Brasilien | Nummer 511 – Januar 2017

WIE IM KRIEG

Interview mit Monique Cruz von Justiça Global über Polizeigewalt in Brasilien

In keinem Land der Welt mordet die Polizei so häufig wie in Brasilien. Alle 2,5 Stunden stirbt ein Mensch durch Polizeigewalt. Schwarze Jugendliche mit geringem Einkommen sind überproportional betroffen. Doch die Kritik an der Polizei kommt nicht nur aus den Armenvierteln. Während der Demonstrationen gegen die Machtübernahme durch Michel Temer gingen Fotos und Videos durch die sozialen Netzwerke, die das brutale Vorgehen der brasilianischen Einsatzkräfte zeigten. LN befragten Monique Cruz von der Organisation Justiça Global (Globale Gerechtigkeit) zu Militarisierung und Repression.

Von Interview: Claudia Fix

Ende November wurden sieben junge Männer während eines Polizeieinsatzes im Stadtteil Cidade de Deus ermordet (siehe S. 54). Wie ist Ihre Einschätzung zu diesen Mordfällen?
Wir waren kurz nach den Morden dort. Die Bewohner des Stadtviertels haben eine Demonstration organisiert, und wir haben mit ihnen gesprochen. Die sieben Jungs wurden in einem kleinen Waldstück gefunden. Sie lagen alle zusammen, mit dem Gesicht zum Boden. Ihre Totenscheine werden nach und nach ausgestellt: Bei einigen steht der Todeszeitpunkt bereits fest, bei anderen nicht. Es gibt daher immer noch große Schwierigkeiten zu sagen, was genau vorgefallen ist. Die Angehörigen der Opfer mit Totenschein berichteten, dass der Tod während der Polizeiaktion eingetreten sei – entweder als Folge des Polizeieinsatzes oder einer Auseinandersetzung zwischen Miliz und Drogenhandel. Vieles spricht dafür, dass sie exekutiert wurden. Aber eine richtige polizeiliche Untersuchung hat noch gar nicht stattgefunden. Rio de Janeiro ist praktisch pleite und besitzt für die Sicherung von Spuren fast keine Mittel.

MONIQUE CRUZ recherchiert und forscht seit März 2016 für die Nichtregierungsorganisation Justiça Global in Rio de Janeiro zu „Institutionelle Gewalt und Öffentliche Sicherheit“. Die Nichtregierungsorganisation wurde 1999 gegründet und setzt sich für den Schutz der Menschenrechte, die Stärkung der Zivilgesellschaft und der Demokratie ein. Sie denunziert Menschenrechtsverletzungen und nimmt aktiv an Prozessen zur Neudefinition öffentlicher Politik teil. (Foto: Justiça Global)

Es gibt also noch gar keine konkreten Informationen darüber, wer die Jugendlichen ermordet haben könnte?
Nein, die gibt es nicht. Diese Region der Stadt ist sehr durcheinander. Es ist eine komplexe Situation mit der Präsenz des Drogenhandels auf der einen Seite und den Milizen auf der anderen – eine richtige Kriegsatmosphäre zwischen zwei bewaffneten Kräften. Rückblickend kann man sagen, dass es irgendeine Art von Invasion des Drogenhandels in die Gebiete der Milizen gegeben haben muss. Und die gewalttätige Reaktion der Polizeikräfte, in diesem Fall der Militärpolizei, hat die Situation noch verschärft. Heute existieren in Rio de Janeiro drei bis vier kriminelle Organisationen: der Drogenhandel, mit einigen Fraktionen innerhalb des Bundesstaates, und die Milizen. Die Milizen haben eine spezifische Struktur, weil sie von aktiven und ehemaligen Polizisten und Feuerwehrleuten gebildet werden. Sie sind aber ebenfalls kriminelle Organisationen.

Der Polizeieinsatz in der Cidade de Deus hat stundenlang gedauert – war das ein Einzelfall oder eher täglicher Normalzustand?
Das ist der Modus Operandi der Militärpolizei in Rio de Janeiro, aber auch der zivilen Polizei. Sie haben ein Protokoll für diese Art von Einsätzen und gehen immer so vor, insbesondere in den Favelas. An demselben Wochenende kam es auch zu Polizeieinsätzen im Complexo do Alemão, im Complexo da Maré, in Acari und Borel. Allerdings war der Einsatz in der Cidade de Deus sehr viel massiver als in den anderen Favelas. Die Bewohner berichten, dass es diese Polizeieinsätze täglich gibt, manchmal bis zum Morgengrauen. In den Favelas, in denen die UPP, die Einheiten der Befriedungspolizei stationiert sind, gibt es sowieso eine Polizeipräsenz rund um die Uhr. Zum Beispiel im Complexo do Alemão – dort kommt es seit 2010, und noch häufiger in den letzten beiden Jahren, buchstäblich jeden Tag zu einer Polizeiaktion, einen Fall von Polizeigewalt oder einen Todesfall durch einen Polizeieinsatz. Auch heute: Eine Frau wurde durch einen Kopfschuss getötet. Man spricht von einem Fehlschuss, aber im eigenen Haus durch einen Kopfschuss das Leben zu verlieren…

Diese Form von Polizeigewalt hat also nichts mit der aktuellen politischen Situation zu tun, wenn sie seit 2010 in dieser Form ausgeübt wird?
Sie hat damit zu tun, wie im Bundesstaat Rio de Janeiro das Konzept der öffentlichen Sicherheit definiert wird. Obwohl wir, seitdem im Oktober Roberto Sá Sekretär für öffentliche Sicherheit geworden ist, einen Anstieg der Polizeigewalt feststellen. Roberto Sá kommt aus dem Batallion für Spezialoperationen, dem Bope, aus dem er auch sein Team zusammengestellt hat. Der Bope ist darauf spezialisiert zu töten. Und zu foltern. Er kommt aus dieser Kriegslogik, in der das Gegenüber der Feind ist, der um jeden Preis vernichtet werden muss.
Eine Aktivistin aus einer Favela sagte mir neulich, dass es seit seiner Amtsübernahme einen Toten täglich gibt. Auch in dieser Woche waren es fünf Tote, in der Favela Chapadão. Und zwar ohne dass die großen Medien darüber überhaupt berichten. Nur in den sozialen Medien wird regelmäßig über Leichenfunde berichtet.

Bei Demonstrationen wird immer wieder die Abschaffung der Militärpolizei gefordert – ist sie ein Relikt der Militärdiktatur?
Eigentlich reichen die Wurzeln der Gewalt durch die Militärpolizei noch sehr viel weiter zurück, in die Anfänge der Polizei zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie wurde gegründet, um den portugiesischen Hof zu beschützen, der in diesem historischen Moment aus Europa nach Brasilien kam. Sie ist eine Institution, deren Aufgabe es war, geflohene versklavte Menschen zu jagen und zu töten. Sie bestand aus Männern, die so gewalttätig wie möglich waren, um den Versklavten Angst einzujagen. Das Symbol der Militärpolizei in Rio de Janeiro besteht aus einer Krone, einem Kaffeezweig und einem Zuckerrohr. Es repräsentiert also genau die Kräfte, für die Militärpolizei gegründet wurde. Sie institutionalisierte sich innerhalb dieses Machtgefüges. Und seither gibt es diese Stigmatisierung, wer der Kriminelle ist: ein Mann, normalerweise schwarz, jung und arm. Das heißt, die gegenüber den armen Bevölkerungsschichten ausgeübte Gewalt der Polizei gibt es seit ihrer Gründung.
Während der Militärdiktatur erhielt die Militärpolizei mehr Macht, und sie verfeinerte ihre Foltertechniken. Aber auch die zivile Polizei, also der Teil der Polizei, der eigentlich für die Aufklärung der Verbrechen zuständig sein sollte, für die Untersuchung der Fakten, ist in Rio de Janeiro ebenfalls stark militarisiert. Ich habe schon mehrere Male Angehörige von Opfern begleitet, während die zivile Polizei den Tatort untersuchte, und sie verhält sich gegenüber den Bewohnern der Peripherie genauso gewalttätig wie die Militärpolizei.

Könnte die Militärpolizei reformiert werden?
Was diskutiert werden müsste, ist die Demilitarisierung der Militärpolizei. Man muss diese Logik des Krieges beenden. Und die Militärpolizei sollte sich vor normalen Gerichten verantworten müssen, nicht vor speziellen Militärgerichten, die zunächst alle Todesfälle untersuchen, bei denen es um Polizeigewalt geht. Ich glaube, das ist das Hauptmerkmal, dass die Militärdiktatur hinterlassen hat: Dass diese gewalttätigen, rassistischen Militärpolizisten vor ihresgleichen vor Gericht stehen. Diese Polizei repräsentiert eine der rassistischsten Institutionen des brasilianischen Staates. Es gibt dieses Rechtskonstrukt des „Aktes des Widerstandes“, das heute „Tod in Funktion der polizeilichen Untersuchung“ heißt. Damit wird so getan, als hätte eine Person den Polizisten angriffen und dieser hätte in legitimer Selbstverteidigung gehandelt. Ein Prozess findet nicht statt und die Akte wird geschlossen. Aber eigentlich bedeutet es, dass die Polizei das Recht hat zu töten, dass es kein Mord sein kann, wenn ein Polizist tötet.

Bei den jüngsten Demonstrationen kam es zu massiven Repressionen gegen die Protestierenden. Stellen Sie eine Veränderung im Verhalten der Militärpolizei seit dem Wechsel der Präsidentschaft von Dilma Rousseff zu Michel Temer fest?
Ja, ohne jeden Zweifel. Der Polizeiapparat hat unter anderem auf den Diskurs des Justizministers Alexandre de Morais reagiert, der gesagt hat, dass man keine Studien zur Sicherheit mehr brauche – sondern zusätzliche Waffen für die Polizei. Das hat mit Sicherheit einen unmittelbaren Einfluss auf den Grad von Gewalt, um jede Form von Demonstration zu unterdrücken, die es für die Demokratie in Brasilien gibt. Und auch der Einsatz weniger tödlichen Waffen hat enorm zugenommen: Pfefferspray, Elektroschocks, Gummigeschosse, Gasbomben in allen möglichen Formen. Auch die Polizeitaktiken wurden verschärft, zum Beispiel durch den Einsatz des Hamburger Kessels. Die Militärpolizei hat diese Taktik am Ende der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro eingesetzt und die Menschen über Stunden festgehalten. Den Hamburger Kessel setzen sie auch in Favelas ein, zum Beispiel im Juli in Jacarézinho. Dort haben sie gleichzeitig acht Menschen ermordet.
Alexandre de Morais ist eine sehr emblematische Figur, mit einem äußerst aggressiven Diskurs, ebenso zur Bewaffnung der Streitkräfte wie auch zur Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit. Er hat einen viel kriegerischeren Diskurs als sein Vorgänger. Er gibt gewissermaßen freie Hand für den Tod und das Wegsperren von Menschen.

Was wäre denn ein gutes Konzept für öffentliche Sicherheit, was fordert Justiça Global?
Wir fordern, dass die Rechte der Bevölkerung vom Staat garantiert werden. Das heißt auch, dass wir eine andere Drogenpolitik brauchen. Der Krieg gegen die Drogen fordert jeden Tag acht Tote. Ganz zu schweigen von den absurden öffentlichen Ausgaben für diesen Krieg – das sind mehrere Milliarden Reais pro Jahr. Der Staat muss das Recht auf Leben der Menschen garantieren. Zusammengefasst fordern wir, dass es eine staatliche Politik gibt, in der es tatsächlich um öffentliche Sicherheit geht und nicht um einen Krieg.

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