Musik | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Wildgewordenes Billardspiel

Ein Weg in die Labyrinthe des Latin Jazz

“Würden die Blacks Spanisch lernen und sich mit den Latins zusammentun, bildeten sie die Mehrheit in Amerika. Ich habe oft davon geträumt, daß Schwarze und Latins sich ver­einen würden, eben die Synthese, die es in der Musik längst gibt.” Diese bei­den Sätze des Trompeters Don Cherry aus einem Interview mit Christian Broecking sind für das Thema Latin Jazz erstaunlich instruktiv.

Thomas Wörtche

Die erste Frage, die auftaucht, de­finiert schon das Problem: Was ist Latin Jazz ? Die Verbin­dung música latina und Jazz scheint zu sugge­rieren, daß zwei unter­schiedliche Dinge kom­biniert sind, wobei die Dominanz auf letz­terem liegt. Nicht jazz latino – son­dern anscheinend eine Unterart des Jazz, Latin Jazz eben. Aber so ein­fach ist es nicht.
Fängt man an, eine kleine Phäno­menologie der Mu­sik zu ba­steln, in der sich Teile von música latina & jazz vermi­schen, stellt man er­schrocken fest, daß die Angelegen­heit schnell ausufert. Fangen wir einfach mal an, willkürlich aus den Vinyl- und CD-Regalen gezerrt und ohne jede Art von Anspruch auf Vollständigkeit:
W.C. Handys “St. Louis Blues” hat einen deutlichen Tango- Teil, im Spiel des Chica­goer Pianisten Jimmy Yancey fin­den wir Tango-Fi­guren in Hülle und Fülle, die Bässe sind oft Habanera-Linien. Astor Piaz­zollas Tango Nuevo wurde von Kritikern sofort als Jazz (dis)qualifiziert; wenn Piazzolla etwa mit Gerry Mulligan spielt, gibt’s keine Dis­kussionen. Der brasilianische Altsaxophonist Paulo Moura hat in den frühen 60er Jahren mit seinem Kollegen Cannon­ball Adderley funky Jazz ge­spielt, heute nimmt er in Brasi­lien Dinge auf, auf denen Latin Jazz draufsteht. Latin Jazz sind die Bossa-Nova-Hits von Stan Getz & Astrud Gilberto (wobei via Getz die jiddischen Klezmer-Traditio­nen, die Jazz auch hat, ins Spiel kommen). Jazz & Latin sind ver­mischt bei Bands wie den “Skatelites” aus New York, die eben Ska aufre­gend als Jazz spielen – oder Jazz als Ska ?. Der (weiße) Kalifor­nier Andy Narell spielt in einer Band des Ku­baners Paquito D’Rivera calypso­artige Steelpans – das nennt sich “The Caribbean Jazz Project”. Seit den vierziger Jahren und be­sonders seit Dizzy Gillespies Zusam­menarbeit mit di­versen kubanischen Percussio­nisten gilt “Cubop” als gesicherte Art des Latin Jazz, und Duke El­lingtons “Caravan”, eine Kom­position von Juan Tizol, ist ein Evergreen im Latin-Idiom. Lo­renzo Tio war um die Jahrhundert­wende ein einfluß­reicher Klarinet­tenlehrer in New Orleans, bei dem Heer­scharen von Jazz-Klarinetti­sten gelernt ha­ben. Manuel Pérez war Chef ei­nes Or­chesters, das als “typisch” für die Kindertage des Jazz gilt. In der Bronx von heute spielen in Forma­tionen wie “Jerry González & The Fort Apache Band” weiße und schwar­ze, anglo- und hispano­phone Menschen deut­lich Latin Jazz. Und die spannenden neuen Musiker des avan­cierten main­stream ha­ben Namen wie David Sánchez, Danilo Pérez, John Be­nítez oder Steve Berrios (und sind bei genauer Be­trachtung so jung gar nicht mehr). Gonzalo Rubalcaba aus Kuba spielt im avantgardistischen Free-Music-Idi­om, Fernando Tarrés aus Bu­enos Aires macht in größeren und kleineren Be­setzungen im­provisierte Musik irgendwo zwi­schen Free Jazz, Tango und eu­ropäischer Kunstmusik. Und nicht zu vergessen die Forma­tionen, die Latin Jazz in die Supermärkte ge­bracht haben: “Sergio Mendes & Brazil ’66” (ff.) und “Herb Alpert’s Tijuana Brass”. Der große Tenorsa­xophonist Joe Hen­derson weist immer wieder darauf hin, daß der funk von Horace Silver in den 60ern, der wi­der den blutleeren Ästhetizismus des (weißen) West Coast Jazz als Rückbesinnung auf die schwarze soul music , als back to the roots gefei­ert wurde, ganz entscheidende Latin-Züge hatte.

The spanish tinge of Jazz

Ralph Mercado, der Besitzer des Plattenkonzern(chen)s RMM und durch­aus skep­tisch zu be­trachtender “Händler” von La­tin Music aller Genres, versammelt die Creme des La­tin Jazz von Tito Puente über Mongo Santa­maria bis zu Giovanni Hildago, Eddie Palmieri und Juan Pablo Torres zu Mega-Sessions, die ganz gezielt die Funktion des be­rühmten Jazz at the Philharmony übernehmen wollen: Popularisie­rung mit­tels eines rie­sigen Staraufge­bots.
Und dann ist da natürlich noch die oft zitierte Äuße­rung ei­nes der Gründungsväter des Jazz: Jelly Roll Morton, der mit eini­ger Plausibi­lität be­hauptet, Jazz ohne den be­rühmten spanish tinge sei sowieso unvorstellbar. Er meinte dabei nicht die ibe­rische Halbinsel. Trotz­dem wühlte man bei Miles Davis’ “Spanish Key” aus dem epoche­ma­chenden “Bitches Brew”-Album verzwei­felt nach der einen Fla­menco-Figur, die im to­nalen Zentrum stecken soll, und übersah doch hin und wie­der, daß der ganze Titel über einen lupen­reinen boogaloo läuft.
Ad infinitum. Quer durch die Jahrzehnte, quer durch die Geogra­phie, quer durch vier Sprachräume: Spanisch, Portu­giesisch, Eng­lisch, Franzö­sisch. Will man diesen Wust sor­tieren, wird’s problema­tisch. Einmal, weil sich Musikgeschichte nicht nach den Be­dürfnissen von Klas­sifikationen richtet (zumindest solange die Musik noch lebt und sich so verändert, wie es ihr ge­fällt). Zum ande­ren, weil Defini­tionen ins Spiel kommen, die so­fort wieder un­sinnige Ausgren­zungen vornehmen müssen. Wer guten Gewissens meint zu wis­sen, was Jazz ist, der kann, wenn er auch noch guten Gewissens zu wissen meint, was Latin bedeu­tet, festsetzen, daß Latin Jazz eben Jazz ist, der mit la­teinamerikanischen Rhythmen ver­sehen, zum Vortrag ge­bracht wird. Zum Beispiel: Das SFB-Tanzorchester ohne Streicher, aber dafür mit zwei Conga-Spielern gibt “In the mood” (wobei ich auf­richtig hoffe, daß es dieses Beispiel nicht wirklich gibt). Latin Jazz ?
Oder: Wenn der kolumbiani­sche Pianist Héctor Martignon einen Titel einspielt, der auf ei­nem 7/4 Takt balkanesi­schen Ur­sprungs beruht, was dann ? Mar­tignons Kla­vierspiel ist nun­mal “jazzig”, weil er nach bestimm­ten Konventionen und Standards von Jazz phrasiert und weil er nach Maßgabe des un­notierbaren Phänomens Swing swingt (wir wissen alle, was swing ist, wenn wir es hören, resp. ver­missen; die mu­siktheo­retischen Grund­lagen kann ich hier nicht repro­duzieren). Akzeptieren wir mal, er spielt nach den Mustern von “Bebop” und “Postbop” oder “Neobop” oder wie auch immer die hier fällige Schublade heißt – und fügt dann zu den balkanesi­schen sieben Vierteln auch noch rhythmi­sche Figuren hinzu, die deut­lich lateinamerikani­schen Ursprungs sind – Latin Jazz ?
Oder: Was macht der Gitarrist Fa­reed Haque, der überhaupt nicht aus dem weiten ka­ribischen, gar afrokari­bi­schen Kontext, sondern aus einer pakista­nisch-chileni­schen Fami­lie kommt, sein Handwerk am Flamenco gelernt hat und plötz­lich in einem kuba­nisch/exil­kubanischen Reunion-Pro­jekt auf­taucht (demjenige der beiden Ex-“Irakere”-Musiker Arturo Sandoval und Paquito D’Rivera, die man wegen ihrer je­weils eige­nen Spielweise so­wieso nur als Jazz-Musi­ker be­zeichnen kann) und dort zwi­schen Bop und Rock alles spielt, was ge­rade ge­braucht wird? La­tin-Jazz?
Noch’n bißchen komplizierter: Die bei­den Bandoneon-Virtuo­sen Dino Sa­luzzi (aus Argen­tinien) und René Marino Rivero (aus Uruguay) benutzen für ihre sperrig-faszinierende Mu­sik alle Möglich­keiten, die ihnen Astor Piazzollas Tango Nuevo bie­tet, dazu die, die Free Jazz von der Sorte geöffnet hat, den man nicht mehr mit den Para­metern von swing etc., son­dern nur als “Entgrenzung” von einst ge­bundenen Spielwei­sen ver­stehen kann. Sowohl bei Saluzzi als auch bei Rivera ist der Tango noch da, in Taktpartikeln, in Rhythmus­fetzen und als “Atmo­sphäre”, aber er ist durch den Filter von Free Music gegan­gen. Latin-Jazz?

Wildgewordenes Billard­spiel

Man sieht: Ich benutze Jazz als Redekonvention, nicht als termi­nus technicus. Mit Latin meine ich alles, was süd­lich der USA anzusie­deln ist. Und be­gehe schon wieder eine grobe Verein­fachung. Es ist in der Tat so, daß wir unter Jazz eine Mu­sikform verstehen, die in den USA entstanden und zur Blüte ge­bracht worden ist. Aber was da in den USA entstanden ist, ist deswe­gen nicht zwangsläufig rein US-ame­rikanisch. Wie auch ? Die Musik­geschichte des Groß­raums zwi­schen New York City und Buenos Aires ist ein wild­gewordenes Billardspiel über viele Banden, die Andalusien heißen und somit Nor­dafrika, Westafrika und Böhmen, Bay­ern, Bretagne, Sizi­lien, Mexiko, Bra­silien, what ever. Wobei die Kugeln von jeder Bande mit neuen Schich­ten überzogen zu­rückkommen. Volks­musik aus Kasti­lien ge­riet auf Kuba mit westafrikani­scher Rhythmik zu­sammen, hüpfte als ob­zöne zara­banda nach Spanien zurück oder als lasziver Fandango, wurde nebst ein paar maurischen Ein­sprengseln von ei­nem italieni­schen Komponisten, der viel­leicht wie Boccherini gerade am verlot­terten Madrider Hof ge­strandet war, in die Musikspra­che des Spätrokoko umgegos­sen, geriet mit einem Liebha­ber an Bord eines englischen Kriegs­schiffes nach Sta. Lucia, wurde dort neu rythmisiert und ricochet­tierte fröhlich zwischen den Inseln umher, bis er in New Or­leans in das ein­floß, was man spä­ter Jazz nen­nen wird.Ver­mutlich könnten musikhi­storische Genies sol­che Reisen so­gar rekonstruie­ren.
Unzähliger sol­cher Kugeln sind un­terwegs, in alle Richtun­gen. Melo­dien, Liedformen, Ryth­men, Akzentu­ierungen, Instru­mente, Instrumentenbe­hand­lung, Texte, ti­mings – das ganze Sachwörterbuch der Mu­sik rauf und runter. Bläser zum Beispiel: Dizzy Gillespie, eine der ganz entschei­denden Figuren für Latin Jazz, hat seit den vier­ziger Jahren immer wie­der mit Latino-Mu­sikern gespielt – er saß in der Band von Machito (= Raul Grillo) und in der von Alberto Socarras, er holte Chano Pozo in seine Band und seitdem jeden, der Rang und Namen in der spa­nisch und portugiesisch spre­chenden Musik­welt hat. Umge­kehrt saß etwa der Kubaner Ma­rio Bauzá als musika­lischer Di­rektor dort, wo Harlem am “schwärzesten” war – in der Band von Chick Webb, bei dem (Spurensuche !) auch die junge Ella Fitzgerald ange­fangen hat.

Dizzy und Monk schätzten Latin

Wie man also Big-Band-Sätze arran­giert, das ist auch so eine Billardkugel. Be­sonders in­tensiv saust sie zwischen Kuba, Mexiko, Ko­lumbien und den USA hin und her.
Es gibt auch ein paar un­schöne, weil poli­tische Implika­tionen. Die allerdings haben vermutlich weni­ger mit den Mu­sikern und der Musik selbst als mit den Sekundärbearbeitern, den Vermarktern und den jewei­ligen ideologischen Kriegsge­winnlern zu tun.

Jazz oder Salsa

Dennoch, um ein paar Punkte kommt man nicht herum: “Schwarz” in den USA scheint nicht gleich “Schwarz” zu sein. Anglo­phone Schwarze und hi­spanophone Schwarze (resp. frankophone, resp. “brito­phone”, näm­lich Westindies) haben, folgt man den entspre­chenden Diskus­sionen, Pro­bleme, sich gegen­seitig wahrzuneh­men. Der ein­gangs zitierte Don Cherry ist eher die Ausnahme. Der Streit, der in den letzten Jahren als “Marsalis”-Debatte be­rüch­tigt gewor­den ist, zeigt die Bruch­stellen sehr schön: Es ging un­ter anderem darum, wer die Definiti­onsmacht über (nicht nur) den Teil der Black Culture hat, die man “Jazz” nennt. Die sogenannten “Neocons” um den Trompeter Wynton Marsalis wollen Jazz als die “klassische” Musik der Schwarzen mit einem normativen Kanon versehen, aus dem alles ge­tilgt ist, was ihre Definition überschreitet – grob gesagt von Louis Armstrong bis Thelonius Monk. Dazu ge­hört auch der Sünden­fall “Bitches Brew” von Miles Davis. Die an­dere Position, vertre­ten durch den Trompeter Lester Bowie, argu­mentiert für einen weit offe­neren Be­griff von Jazz, mit allen gesell­schaftspolitischen Impli­kationen. An einem Punkt ist man sich aller­dings fatal einig: Jazz sei eine anglo­phone Veran­staltung, ein Ding, das nur in den USA stattfin­de. Und was spa­nischsprachig ist, das trommele viel­leicht im Hinter­grund. An­sonsten handele es sich wohl um Salsa.
Achtung: Das ist arg verein­facht, hat aber ein Gran Wahr­heit. Der ent­scheidende Punkt für mich ist nicht, daß es sich dabei um einen un­schönen Re­flex auf die auch von anglo­phonen Schwarzen als Be­drohung empfundene Hispanisie­rung der USA handelt (und das Dumme an den “specs” ist, daß sie alle mögli­chen Schattierun­gen von Schwarz, Nicht-Schwarz, indí­gena und Braun aufwei­sen). Dies ist so­wieso eine de­moskopi­sche Tatsa­che und wird noch sehr schöne Pro­bleme ma­chen. Nein, der Punkt, der hier interes­siert, ist, daß das La­tin-Element verschwindet hin­ter ei­nem merkwür­dig idola­trisierten “Afrika” und somit ei­nem sehr eigen­artig blankgeputz­ten back to the roots. All die rhythmi­schen und tanzbaren Zaube­reien, die der La­tin-Jazz so wun­derbar und virtuos vorführt (ob sie aus Kolumbien oder Ve­nezuela stam­men, aus Kuba oder Santo Domingo), werden an­scheinend als au­thentisch “afrikanisch” be­griffen. Als ob diese Rhythmen und ihre wich­tige spezifi­sche Seman­tik aus den Jahren 1492ff. direkt und unverändert ins späte 20. Jahrhun­dert gesprungen sind. Als ob neben der rhythmi­schen Ge­nialität die me­lodischen und the­matischen Kompo­nenten von Musik, die aus den hi­spano- und franko­phonen Teilen Amerikas ins US-Amerikanische ge­drungen sind, keine Rolle ge­spielt haben. Da entsteht in man­chen Köpfen (und vor allem in einer flugs nachplap­pernden Publizi­stik) eine un­schöne, weil ganz und gar falsche “Sau­ber­keit”.
Die Verwirrung, die das Thema La­tin Jazz anrichten kann (und die ich hier bewußt ange­richtet habe), ist das be­ste Anti­dot gegen einfache Weltbilder. Was tun ? Musik hö­ren.

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