Gewalt und Staat | Mexiko | Nummer 580/581 - Oktober/November 2022

WIEDER KEINE WAHRHEIT?

Während Mexikos Präsident sich im Fall Ayotzinapa optimistisch gibt, sind Angehörige der 43 verschwundenen Studenten enttäuscht

Geleakte Daten, fragwürdige Ermittler*innen und ein immer mächtigeres Militär: Acht Jahre nach dem Verschwinden der 43 Studenten des Ayotzinapa-Lehrerseminars in der südmexikanischen Stadt Iguala stehen die Angehörigen vor einem Trümmerhaufen. „Jetzt wissen wir nicht mehr wohin. Alles ist konfus“, schreibt die Mutter eines der vermissten Männer anonym auf der Webseite des Menschenrechtszentrums Tlachinollan. Anstatt Familienangehörige zu unterstützen, verteidige die Generalstaatsanwaltschaft die Angeklagten. „Sie verbreitet Lügen und Unsinn, um uns zu beleidigen und zu verletzen“, kritisiert die Frau.

Von Wolf-Dieter Vogel

Foto: Festival Ambulante via Flickr, CC BY-SA 2.0)

Die Väter, Mütter und Geschwister der Studenten sind verwirrt und enttäuscht. Ende September hob die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen mutmaßliche Täter, die sie erst kurz zuvor erlassen hatte, wieder auf. Nun fällt es den Angehörigen schwer, an die Fähigkeit der Regierung zu glauben, die Verantwortlichen für das Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Geschweige denn aufzuklären, was mit den Lehramtsanwärtern passiert ist, die in der Nacht auf den 27. September 2014 verschleppt wurden. Die jungen Männer hatten damals mehrere Busse gekapert, um zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt zu fahren. Daraufhin wurden sie von Kriminellen und Sicherheitskräften angegriffen. Sechs Menschen starben, von den 43 fehlt bis heute fast jede Spur.

Nachdem die Regierung von Ex-Präsident Enrique Peña Nieto (PRI) alles dafür getan hatte, dass die Tathintergründe nicht ans Licht kommen, erklärte dessen Nachfolger Andrés Manuel López Obrador (Morena) den Fall bei seinem Amtsantritt 2018 zur Chefsache. Eine Wahrheitskommission sowie eine der Generalstaatsanwaltschaft (FGR) unterstellte Spezialeinheit zur Aufklärung des Verbrechens (UEILCA) wurden gegründet. Zudem setzte die seit Jahren arbeitende Expertengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (GIEI) ihre Recherchen fort.

Mitte August stellte der Vorsitzende der Wahrheitskommission, Alejandro Encinas, den Bericht der Kommission vor. Encinas, der auch Staatssekretär für Menschenrechte ist, bezeichnete den Angriff als „Staatsverbrechen“. Neben Ortspolizist*innen und Mitgliedern der kriminellen Organisation Guerreros Unidos seien auch Bundespolizist*innen und das Militär in die Tat verwickelt gewesen. Zudem hätte die Strafverfolgung bis hin zum damaligen Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam die Ermittlungen manipuliert und eine „historische Wahrheit“ vom Tatverlauf erfunden, um den Fall schnell abzuschließen. Die jungen Männer sollen von Ortspolizist*innen und Kriminellen entführt und auf einer Müllhalde verbrannt worden sein, erklärte Murillo Karam und wollte die Ermittlungen beenden. Damit habe man die Tat bewusst auf ein lokales Problem reduzieren wollen, resümierte die Wahrheitskommission: „Die Schaffung der ‚historischen Wahrheit‘ war eine konzertierte Aktion des Machtapparats, um zu verschleiern, was tatsächlich passiert ist.“

Wenige Tage nach der Vorstellung ihres Berichts erließ die FGR im August wie von der Sondereinheit UEILCA gefordert Haftbefehle gegen 83 mutmaßliche Verantwortliche: Politiker*innen, Beamt*innen, Kriminelle und Militärs. Ende September traf jedoch ein Richter auf Antrag des Generalstaatsanwalts Alejandro Gertz Manero eine Entscheidung, die viele Fragen aufwirft: Er hob die Haftbefehle gegen 21 Beschuldigte auf, von denen 16 der Armee angehören. Lediglich gegen vier Militärs werden die Haftbefehle aufrecht erhalten. Gertz Manero entschied sich zu diesem Schritt, ohne den UEILCA-Sonderstaatsanwalt Omar Gómez Trejo zu informieren. Das war auch ein Affront gegen die Angehörigen, denn der Jurist genießt bei ihnen großes Vertrauen. „Für uns als Eltern ist ziemlich klar, dass er das getan hat, damit die Ermittlungen nicht vorangehen“, schrieb die bereits zitierte Mutter. Auch von López Obrador ist die Frau enttäuscht: „Es scheint so, als ob nicht er regiert, sondern die Machthabenden des Militärs.“ Gómez Trejo trat nach Gertz‘ Entscheidung von seinem Posten zurück.

Ist die Militärführung so stark, dass sie über den Staatschef hinweg agieren kann? López Obrador verneint das und erklärt, gegen die 16 entlasteten Armeeangehörigen lägen keine Beweise vor. Auch Anwält*innen der Angehörigen halten nicht alle Haftbefehle für gut begründet. Dennoch sind sie verwundert über diese äußerst ungewöhnliche Entscheidung.

Außer Frage steht, dass das Militär die Ermittlungen beeinflussen kann. Jahrelang hatte die GIEI Zugang zu den Informationen der Streitkräfte gefordert, doch diese blockierten konsequent. Erst 2021 übergab die Armeeführung auf Druck des Präsidenten einzelne Dokumente. Seither verdichten sich Beweise dafür, dass Soldaten des in Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons an der Tat beteiligt waren. Zuletzt bestätigten abgehörte Telefongespräche, dass Mitglieder der Guerreros Unidos in engem Kontakt mit der Armee und der Marine standen. Weitere Aufzeichnungen lassen zudem vermuten, dass der Befehlshaber der Kaserne, José Rodríguez, für den Tod von sechs der Studenten verantwortlich ist. Dort sagt Rodríguez alias „El Coronel“ einem Mitglied der Guerreros Unidos: „Soldaten holen die Reste von Iguala“ und „bringen die meisten zum Bataillon“. Vier Tage lang sollen sich sechs Studenten in einem Lagerhaus befunden haben, bis sie ermordet wurden.

Ohnehin war das Militär vor, während und nach der „Nacht von Iguala“ über die Bewegungen der Studenten genau informiert. Die Armeeführung hatte zwei Spitzel in das linksgerichtete Lehrerseminar eingeschleust. Einer von ihnen zählt zu den 43 Verschleppten. Hätten sie die nötigen Informationen über ein gemeinsames Funksystem weitergegeben, hätten die Streitkräfte sowie Bundes- und Landespolizei die Studenten möglicherweise noch retten können. Obwohl es ihre Verpflichtung gewesen sei, alles für die Rettung ihres eigenen Soldaten zu tun, hätte das Militär nichts unternommen, kritisierte Encinas.

Doch die Einheiten hatten wohl kaum Interesse daran, die Männer zu retten oder den Fall aufzuklären. Einiges weist darauf hin, dass sie mit den Guerreros Unidos und Politiker*innen wie dem Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, im Drogenschmuggel kooperiert haben. „Wir wissen, dass es eine eindeutige Beziehung zwischen den Kartellmitgliedern, Angehörigen des Militärs, der Marine, Politikern und lokaler Polizei gibt“, bestätigt GIEI-Mitglied Ángela Buitrago. GIEI-Recherchen zufolge könnte sich in einem der gekaperten Busse Heroin befunden haben, das in die USA transportiert werden sollte. Das legen unter anderem Aussagen in einem Gerichtsverfahren in Chicago und abgehörte Telefongespräche nahe. Dieser Hintergrund würde erklären, warum die Angreifer mit solcher Gewalt gegen die Lehramtsanwärter vorgegangen sind.

AMLO will den Fall noch dieses Jahr abschließen

Wie weit die Macht solcher kriminellen Netzwerke reicht, zeigt sich in den Bemühungen Murillo Karams, die „historische Wahrheit“ festzuschreiben. Der ehemalige Generalstaatsanwalt unterstand direkt dem Präsidenten Peña Nieto. Gemeinsam mit dem Polizeichef Tomás Zerón, der von den Behörden gesucht wird und nach Israel geflüchtet ist, hat der Jurist Maßnahmen eingeleitet, um seine These zu untermauern. So zeigen Videoaufnahmen, die lange vom Militär zurückgehalten wurden, wie Marinesoldaten Behälter über den Müllplatz tragen und ein Feuer entzünden. Kurz darauf fanden Murillo Karams Ermittler dort die Knochen von einem der Verschwundenen. Ein fragwürdiges Beweismittel, zumal sonst nichts dafür spricht, dass die Studenten auf der Halde verbrannt wurden. An dieser These äußerte die GIEI schon von Anfang an Zweifel. Schließlich gab es nie Hinweise darauf, dass es dort ein Feuer in der Größe gegeben hatte, die für das Verbrennen von 43 Menschen nötig wäre. Um die „historische Wahrheit“ mit entsprechenden Aussagen zu untermauern, folterten die Strafverfolger mutmaßlich Verdächtige, die nach dem 26. September festgenommen worden waren. Viele von ihnen mussten deshalb später wieder freigelassen werden.

Murillo Karam wurde indes jüngst verhaftet. Die Vorwürfe: Verschwindenlassen, Folter und Behinderung der Strafverfolgung. „Murillo Karam soll einfach sagen, wer ihm den Auftrag gegeben hat“, reagierte Präsident López Obrador auf die Verhaftung. Allerdings dürfte er so gut wie niemand anderes wissen, dass das mit Blick auf das Militär nicht passieren wird. Jüngst hat die Hackergruppe Guacamaya über 4,1 Millionen geleakte Daten des Verteidigungsministeriums an Journalist*innen und Aktivist*innen weitergegeben. Mindestens 6.000 der Mails beschäftigen sich mit dem Ayotzinapa-Fall. In einem Schreiben an López Obrador fordert Verteidigungsminister Luis Crescencio Sandoval die Freilassung eines hochrangigen Militärs, der zu den Hauptverdächtigen zählt. Immer wieder bemüht sich Sandoval darum, Ermittlungen gegen Soldaten zu blockieren. Die Daten legen auch offen, dass die Streitkräfte Personen überwacht haben, die an der Aufklärung des Falls gearbeitet haben, unter ihnen Encinas und Menschenrechtsorganisationen.

Insgesamt bestätigen die geleakten Informationen die Macht des Militärs. Das spiegelt sich auch darin wider, dass die Armee mit Hilfe López Obradors zunehmend in zivilen Bereichen Verantwortung übernimmt: Sie kontrolliert Flughäfen, Großprojekte wie die Touristenbahn Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán, ist für die Beschränkung von Migration zuständig und führt geheimdienstliche Aktivitäten durch. Auch die als Polizeieinheit gegründete Nationalgarde soll dem Militär unterstellt werden. Dafür hatte sich Verteidigungsminister Sandoval seit 2018 stark gemacht.

Die Befürchtung jener anonym bleibenden Mutter eines der Studenten ist also durchaus berechtigt: Hat der Präsident die Macht, für Aufklärung zu sorgen? Wessen Spiel spielt Gertz Manero? Der oberste Strafverfolger, der stets López Obradors Rückendeckung hat, agierte mehrmals gegen jene, auf die die Angehörigen vertrauen: die Sonderstaatsanwaltschaft, deren bisherigem Chef García Trejo und die Expert*innen der GIEI. Doch während die Angehörigen desillusioniert sind, zeigt sich López Obrador optimistisch. „Wir wissen, was passiert ist. Es fehlen nur noch ein paar Aspekte, um alles zu vervollständigen“, sagte er und versprach: „Dieses Jahr werden wir Ayotzinapa abschließen.“

Nicht wenige Menschenrechtsaktivist*innen und die Angehörigen befürchten jedoch ein trauriges Ende. Schließlich will López Obrador seine Amtszeit erfolgreich beenden, die Aufklärung des Falls zählte zu seinen größten erklärten Zielen. Soll nun eine zweite „historische Wahrheit“ festgeschrieben werden, in der, wie in der ersten, die Hintermänner straflos bleiben?

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