Aktuell | Kolumbien | Musik | Nummer 607 - Januar 2025

„Wir sind die Handwerker des Rock“

Interview mit der kolumbianischen Rock-Band Aterciopelados

Andrea Echeverri und Héctor Buitrago stehen seit über 30 Jahren auf der Bühne und singen als Aterciopelados („Die Samtigen“) von einer besseren Welt. Kürzlich sind sie in Berlin aufgetreten und brachten ihrem größtenteils lateinamerikanischen Publikum ein Stück Heimat mit. Die LN hat die beiden getroffen und mit ihnen über ihre Texte, Inspirationen, Feminismus und darüber, was für sie Erfolg bedeutet, gesprochen.

Interview: Annabelle Köchling
Konzert in Berlin Die kolumbianische Rockband Aterciopelados tourte im Herbst durch Europa (Foto: Leonard Mikoleit)

Wie ist es, zurück in Europa zu sein?
Andrea Echeverri (AE): Toll! In all den Städten kommen viele Lateinamerikaner zu unseren Konzerten, oft zusammen mit ihren Partnern. Und sie sind alle ganz glücklich. Den meisten fehlt ihre Heimat.

Verhält sich das Publikum hier in Europa beziehungsweise in Deutschland anders als in Lateinamerika?
Héctor Buitrago (HB): Wie Andrea sagt: Die Leute fühlen sich hier teilweise einsam und dann entsteht bei unseren Konzerten eine Nostalgie und auch viel Dankbarkeit, weil sie so weit weg von Zuhause sind und wir ihnen ein Stück davon mitbringen.

Euch gibt es nun schon seit mehr als 30 Jahren. Wollt ihr heute in euren Liedern etwas anderes ausdrücken als damals?
AE: Es gibt einige Themen, die uns seit dem Anfang begleiten: Natur und Umwelt, Feminismus, die Verbindung zu unseren Ahnen und Identitätssuche. Das sind Themen, die sich immer wiederholen. Manche vertiefen sich auch.
HB: Ja, wir singen über das Gleiche, aber die Welt hat sich verändert. Das, was damals alternativ war, ist es heute nicht mehr. Obwohl manche Themen die gleichen sind, entwickeln wir uns darin, was deren Ausdruck angeht. Es kommen aber auch neue Themen hinzu.
AE: Ja, denn man reflektiert das Leben. Wir haben ein paar Platten, die aus der Zeit sind, als ich Kinder bekam. Und dann haben wir Lieder übers Altern. Du sprichst darüber, was dir passiert. Jetzt gibt es ein paar Songs, die von sozialen Netzwerken handeln. Für die neue Platte habe ich ein paar Lieder, die sich um die Mädchen von heute drehen. Ich war immer gegen Stereotype. Vor allem gegen das Stereotyp reina („Königin“). Ich bleibe provokativ. (lacht)

Siehst du heute einen Unterschied zum Feminismus von vor 25 Jahren?
AE: Klar, total. Alle, die nackt herumrennen, nennen sich heute Feministinnen. Der Feminismus ist ein bisschen konfus geworden. Man streitet sich um Definitionen. Meine Tochter ist 22 und manchmal hält sie mir Vorträge darüber, was man sagen darf. Aber ich glaube, am Ende geht es darum, das zu verteidigen, was man fühlt. Nicht mit dem einverstanden zu sein, was gerade in Mode ist. Man muss den eigenen Raum verteidigen, das ist eine Art Selbstverteidigung.

Geht es da auch um die Verantwortung als Frau?
AE: Ja, und darum, einen weiblichen Raum zu schaffen. Der, der existiert, ist sexualisiert, stereotypisch. Und es geht darum, darüber hinauszuwachsen. Wir sind viele und alle sind anders. Jede fühlt etwas anderes, nicht jede will zum Beispiel sexy sein.

Ja, manche wollen Antidiva sein…
AE: Exakt.

Fühlt ihr euch in der Verantwortung, die Menschen mit euren Texten zu mobilisieren?
AE: Nicht unbedingt. Manchmal begegnet dir auch etwas auf deinem Weg. Vor ein paar Jahren hatten wir ein Projekt, das ovarios calvarios hieß (in etwa: „Eierstöcke auf dem Leidensweg“). Das ist entstanden, als wir mit Frauen zusammensaßen, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Eine Frau meinte, ich solle ein Lied darüber schreiben. Und ich habe gleich drei geschrieben. Wenn dich jemand um so etwas bittet, und noch dazu mich als Frau … Uns allen ist doch mal etwas passiert, auch wenn es nur Kleinigkeiten waren.

Motivieren euch solche Anlässe, auch nach 30 Jahren noch Musik zu machen?
HB: Ja, eine Motivation ist, bei Kampagnen mitzuwirken, zum Beispiel fürs Wasser oder die Umwelt. Jetzt sind wir zum Beispiel bei der Kampagne Soundsright dabei. Wenn man dort unsere Lieder hört, wird Geld gespendet. Eine erste Summe wurde schon übergeben.
AE: Die Menschen kommen zusammen und das ist schön, das gibt Kraft. Eine Frau in Dublin hat sogar geweint, als wir aufgetreten sind. Es berührt, wenn die Menschen so glücklich sind, uns zu sehen, es streichelt die Seele. Auch wenn wir nicht in den Top eins sind, haben wir uns einen Platz erkämpft. Wir sind die obreros del rock („Handwerker des Rock“). Wir sind immer noch gefragt und werden engagiert.

Es geht also auch um den Erfolg?
AE: Nicht unbedingt. Wir sind unter den 100 wichtigsten Liedern in Kolumbiens Geschichte gelandet. Charts sind noch mal was anderes. Aber wir behalten einen Platz. Das ist schön, auch für Leute wie mich, denen nicht gefällt, was in Mode ist. Und es ist wichtig, dass es Vielfalt gibt. Das befriedigt einen.
HB: Für mich ist es auch die Lust darauf, mehr Lieder zu produzieren. Zu schauen, wie neue Lieder und ihre Botschaften entstehen. Wir haben immer wieder herumexperimentiert und das machen wir auch weiterhin. Jedes Mal, wenn wir ein Lied fertigstellen, ist das ein neuer Erfolg. Wir drücken aus, was uns in diesem Moment bewegt. Und dann aufzutreten und die Leute zu sehen, die uns all die schönen Sachen sagen! Wir sind kein Mainstream, aber es gibt einige Menschen, die uns folgen, auf unsere Auftritte warten und uns treu sind.

Aterciopelados

wurde 1990 in Kolumbien gegründet und besteht seitdem aus der Sängerin und Gitarristin Andrea Echeverri und dem Bassisten Héctor Buitrago. Die restliche Besetzung wechselt. Aterciopelados mischt Rock mit Folklore, Einflüssen aus dem Progressive Rock, Alternative Rock, elektronischer Musik, Mariachi, Bolero, Cumbia, Vallenato und anderen kolumbianischen Stilen. Für ihr Album Claroscura („Halbdunkel“, 2018) bekamen sie ihren dritten Grammy Latino in der Kategorie „Bestes alternatives Album“. Im November 2024 erschien eine neue EP mit drei Songs, im Februar 2025 wird eine weitere EP erscheinen.


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