Aktuell | Deutschland | Lateinamerika | Nummer 607 - Januar 2025

Wi(e)der die Knebelei von oben

Lateinamerikanische Migrant*innen prangern Zunahme staatlicher Repression an

Für politisch aktive, lateinamerikanische Migrant*innen in Berlin hat sich seit der Gewalteskalation in Gaza nach dem 7. Oktober 2023 viel verändert. Obwohl Lateinamerikaner*innen nicht zu der am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppe gehören, berichten palästina-solidarische Mitglieder der Community in verschiedenen Feldern wie Aktivismus, Akademie und Journalismus von wachsender staatlicher Repression. Damit zusammenhängend nehmen Ängste, aber auch die konkrete materielle Bedrohung von Aufenthaltsstatus und Lebensgrundlage zu, wie LN in dieser Reportage nachzeichnet. 

Von Lya Cuéllar, Johanna Fuchs, Melissa Medina Márquez
Internationale Solidarität Das Kollektiv Perrxs del Futuro bei einer ihrer Tanzperformances (Foto: Marcela Poblete Bravo)

¡Libertad para Palestina, libertad para Palestina!” Julia* läuft brüllend und wütend, aber im Cumbia-Takt. Sie und ihre Mitstreiter*innen des Kollektivs Perrxs del Futuro bringen Perkussionsinstrumente und Töpfe zu Protestaktionen mit, „um dem Demozug mehr Leben einzuflößen”, sagt sie. Wie jedes Jahr riefen am 25. November 2024 verschiedene internationalistische, zum Großteil migrantische Gruppen zur Demonstration zum Tag gegen Gewalt an Frauen auf. Die Perrxs del Futuro sind seit 2021 immer dabei, diesmal im kleinen Block von etwa 15 Frauen und nicht-binären Personen. Geplant war, mit weiteren feministischen Kollektiven in Berlin vom Oranienplatz in Kreuzberg bis zum Hermannplatz im Norden Neuköllns zu laufen.

Der Zug bewegt sich langsam: Bereits nach den ersten Blöcken fängt die Polizei an, Demonstrierende festzunehmen. Am Kottbusser Tor gehen sechs Polizisten direkt auf die Gruppe los und versuchen, ihnen ihr Banner aus den Händen zu reißen. Die Aktivist*innen halten das Banner fest, bis die Polizisten sie treten und mit Fäusten schlagen. Ein Polizist besprüht die Demonstrant*innen aus nächster Nähe mit Pfefferspray. „Direkt in die Augen, extrem gewalttätig”, sagt Julia. Erst dann haben sie losgelassen – nur eine Genossin hält noch ein zerrissenes Stück Stoff in der Hand.

Auf dem Banner steht: „Aus Abya Yala nach Palästina: Antikolonialer Widerstand.” Das lateinamerikanische Kollektiv Perrxs del Futuro versteht sich als feministisch, antirassistisch und antikolonial. Sie unterstützen widerständische Bewegungen in Lateinamerika und verbinden ihre Aktionen mit globalen und lokalen Kämpfen in Berlin. Ob durch Workshops, Demos, Tanz oder Soli-Partys: Sie sind seit ihrer Gründung 2020 zu einer Institution der politischen Szene in Berlin geworden. Ihre Performances auf der Straße, häufig zu lautem Reggaeton, sind fester Bestandteil der feministischen Demos – auch am 25. November wieder.

Den Kampf gegen genderspezifische Gewalt und die Solidarität mit Palästina sehen die Perrxs als untrennbar. „Für uns, aus der Perspektive feministischer und antirassistischer Kämpfe, ist es selbstverständlich, eine Bewegung zu unterstützen, die mit so viel Unterdrückung konfrontiert wird”, erklärt Julia. Der Aufruf für die Demo auf sozialen Medien stellt explizit Bezug zu Gaza her. Die Polizeigewalt am 25. November 2024 ist für sie keine Überraschung. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Demo, an der sie teilnehmen, von der Polizei angegriffen wird. „Bei den Palästina-Demonstrationen erleben wir das immer wieder, schubsen und drängeln, Festnahmen von Freund*innen, aber nicht auf so brutale Weise wie diesmal.” Sie wurden von der Aggression jedoch nicht eingeschüchtert: Nach einem Stopp bei den Sanitäter*innen laufen viele der Aktivist*innen weiter in der Demo.

Die Perrxs sind nicht das einzige migrantische oder sogar lateinamerikanische Kollektiv, das 2024 eine Veränderung wahrgenommen hat. Auch das Kollektiv Bloque Latinoamericano, das seit 2018 in Berlin aktiv ist, berichtet von einer noch nie zuvor erlebten Zunahme an Gewalt und Repression. „Bei Demonstrationen wie dem internationalistischen Pride mussten wir dieses Jahr mit polizeilicher Repression und Brutalität rechnen, weil die Demo auch das Leid in Gaza angeklagt hat”, erklärt Antonio*, der sich seit drei Jahren in der transfeministischen Arbeit des Bloque engagiert, im Gespräch mit LN.

Der Bloque entstand unter anderem aus der Motivation heraus, dem erstarkenden Rechtsextremismus sowohl in Europa als auch in Lateinamerika etwas entgegenzusetzen. Den Mitgliedern ist eine antikoloniale, antifaschistische und antiimperialistische Haltung wichtig. Obwohl sich ihr Aktivismus vor allem auf lateinamerikabezogene Themen fokussiert, betrachten sie die Solidarität mit Palästina als einen grundlegenden Bestandteil ihrer Werte. Die negative, gesellschaftspolitische Stimmung gegenüber palästina-solidarischen Protesten hat sich allerdings einschränkend auf ihren Aktivismus ausgewirkt. „Wir müssen unsere Teilnahme auf der Straße in Frage stellen, weil die Brutalität der Polizei zugenommen hat. Einige von uns haben Angst, weil sie einen prekären Aufenthaltsstatus haben, nicht abgeschoben werden wollen und daher vermeiden, in Konfrontation mit der Polizei zu geraten“, erzählt Carlos*, eine*r der Gründer*innen des Kollektivs. „Das Narrativ eines ‚importierten Antisemitismus‘ führt dazu, dass derzeit insbesondere die arabische, muslimische und türkische Gemeinschaft zur Zielscheibe für Angriffe werden”, erklärt er weiter. Jedoch würden sich die Konsequenzen dieses Diskurses mit der Zeit auch auf andere Gruppen ausweiten, zum Beispiel durch restriktivere Migrationsgesetze – eine besorgniserregende Entwicklung.

Im Gespräch mit LN betonen Carlos und Antonio, dass sie als Teil einer lateinamerikanischen Organisation nicht zu den am meisten betroffenen Gruppen gehören. Jedoch erzählt Carlos auch, dass mehr und mehr Menschen, die er kennt, und Organisationen, mit denen er zusammengearbeitet hat, kriminalisiert werden: „Die Einschläge kommen näher, der Kreis der Bedrohung wird immer enger.”

Dass die Bedrohung durch Kriminalisierung und damit einhergehend der potenzielle Verlust des Aufenthaltsstatus nicht nur eine gefühlte, sondern auch eine ganz konkrete ist, zeigt der Fall des ehemaligen Studenten Luis Cortés. Der studierte Rechtsanwalt aus Chile hat dieses Jahr seinen Master am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin abgeschlossen. Er ist aktiv in einem Bündnis von studentischen Kollektiven aus verschiedenen Hochschulen, die an ihren Universitäten Protestaktionen organisieren. Unter anderem nahm Cortés an der Besetzung eines Hörsaals der Freien Universität in Berlin-Dahlem im Dezember 2023 teil. Die Besetzung wurde nach einem Tag gewaltvoll von der Polizei geräumt. An jenem 14. Dezember stand Cortés nicht im Zentrum der Proteste, gehörte aber dennoch zu den Festgenommenen. Im Nachgang der Festnahme wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, welches noch im Gang ist. Obwohl das Urteil noch aussteht, spürt er schon jetzt die materiellen Konsequenzen: Die Verlängerung seines mittlerweile ausgelaufenen Visums wurde bis auf weiteres mit Bezugnahme auf das Strafverfahren ausgesetzt. Cortés zeigt sich entrüstet über die repressive Reaktion der Universitätsleitung und den als mangelhaft wahrgenommenen Rückhalt von Seiten der Mehrheit der Lehrenden.

Kriminalisierung hat Konsequenzen

Die Repression im Kontext universitärer Besetzungen geht jedoch über die studentischen Aktivist*innen und Organisator*innen hinaus. Auch die journalistische Arbeit ist davon betroffen: Am 23. Mai 2024 wurde der mexikanische Foto- und Videojournalist Ignacio Rosaslanda von seinem Arbeitgeber, die Berliner Zeitung, zum seit dem Vortag besetzten Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin geschickt. Als er um 14 Uhr dort eintraf, konnte er den Polizisten am Eingang mit seinem Presseausweis überzeugen, ihn als einen von nur vier bis fünf Journalist*innen einzulassen. Um 18 Uhr kam es zur Räumung der Besetzung. Rosaslanda filmte im vierten Stock, in den sich einige Studierende zurückgezogen hatten. Seine Kamera lief in dem Moment, in dem die Polizei dort ankam und die Barrikaden vor den Türen durchbrach. Die sechs Polizisten, die in den Raum strömten, störten sich zunächst nicht an ihm. Sie suchten nach den in einem anderen Raum verbarrikadierten Studierenden. Doch, wie auf der Aufnahme zu sehen ist, ging Rosaslanda plötzlich zu Boden: „Wie aus dem Nichts attackiert mich einer der Polizisten von hinten“, erzählt er im Gespräch mit LN. Er rief mehrmals „Ich bin Presse“, bevor das Video abbrach. Der Journalist sagt, der Polizist habe daraufhin sein Knie auf seinen Rücken gedrückt, ihm Handschellen angelegt und ihn, trotz Ermahnung durch im Camp anwesende Sanitäter*innen, circa eine Stunde lang so festgehalten, dass er kaum atmen konnte. Monatelang kämpfte Rosaslanda mit den physischen Folgen der Misshandlung. Doch „das Schlimmste am Ganzen war, dass ich meine Arbeit nicht vollständig ausführen konnte, ich konnte das Handeln der Polizei nicht dokumentieren, weil ich praktisch der erste Festgenommene auf dem Stockwerk war.“

Der Journalist bestand auf einer Erklärung der Aktion des Polizisten und einer Begründung für seine Festnahme. Statt Aufklärung erhielt er von der Polizei eine Anzeige: Es wird ihm vorgeworfen, er habe den Polizisten angegriffen, Widerstand gegen die Festnahme geleistet und schweren Hausfriedensbruch begangen. Er habe laut der Polizei kein Recht gehabt, im Gebäude zu sein. Dass ihm dies als Pressemitglied zustand und der Einlass sogar von der Polizei gewährt wurde, scheint keine Rolle zu spielen. „Nun wird es ein Urteil darüber geben, welches stellvertretend dafür steht, ob die Presse das Recht hat, im öffentlichen Interesse zu dokumentieren, oder ob es schwerer wiegt, dass die Polizei die Demokratie kurz mal aushebeln kann, wenn es ihnen genehm ist“, so Rosaslanda.

Enttäuschung über deutsche Medien

Seit über einer Dekade begleitet er soziale Bewegungen, Proteste und staatliche Repression in Mexiko professionell. Seinen Journalismus versteht er als einen menschenrechtsbasierten Dienst an die Öffentlichkeit, seine Rolle als Journalist sieht er in der Kontrolle des Staates. Nun arbeitet er seit etwa einem Jahr auch in Deutschland zu diesen Themen und ist desillusioniert: „Als ich begann, die Proteste zu Palästina zu begleiten, erschreckte mich das Handeln der Polizei. Ich war davon überzeugt gewesen, dass man in Deutschland ohne Repression protestieren könne.“ Nachdem er über viele Monate hinweg die Polizeigewalt gegenüber den Demonstrierenden dokumentierte, ist er nun auch selbst Betroffener.

Schulter an Schulter Ein großer Teil der lateinamerikanischen Community äußert sich palästinasolidarisch (Foto: Montecruz Foto)

Doch nicht nur das staatliche Handeln, auch die Perspektive der Medien irritieren ihn: „In Bezug auf dieses Thema scheinen sich Staat und Medien komplett einig zu sein. Das ist für mich nur sehr schwer zu akzeptieren“, kritisiert er. „Ich hatte in meiner Zeitung über lange Zeit hinweg das Gefühl, als ob ein Gebäude in Brand stünde, ich jedoch über die Eisdiele daneben berichten sollte.“ Der Reporter hatte laut eigener Aussagen immer wieder dafür kämpfen müssen, zu den Demos geschickt zu werden. Nach dem Vorfall an der HU wurde ihm dies nicht mehr gewährt. Stattdessen wurde seine zuvor mit viel Lob und Aufmerksamkeit bedachte Arbeit, trotz anfänglich gezeigter Solidarität durch Kolleg*innen und Vorgesetzte nach dem Angriff, zunehmend kritisch beäugt.

Ende September hielt er schließlich einen Brief mit der Kündigung in seinen Händen. Rosaslanda sieht sich mit einer dramatischen, prekären Situation konfrontiert. Sein Visum hängt von einer Arbeitsstelle ab. Der Ausgang seines juristischen Prozesses gegen die Polizei steht noch in den Sternen, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Korpsgeist häufig dafür sorgt, dass Polizist*innen sich gegenseitig decken. Mit der Berliner Zeitung, die als ehemaliger Arbeitgeber für die Kosten des Prozesses aufkommen muss, steht Rosaslanda wegen der Kündigung nun ebenfalls im juristischen Streit. Trotz all dieser Faktoren wird er weitermachen. „Statt den Mund zuzumachen, werde ich weiterhin laut sein,“ beteuert er entschlossen. Unter anderem arbeitet der Journalist an seinem Projekt „Unpublished“, das eine Plattform sein soll, die überprüft, wie das Thema Gaza und die Palästina-solidarischen Demonstrationen in deutschen Medien dargestellt werden.

Auch die lateinamerikanischen Aktivist*innen der Perrxs del Futuro, des Bloque Latinoamericano und der Studierendenbewegung wollen sich nicht zum Schweigen bringen lassen. „Als Community aus Abya Yala haben wir den Austausch gestärkt, wir sind jetzt noch besser miteinander vernetzt”, erzählt Julia. „Die Unsicherheit hat nie unsere politische Arbeit gestoppt”, versichert Antonio, „Ich bin motiviert, mich weiter zu organisieren.” Carlos stimmt dem zu: „Wir machen weiter, mit den Verbündeten, die wir immer hatten und in Solidarität mit denen, die am meisten die Zielscheibe von Repression und der Brutalität der Polizei sind.”

*Einige der Namen der Interviewten wurden auf Wunsch und aus Angst vor Repressalien von der Redaktion geändert.
Unsere Anfragen an die Polizei Berlin und die Berliner Zeitung auf Stellungnahmen blieben bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren