“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”
LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mitglied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommission von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bundesstaates Chiapas teil. Im Moment befindet sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konfliktzone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Einhaltung der Menschenrechte und ganz besonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der Demokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gangbar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artikulieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör verschaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikanischen Bevölkerung repäsentieren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu erreichen, mit Mißtrauen beobachtet, allerdings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zusätzlich existieren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politischen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des bewaffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahesteht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-militärische Führung der ZapatistInnen anerkennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene sprechen. Aber es meldet sich auch eine andere Kraft zu Wort, die die Position vertritt, die Bewegung, inklusive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhaltenden Volkskrieg zu beginnen. Glücklicherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Ernesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkammer, die den Wahlausschluß bestimmt, ernannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl denken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfprogramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter anderem ermöglicht, demokratische Repräsentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In diesem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. November auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Zedillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht werden. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Avendaño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Aktionsprogramm für die politische Forderung nach Demokratie nach diesem Wahlprozeß, nimmt wieder den Weg der Mobilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexikanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es gewünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außerdem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerInnenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde dadurch die Demobilisierung des mexikanischen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem imaginären Mexiko lebten. Mexiko erschien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklichkeit verändert sich Mexiko zu einem Land, in dem eine unglaubliche Konzentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindrukkenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Unterbeschäftigten. Praktisch gibt es zwei Mexikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” vergleichen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern verschiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Republik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Millionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbildung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizipation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hegemoniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das erlaubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Arbeitsplätze, man braucht eine andere Logik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Regionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wälder – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Mexiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizischen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Interessen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundesstaaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu regionalisieren, und auf Chiapas zu begrenzen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den Indígenas, und besonders in Chiapas ausdrückt, ist es weder ein Problem der Indígenas noch von Chiapas. Armut, Ungerechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demokratie und das des Regimes der Staatspartei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chiapas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerInnen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch größere Stabilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiterschaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Nationalen Indígena- und Campesinokonvent, bald wird es den Nationalen Studentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusammengeschlossen. Auch die “untere Mittelschicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen werden, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der guatemaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chiapas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wurden schon autonome Regionen ausgerufen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzurüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder einer einfachen Lösung. Die einfache Variante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lösung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisierung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die Indígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas geschehen wird, wird sich in ganz Mexiko widerspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.