Wildgewordenes Billardspiel
Ein Weg in die Labyrinthe des Latin Jazz
Die erste Frage, die auftaucht, definiert schon das Problem: Was ist Latin Jazz ? Die Verbindung música latina und Jazz scheint zu suggerieren, daß zwei unterschiedliche Dinge kombiniert sind, wobei die Dominanz auf letzterem liegt. Nicht jazz latino – sondern anscheinend eine Unterart des Jazz, Latin Jazz eben. Aber so einfach ist es nicht.
Fängt man an, eine kleine Phänomenologie der Musik zu basteln, in der sich Teile von música latina & jazz vermischen, stellt man erschrocken fest, daß die Angelegenheit schnell ausufert. Fangen wir einfach mal an, willkürlich aus den Vinyl- und CD-Regalen gezerrt und ohne jede Art von Anspruch auf Vollständigkeit:
W.C. Handys “St. Louis Blues” hat einen deutlichen Tango- Teil, im Spiel des Chicagoer Pianisten Jimmy Yancey finden wir Tango-Figuren in Hülle und Fülle, die Bässe sind oft Habanera-Linien. Astor Piazzollas Tango Nuevo wurde von Kritikern sofort als Jazz (dis)qualifiziert; wenn Piazzolla etwa mit Gerry Mulligan spielt, gibt’s keine Diskussionen. Der brasilianische Altsaxophonist Paulo Moura hat in den frühen 60er Jahren mit seinem Kollegen Cannonball Adderley funky Jazz gespielt, heute nimmt er in Brasilien Dinge auf, auf denen Latin Jazz draufsteht. Latin Jazz sind die Bossa-Nova-Hits von Stan Getz & Astrud Gilberto (wobei via Getz die jiddischen Klezmer-Traditionen, die Jazz auch hat, ins Spiel kommen). Jazz & Latin sind vermischt bei Bands wie den “Skatelites” aus New York, die eben Ska aufregend als Jazz spielen – oder Jazz als Ska ?. Der (weiße) Kalifornier Andy Narell spielt in einer Band des Kubaners Paquito D’Rivera calypsoartige Steelpans – das nennt sich “The Caribbean Jazz Project”. Seit den vierziger Jahren und besonders seit Dizzy Gillespies Zusammenarbeit mit diversen kubanischen Percussionisten gilt “Cubop” als gesicherte Art des Latin Jazz, und Duke Ellingtons “Caravan”, eine Komposition von Juan Tizol, ist ein Evergreen im Latin-Idiom. Lorenzo Tio war um die Jahrhundertwende ein einflußreicher Klarinettenlehrer in New Orleans, bei dem Heerscharen von Jazz-Klarinettisten gelernt haben. Manuel Pérez war Chef eines Orchesters, das als “typisch” für die Kindertage des Jazz gilt. In der Bronx von heute spielen in Formationen wie “Jerry González & The Fort Apache Band” weiße und schwarze, anglo- und hispanophone Menschen deutlich Latin Jazz. Und die spannenden neuen Musiker des avancierten mainstream haben Namen wie David Sánchez, Danilo Pérez, John Benítez oder Steve Berrios (und sind bei genauer Betrachtung so jung gar nicht mehr). Gonzalo Rubalcaba aus Kuba spielt im avantgardistischen Free-Music-Idiom, Fernando Tarrés aus Buenos Aires macht in größeren und kleineren Besetzungen improvisierte Musik irgendwo zwischen Free Jazz, Tango und europäischer Kunstmusik. Und nicht zu vergessen die Formationen, die Latin Jazz in die Supermärkte gebracht haben: “Sergio Mendes & Brazil ’66” (ff.) und “Herb Alpert’s Tijuana Brass”. Der große Tenorsaxophonist Joe Henderson weist immer wieder darauf hin, daß der funk von Horace Silver in den 60ern, der wider den blutleeren Ästhetizismus des (weißen) West Coast Jazz als Rückbesinnung auf die schwarze soul music , als back to the roots gefeiert wurde, ganz entscheidende Latin-Züge hatte.
The spanish tinge of Jazz
Ralph Mercado, der Besitzer des Plattenkonzern(chen)s RMM und durchaus skeptisch zu betrachtender “Händler” von Latin Music aller Genres, versammelt die Creme des Latin Jazz von Tito Puente über Mongo Santamaria bis zu Giovanni Hildago, Eddie Palmieri und Juan Pablo Torres zu Mega-Sessions, die ganz gezielt die Funktion des berühmten Jazz at the Philharmony übernehmen wollen: Popularisierung mittels eines riesigen Staraufgebots.
Und dann ist da natürlich noch die oft zitierte Äußerung eines der Gründungsväter des Jazz: Jelly Roll Morton, der mit einiger Plausibilität behauptet, Jazz ohne den berühmten spanish tinge sei sowieso unvorstellbar. Er meinte dabei nicht die iberische Halbinsel. Trotzdem wühlte man bei Miles Davis’ “Spanish Key” aus dem epochemachenden “Bitches Brew”-Album verzweifelt nach der einen Flamenco-Figur, die im tonalen Zentrum stecken soll, und übersah doch hin und wieder, daß der ganze Titel über einen lupenreinen boogaloo läuft.
Ad infinitum. Quer durch die Jahrzehnte, quer durch die Geographie, quer durch vier Sprachräume: Spanisch, Portugiesisch, Englisch, Französisch. Will man diesen Wust sortieren, wird’s problematisch. Einmal, weil sich Musikgeschichte nicht nach den Bedürfnissen von Klassifikationen richtet (zumindest solange die Musik noch lebt und sich so verändert, wie es ihr gefällt). Zum anderen, weil Definitionen ins Spiel kommen, die sofort wieder unsinnige Ausgrenzungen vornehmen müssen. Wer guten Gewissens meint zu wissen, was Jazz ist, der kann, wenn er auch noch guten Gewissens zu wissen meint, was Latin bedeutet, festsetzen, daß Latin Jazz eben Jazz ist, der mit lateinamerikanischen Rhythmen versehen, zum Vortrag gebracht wird. Zum Beispiel: Das SFB-Tanzorchester ohne Streicher, aber dafür mit zwei Conga-Spielern gibt “In the mood” (wobei ich aufrichtig hoffe, daß es dieses Beispiel nicht wirklich gibt). Latin Jazz ?
Oder: Wenn der kolumbianische Pianist Héctor Martignon einen Titel einspielt, der auf einem 7/4 Takt balkanesischen Ursprungs beruht, was dann ? Martignons Klavierspiel ist nunmal “jazzig”, weil er nach bestimmten Konventionen und Standards von Jazz phrasiert und weil er nach Maßgabe des unnotierbaren Phänomens Swing swingt (wir wissen alle, was swing ist, wenn wir es hören, resp. vermissen; die musiktheoretischen Grundlagen kann ich hier nicht reproduzieren). Akzeptieren wir mal, er spielt nach den Mustern von “Bebop” und “Postbop” oder “Neobop” oder wie auch immer die hier fällige Schublade heißt – und fügt dann zu den balkanesischen sieben Vierteln auch noch rhythmische Figuren hinzu, die deutlich lateinamerikanischen Ursprungs sind – Latin Jazz ?
Oder: Was macht der Gitarrist Fareed Haque, der überhaupt nicht aus dem weiten karibischen, gar afrokaribischen Kontext, sondern aus einer pakistanisch-chilenischen Familie kommt, sein Handwerk am Flamenco gelernt hat und plötzlich in einem kubanisch/exilkubanischen Reunion-Projekt auftaucht (demjenige der beiden Ex-“Irakere”-Musiker Arturo Sandoval und Paquito D’Rivera, die man wegen ihrer jeweils eigenen Spielweise sowieso nur als Jazz-Musiker bezeichnen kann) und dort zwischen Bop und Rock alles spielt, was gerade gebraucht wird? Latin-Jazz?
Noch’n bißchen komplizierter: Die beiden Bandoneon-Virtuosen Dino Saluzzi (aus Argentinien) und René Marino Rivero (aus Uruguay) benutzen für ihre sperrig-faszinierende Musik alle Möglichkeiten, die ihnen Astor Piazzollas Tango Nuevo bietet, dazu die, die Free Jazz von der Sorte geöffnet hat, den man nicht mehr mit den Parametern von swing etc., sondern nur als “Entgrenzung” von einst gebundenen Spielweisen verstehen kann. Sowohl bei Saluzzi als auch bei Rivera ist der Tango noch da, in Taktpartikeln, in Rhythmusfetzen und als “Atmosphäre”, aber er ist durch den Filter von Free Music gegangen. Latin-Jazz?
Wildgewordenes Billardspiel
Man sieht: Ich benutze Jazz als Redekonvention, nicht als terminus technicus. Mit Latin meine ich alles, was südlich der USA anzusiedeln ist. Und begehe schon wieder eine grobe Vereinfachung. Es ist in der Tat so, daß wir unter Jazz eine Musikform verstehen, die in den USA entstanden und zur Blüte gebracht worden ist. Aber was da in den USA entstanden ist, ist deswegen nicht zwangsläufig rein US-amerikanisch. Wie auch ? Die Musikgeschichte des Großraums zwischen New York City und Buenos Aires ist ein wildgewordenes Billardspiel über viele Banden, die Andalusien heißen und somit Nordafrika, Westafrika und Böhmen, Bayern, Bretagne, Sizilien, Mexiko, Brasilien, what ever. Wobei die Kugeln von jeder Bande mit neuen Schichten überzogen zurückkommen. Volksmusik aus Kastilien geriet auf Kuba mit westafrikanischer Rhythmik zusammen, hüpfte als obzöne zarabanda nach Spanien zurück oder als lasziver Fandango, wurde nebst ein paar maurischen Einsprengseln von einem italienischen Komponisten, der vielleicht wie Boccherini gerade am verlotterten Madrider Hof gestrandet war, in die Musiksprache des Spätrokoko umgegossen, geriet mit einem Liebhaber an Bord eines englischen Kriegsschiffes nach Sta. Lucia, wurde dort neu rythmisiert und ricochettierte fröhlich zwischen den Inseln umher, bis er in New Orleans in das einfloß, was man später Jazz nennen wird.Vermutlich könnten musikhistorische Genies solche Reisen sogar rekonstruieren.
Unzähliger solcher Kugeln sind unterwegs, in alle Richtungen. Melodien, Liedformen, Rythmen, Akzentuierungen, Instrumente, Instrumentenbehandlung, Texte, timings – das ganze Sachwörterbuch der Musik rauf und runter. Bläser zum Beispiel: Dizzy Gillespie, eine der ganz entscheidenden Figuren für Latin Jazz, hat seit den vierziger Jahren immer wieder mit Latino-Musikern gespielt – er saß in der Band von Machito (= Raul Grillo) und in der von Alberto Socarras, er holte Chano Pozo in seine Band und seitdem jeden, der Rang und Namen in der spanisch und portugiesisch sprechenden Musikwelt hat. Umgekehrt saß etwa der Kubaner Mario Bauzá als musikalischer Direktor dort, wo Harlem am “schwärzesten” war – in der Band von Chick Webb, bei dem (Spurensuche !) auch die junge Ella Fitzgerald angefangen hat.
Dizzy und Monk schätzten Latin
Wie man also Big-Band-Sätze arrangiert, das ist auch so eine Billardkugel. Besonders intensiv saust sie zwischen Kuba, Mexiko, Kolumbien und den USA hin und her.
Es gibt auch ein paar unschöne, weil politische Implikationen. Die allerdings haben vermutlich weniger mit den Musikern und der Musik selbst als mit den Sekundärbearbeitern, den Vermarktern und den jeweiligen ideologischen Kriegsgewinnlern zu tun.
Jazz oder Salsa
Dennoch, um ein paar Punkte kommt man nicht herum: “Schwarz” in den USA scheint nicht gleich “Schwarz” zu sein. Anglophone Schwarze und hispanophone Schwarze (resp. frankophone, resp. “britophone”, nämlich Westindies) haben, folgt man den entsprechenden Diskussionen, Probleme, sich gegenseitig wahrzunehmen. Der eingangs zitierte Don Cherry ist eher die Ausnahme. Der Streit, der in den letzten Jahren als “Marsalis”-Debatte berüchtigt geworden ist, zeigt die Bruchstellen sehr schön: Es ging unter anderem darum, wer die Definitionsmacht über (nicht nur) den Teil der Black Culture hat, die man “Jazz” nennt. Die sogenannten “Neocons” um den Trompeter Wynton Marsalis wollen Jazz als die “klassische” Musik der Schwarzen mit einem normativen Kanon versehen, aus dem alles getilgt ist, was ihre Definition überschreitet – grob gesagt von Louis Armstrong bis Thelonius Monk. Dazu gehört auch der Sündenfall “Bitches Brew” von Miles Davis. Die andere Position, vertreten durch den Trompeter Lester Bowie, argumentiert für einen weit offeneren Begriff von Jazz, mit allen gesellschaftspolitischen Implikationen. An einem Punkt ist man sich allerdings fatal einig: Jazz sei eine anglophone Veranstaltung, ein Ding, das nur in den USA stattfinde. Und was spanischsprachig ist, das trommele vielleicht im Hintergrund. Ansonsten handele es sich wohl um Salsa.
Achtung: Das ist arg vereinfacht, hat aber ein Gran Wahrheit. Der entscheidende Punkt für mich ist nicht, daß es sich dabei um einen unschönen Reflex auf die auch von anglophonen Schwarzen als Bedrohung empfundene Hispanisierung der USA handelt (und das Dumme an den “specs” ist, daß sie alle möglichen Schattierungen von Schwarz, Nicht-Schwarz, indígena und Braun aufweisen). Dies ist sowieso eine demoskopische Tatsache und wird noch sehr schöne Probleme machen. Nein, der Punkt, der hier interessiert, ist, daß das Latin-Element verschwindet hinter einem merkwürdig idolatrisierten “Afrika” und somit einem sehr eigenartig blankgeputzten back to the roots. All die rhythmischen und tanzbaren Zaubereien, die der Latin-Jazz so wunderbar und virtuos vorführt (ob sie aus Kolumbien oder Venezuela stammen, aus Kuba oder Santo Domingo), werden anscheinend als authentisch “afrikanisch” begriffen. Als ob diese Rhythmen und ihre wichtige spezifische Semantik aus den Jahren 1492ff. direkt und unverändert ins späte 20. Jahrhundert gesprungen sind. Als ob neben der rhythmischen Genialität die melodischen und thematischen Komponenten von Musik, die aus den hispano- und frankophonen Teilen Amerikas ins US-Amerikanische gedrungen sind, keine Rolle gespielt haben. Da entsteht in manchen Köpfen (und vor allem in einer flugs nachplappernden Publizistik) eine unschöne, weil ganz und gar falsche “Sauberkeit”.
Die Verwirrung, die das Thema Latin Jazz anrichten kann (und die ich hier bewußt angerichtet habe), ist das beste Antidot gegen einfache Weltbilder. Was tun ? Musik hören.