfolge verbuchen. Auf dem G 20 Gipfel Ende März kürte ihn US Präsident Obama kurzerhand zum beliebtesten Politiker weltweit. In London konnte Brasilien mit neuem Selbstbewusstsein auftreten, denn trotz erhöhter Arbeitslosenzahlen und geringerem Wirtschaftswachstum geht es dem Land im internationalen Vergleich gut. Vor allem der Bankensektor ist weit weniger von der Finanzkrise betroffen, als in anderen Ländern. Dies führte auf dem Gipfel zu der nie da gewesenen Situation, dass Präsident Lula dem Internationalen Währungsfonds Geld leihen will. Früher, so witzelte Lula, sei er gegen den IWF auf die Straße gegangen und heute gewährt er ihm Kredit. Das sei doch mal was!
Doch ohne Konjunkturprogramme kommt in Zeiten der weltweiten Krise auch die Wirtschaftspolitik der Regierung Lula nicht mehr aus. Neben PAC und dem Eine-Million-Häuser-Programm, werden zur Zeit ständig neue Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage ergriffen. Bis Ende Juni ist etwa der Kauf von Neuwagen steuerfrei. Im Gegenzug verzichten die Hersteller dafür vorerst auf Entlassungen. Und die öffentlichen Banken werden dazu gedrängt, die Zinsen für Kredite weiter zu senken. Dies führte Mitte April zur Entlassung des Präsidenten der Banco do Brasil, der sich gegen die Regierungspolitik ausgesprochen hatte.
Einen großen Teil der BrasilianerInnen dürfte es weniger interessieren, ob all diese Maßnahmen nun greifen oder nicht. Für sie ist es viel interessanter zu wissen, wann und wie sie zu einer der eine Million Wohnungen kommen. Nach den Erfahrungen mit PAC ist Präsident Lula allerdings vorsichtig mit einem Termin für deren Fertigstellung: „Wenn alles bereit wäre, könnten wir es in zwei Jahren machen. Aber festlegen lasse ich mich darauf nicht!“

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