„Wie Dünger für die Wiederaufforstung“
Nach dem Dammbruch der Bergbaudeponie bei Mariana winden sich die Firmen aus der Verantwortung
Es ist Donnerstag, der 5. November, früh am Morgen in Brasília. In Brasiliens Nationalkongress startet ein neuer Tag, die ersten Mitarbeiter*innen und Abgeordneten treffen in das von Oscar Niemeyer entworfene, an eine Schüssel erinnernde, Gebäude der Abgeordnetenkammer ein. Punkt acht Uhr endet auch automatisch die Frist eines 2007 eingereichten Gesetzesvorschlags. Die Initiative PL 436/2007 hatte nur einen neuen Gesetzesparagraphen als Ziel. Demnach sollte der Abschluss einer Unfall- und Schadensversicherung gegen Dammbrüche für alle Dämme im Land obligatorisch werden, sei es bei Stauseen für Trinkwasser- oder Wasserkraftgewinnung, sei es bei Bergbau- oder Mülldeponien. Dieser Gesetzesvorschlag war in den vergangenen Jahren laut Kongressunterlagen 70 Mal Gegenstand in verschiedenen Kommissionen des Kongresses zu Umwelt-, Bergbau-, Energie-, aber auch in denen zu Finanz- und Steuerfragen diskutiert worden. Er lag auch dem Plenum und dem Kongressvorsitz mehrmals zur Abstimmung vor. Zuletzt im Oktober, als die Abgeordneten den Gesetzesvorschlag dann endgültig abgelehnt hatten. Die Begründung: Er zeitige „finanz- und haushaltspolitische Ungleichgewichte“, die zu Mehrkosten der Öffentlichen Hand und der Konsument*innen führen würden. Es gab noch einige Wochen Widerspruchsfrist, aber kein*e Abgeordnete*r machte eine Eingabe. Um acht Uhr am Donnerstag, dem 5. November, wurde die Akte formell geschlossen.
Siebeneinhalb Stunden später, 875 Kilometer weiter südöstlich, in den Bergen von Minas Gerais. An dem Damm des Deponiebeckens Fundão der Erzbergminen Germano und Alegria finden seit Wochen Erweiterungsarbeiten statt. Denn die Eigentümerin, Samarco Mineração S.A., die je zur Hälfte den Bergbaugiganten Vale aus Brasilien und BHP Billiton aus Australien gehört, hat im vergangenen Jahr die Ausbeute des dortigen Minenkomplexes um satte 15 Prozent erhöht. Und jede Tonne gewonnenes Reinerz produziert auch fast eine Tonne Abraum, der in riesigen Staubecken unter Wasserzugabe deponiert wird. So haben sich im Staubecken von Fundão im Laufe der Jahre 62 Millionen Kubikmeter Klärschlamm aus der Erzgewinnung angesammelt. Dies entspräche 20.000 gefüllten Olympiaschwimmbecken. Im Umweltgutachten zu den Erweiterungsarbeiten am Damm, das LN vorliegt, wird den Behörden die Notwendigkeit der Bauarbeiten erklärt. „Diese Dämme sind mit ihren Rückhaltekapazitäten an ihrer Belastungsgrenze“, so das im Auftrag des Bergbauunternehmens erstellte und von den Behörden abgesegnete Gutachten. Um „einen reibungslosen Betrieb von Samarco für die Produktion von Erzkonzentraten zu gewährleisten“, müssten diese „Optimierungsarbeiten“ bei laufendem Betrieb erfolgen.
Um zwei Uhr am Nachmittag, so berichten Arbeiter*innen den Medien hinterher, habe es erste „merkwürdige Geräusche“ gegeben, die sie aber den regulären Bauarbeiten zuschrieben. Um halb vier kommt es zur Katastrophe. Der Damm des Deponiebeckens Fundão bricht und die Flutwelle aus Bergwerkklärschlamm ergießt sich ins Tal. Durch die in Bewegung geratene Masse wird auch der Damm des zweiten Klärbeckens, Santarém, in Mitleidenschaft gezogen. Die Schlammwelle bewegt sich direkt in Richtung der zweieinhalb Kilometer entfernt gelegenen, 600 Einwohner*innen zählenden, Gemeinde Bento Rodrigues. Elf Minuten später trifft die meterhohe Klärschlammwelle den Ort und fordert 13 Todesopfer. Bis heute gelten ein Dutzend Menschen als spurlos verschwunden, nahezu alle tiefer im Tal gelegenen Häuser sind komplett zerstört.
Die Warnfrist lag bei elf Minuten. Die hatten die Ingenieur*innen zuvor in ihren Berechnungen einkalkuliert, denn Fließgeschwindigkeiten von Klärschlamm lassen sich in etwa berechnen. Elf Minuten verblieben, um die Bewohner*innen der nächstgelegenen Ortschaft zu informieren. Sirenen, die die Menschen weiträumig hätten warnen können, gab es nicht. Sie waren auch im Bau- und Umweltplan nicht vorgesehen. Wozu auch? Es gab doch den Notfallplan, und der sah vor, die Bewohner*innen telefonisch zu warnen. Der Samarco-Präsident, Ricardo Vescovi, erklärte der Presse, die vor Ort verantwortlichen Mitarbeiter*innen hätten die Notfallnummern angerufen. Auf Nachfragen von Journalist*innen konnte er jedoch keine Angaben zur Anzahl der Anrufe und der Telefonnummern machen.
Der Dammbruch war weit zu hören. Überlebende berichteten, sie hätten Lärm aus Richtung des Dammes, eine aufsteigende Gischtwolke und gen Himmel stiebende Vögel wahrgenommen. „Da begann ich wie verrückt zu rennen“, erzählt Paula Geralda Alves der Zeitschrift Veja hinterher. Die 36-jährige Aushilfskraft war gerade mit ihrem Moped unterwegs, als sie den Lärm hörte. „Wie eine Verrückte raste ich die Straße runter und schrie ‚der Damm ist gebrochen, der Damm ist gebrochen‘. Erst als ich mit meinem Moped auf der Anhöhe ankam, schaute ich zurück und sah, dass dort alles schon zerstört war.“
Sandra Domertides Quintão war mit dem Auto unterwegs, mit dem sie Einkäufe für ihre kleine Pension machte. Sie hörte den Knall, sah die Wolke, hörte die ersten Schreie und reagierte schnell. Sie lud ihre Schwester und deren Tochter ins Auto und fuhr die Straße zu einer Anhöhe hoch. Sie überlebten. „Das ganze dauerte zehn Minuten, dann war unser Ort unter dem Schlamm verschwunden“,so die 44-Jährige gegenüber der Veja.
Elf Minuten Vorwarnzeit und weitere zehn Minuten, bis die bis zu zehn Meter hohe Klärschlammwelle durch den Ort durchgerast war und alles, was in ihrem Weg lag, zerstörte. Und der Klärschlamm-Tsunami walzte weiter. Nach über zwei Wochen, an der Küste des Bundesstaats von Espírito Santo, hatte die Schlammlawine das Flussbett des Rio Doce („Süßer Fluss“), eines der wichtigsten Flüsse der Region, auf einer Länge von über 800 Kilometer durchwalzt. Dort ist jegliche Flora und Fauna zerstört und der giftige Schlamm ergießt sich noch immer kilometerweit ins Meer. Tonnen toter Fische werden an die Ufer gespült, der obere Flusslauf, bis wohin Medienvertreter*innen von der Firma an die Unglücksstelle gelassen werden, sähe aus „wie ein Kriegsgebiet“. In weiten Teilen scheinen die Ufer des Flusslaufs „wie von einer roten Betonwand umrahmt“, die der nun langsam aushärtende Klärschlamm bildet, berichten die entsandten Reporter*innen von Brasil de fato.
Fischfang im ehemals süßen Fluss ist nirgends mehr möglich, hunderte von kleinen Städten können nun kein Trinkwasser aus dem Fluss mehr beziehen. Flussanwohner*innen, unter ihnen auch indigene Gruppen wie die Krenak, sind in ihrer Existenz bedroht. Für die Krenak ist der Rio Doce zentraler Bezugspunkt, wirtschaftlich und kulturell. Den Rio Doce nennen sie seit altersher Uatu Nek. „Wir Krenak sind traurig, denn Uatu Nek ist gestorben“, sagt der Indigene Itamar gegenüber dem Medienportal EM.
Die Krenak leben und arbeiten auf 4.900 Hektar Land in Resplendor im Osten von Minas Gerais, rund 500 Kilometer von der Landeshauptstadt Belo Horizonte entfernt, nahe der Grenze zum Bundesstaat Espírito Santo. Woher sollen sie nun die Fische zur Nahrung bekommen, woher das Trinkwasser nehmen, wenn der Fluss tot ist? Die gleichen Sorgen treiben die Kleinbäuerinnen und -bauern entlang des Rio Doce um. Sie alle sind einer Überlebenskrise ausgesetzt. Der Dammbruch bei Bento Rodrigues und seine Folgen für den Rio Doce werden mittlerweile allenthalben als „Fukushima Brasiliens“ tituliert.
Die Regierung Dilma Rousseff verhielt sich zunächst erschreckend passiv. Im Helikopter überflog sie die Unglücksstelle und ließ leichthin erklären, die Region werde wieder aufgebaut und der Fluss revitalisiert. Um den Betroffenen eine Soforthilfe zu ermöglichen, erließ die Regierung ein Dekret, das den Dammbruch als einer „natürlichen“ Ursache geschuldet deklarierte, um so Hilfszahlungen aus dem Sonderfonds der staatlichen Sozialversicherungsabgaben zu ermöglichen. Kritiker*innen empörten sich, dass diese Sofortnothilfe nicht von den verantwortlichen Firmen getragen wurde, sondern aus den Mitteln der von allen Arbeitenden getragenen Sozialversicherung kam.
Erst etliche Tage nach dem Dammbruch,verhängte die Regierung gegen die Firma Samarco eine Strafe in Höhe von 250 Millionen Reais, umgerechnet 62 Millionen Euro. Hinzu kamen weitere Strafzahlungen in Höhe von 50 Millionen Reais, die von den Landesregierungen eingefordert wurden. Ein Gerichtsbeschluss blockierte daraufhin die Konten der Bergbaufirma Samarco. Als die Behörden die Strafgelder einziehen wollten, so berichtete die Tageszeitung O Tempo Ende November, lagen auf dem Konto nur noch acht Millionen Reais, umgerechnet zwei Millionen Euro. Der zuständige Richter, Frederico Esteves Duarte Gonçalves, zeigte sich empört. „Der Beklagte ist mit dem Geld abgehauen!“ Noch vor zehn Monaten, so der Richter, lag der ihm bekannte Kontostand bei zwei Milliarden Reais, umgerechnet 500 Millionen Euro.
Währenddessen haben am 19. November in Perth in Australien Umweltschützer*innen auf der Hauptversammlung der BHP Billiton für Haftung des Multis und Entschädigung für die Betroffenen protestiert. Gleiches geschah bereits mehrmals vor dem Konzernsitz der Vale in Rio de Janeiro.
Ende November kündigte die Regierung an, von den Konzernen die Zahlung von umgerechnet fünf Milliarden Euro über zehn Jahre für den Wiederaufbau zu fordern. Umweltschützer*innen bezweifeln, dass dies ausreichen würde. Schätzungen belaufen sich auf umgerechnet rund 30 Milliarden US-Dollar, die zur Behebung der Folgen notwendig wären. Ob solch ein Betrag reichen würde oder ob es bei diesem Ausmaß der Katastrophe überhaupt technisch machbar wäre, den Fluss zu revitalisieren, ist fraglich. Es ist dabei nicht nur die schiere Masse an Klärschlamm, die sich im Flussbett bis hin zur Atlantikküste verteilt hat, sondern auch die Frage nach der Giftigkeit des Klärschlamms.
Noch Wochen nach dem Dammbruch beteuerte die Minenfirma unisono, der Klärschlamm sei nicht giftig. Anders als bei der Gold- oder Aluminiumgewinnung fielen bei der Erzgewinnung „keine nennenswerten toxischen Nebenstoffe an“, so die Firmenvertreter*innen. Der gleichen Ansicht schien auch die Regierung zu sein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Neun Tage nach dem Unglück, das Umweltschützer*innen und Menschenrechtsgruppen nicht als „Unglück, sondern als Verbrechen“ bezeichnen, ließ der Wasserversorger der Kleinstadt Baixo Guandu aber vorsichtshalber das Trinkwasser überprüfen. Baixo Guandu liegt etwas mehr als 500 Kilometer vom Dammbruch entfernt, an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo. Der für die Qualität des Trinkwassers zuständige Mitarbeiter der Wasserwerke ließ Wasserproben aus dem den Rio Doce hinuntertreibenden Schlammwasser entnehmen und im Labor untersuchen. „Es scheint, als hätten sie da die gesamte Periodentafel reingeschmissen!“, erboste sich Luciano Magalhães gegenüber den Medien. Neben dem erwarteten Eisen fanden sich im untersuchten Schlammwasser Arsen, Quecksilber, Mangan, Uran und Blei in massiver Konzentration, weit über allen Grenzwerten.
Samarco, Vale und BHP Billiton dementierten umgehend. Wenn diese Schwermetalle in dem Flusswasser gefunden wurden, so läge deren Ursprung nicht in der Mine von Germano, sondern sie seien schon zuvor im Flussbett gewesen und nun aufgespült worden. „Im Übrigen“, so die für Arbeitsgesundheit und Nachhaltigkeit zuständige Direktorin bei Vale, werde „der Schlamm wie Dünger für die Wiederaufforstung wirken“, der „Revitalisierung des Rio Doce“ stehe nichts entgegen.
Für Anfang Dezember wurden die ersten offiziellen Laboruntersuchungen erwartet, deren Bekanntgabe lag aber bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. Sollte die Analyse ebenfalls auf Schwermetalle in dem Maße hindeuten, wie die Untersuchung von Baixo Guandu ergeben hatte, so müssen die Fragen geklärt werden, ob sie, wie von Samarco, Vale und BHP behauptet, aus anderen Quellen stammen oder ob in die Klärschlammdeponie von Fundão andere als im Umweltgutachten bewilligte Stoffe verklappt wurden.
Die Folgen des Dammbruchs sind indes noch immer unabsehbar – und für die zigtausenden Anwohner*innen, die am und vom Fluss leben, ist das ganze ein Albtraum. Eigentlich vertraut fast niemand mehr darauf, dass alles „aufgeräumt“ werden könne.
Solche Zweifel sind durchaus berechtigt: Samarco haftet nur bis maximal zum Eigenkapital, die dahinter stehenden Eigentümerkonglomerate – Vale und BHP – tragen jenseits dessen keine Haftung. „Samarco ist eine eigenständige Aktiengesellschaft“, erklärten die Präsidenten von Vale und BHP auf ihrer ersten Pressekonferenz in Brasilien nach dem Dammbruch. „Und weder Vale noch BHP Billiton üben Einfluss auf die Geschäftstätigkeit und das Management aus.“ So einfach ist also die schöne Aktionärswelt: Profitabschöpfung durch Dividenden ist theoretisch nach oben unbegrenzt – die Schadenshaftung nach unten praktisch begrenzt.
Gegen Ende November stieg der Druck der Öffentlichkeit aber an, so dass Vale bekannt gab, Samarco, Vale und BHP würden sich an dem Fonds zum Wiederaufbau beteiligen – aber nur freiwillig. Dass eine Beteiligung auf „freiwilliger Basis“ erfolgt, ist der Rechtsgrundlage geschuldet – schließlich dürfen Entschädigungen auf „good will“-Basis in etwa der üblichen Höhe von Werbekosten entsprechen. Sollten die „freiwilligen“ Zahlungen deutlich höher ausfallen, hätten andere Anteilseigner*innen durchaus das Recht, die Firmenmanager*innen auf Veruntreuung des Firmenvermögens zu verklagen. Aktien- und Eigentumsrechte machen es möglich.
Indessen herrscht von Seiten der weiteren Geschäftspartner*innen eine Mauer des Schweigens. Die Allianz aus München hat den Damm gegen Schäden versichert. Presseberichten zufolge ist die Police auf maximal 60 Millionen Reais begrenzt. Die Allianz wollte sich gegenüber Medien dazu nicht äußern. Und wie sieht es bei den Abnehmern der Erzpellets aus? „97 Prozent unseres Erzverkaufs erfolgt ins Ausland“, so Samarco auf ihrer Webseite. Konzerne in den USA, China, Japan, Europa und dem Nahen Osten sind demnach die Hauptabnehmer. Laut deutscher Außenhandelsstatistik zählt Samarco zu den Firmen, die Produkte im Gegenwert von über 50 Millionen Euro nach Deutschland einführen – wie viel „über 50 Millionen Euro“ genau heißt, darüber gibt die Statistik keine Auskunft. Auf den Webseiten der üblichen Verdächtigen – Stahlkonzernen wie ThyssenKrupp oder Salzgitter – finden sich weder eine Kondolenzbotschaft noch Auskünfte darüber, wie man konkret die Sorgfaltspflichten in der Lieferkette seiner Lieferanten überprüft und einhält.
„Audits kosten Geld, Ihr Geld, werte Aktionäre“, so der Salzgitter-Chef Heinz Jörg Fuhrmann auf der Aktionärsversammlung 2015 in Braunschweig, angesprochen auf die Produktionsbedingungen bei ihren brasilianischen Erzzulieferern. Ob darunter auch Samarco ist? „Unsere Lieferanten sind alle ISO-zertifiziert“, erklärte Fuhrmann weiter. Dabei gehe es um die Normen ISO 9001 in Qualitätsfragen und ISO 1401 in Umweltfragen. Samarco hat diese beiden Zertifizierungen in den vergangenen Jahren stets erhalten.