Kolumbien | Nummer 483/484 - Sept./Okt. 2014

„Wir sind kriegsmüde“

Interview mit dem kolumbianischen Historiker Carlos Miguel Ortiz über die auf Kuba aktuell stattfindenden Friedensgespräche

Juan Manuel Santos versprach bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen eine neue Ära der Versöhnung im 50-jährigen kolumbianischen Konflikt. Sein knapper Sieg weckte Zweifel an den ohnehin schwierigen Verhandlungen. Die LN führten ein Gespräch mit Carlos Miguel Ortiz über den aktuellen Stand und über die Strategie von „Vergeben und Erinnerung“.

Interview: Daniela Rivas

Am 20. Juli feierte die Nationale Befreiungsarmee (ELN) ihr 50-jähriges Bestehen. Im Rahmen dessen feuerte sie zwei explosive Zylinder auf ein Ölfeld in Arauca ab und verletzte 13 Personen. Wie wirkt sich das auf mögliche Verhandlungen mit dieser Guerilla aus?
Grundsätzlich sind mögliche Verhandlungen dadurch nicht betroffen, weil der Regierung klar ist, dass mit den FARC und möglicherweise mit der ELN mitten im Konflikt verhandelt werden muss. Einerseits ist das Militär verfassungsrechtlich verpflichtet, die Guerilla weiter zu bekämpfen, bis diese die Waffen abgegeben hat. Andererseits tun die ELN und die FARC das, was sie seit 50 Jahren tun, nämlich Krieg führen. Ein grundlegender Unterschied zwischen den aktuellen und früheren Friedensverhandlungen ist, dass wir uns zum ersten Mal der Unterzeichnung eines Friedensvertrags nähern. In Kolumbien haben wir aus der Vergangenheit gelernt: Drei verschiedene Präsidenten versuchten bereits Frieden zu schließen. Jedes Mal war der Waffenstillstand eine grundlegende Voraussetzung, die keine Seite einhielt. Unter der Präsidentschaft Pastranas (1998-2002) konnten sich beispielsweise die FARC in eine entmilitarisierte Zone so groß wie die Schweiz zurückziehen; dennoch benutzten sie das Gebiet dazu, alle Arten von Gräueltaten zu begehen und ihre militärische Macht zu festigen. So hätte man sich nie auf ein Abkommen einigen können.

Wovon hängt der Erfolg der laufenden Verhandlungen in Havanna ab?
Dass kein Waffenstillstand vereinbart wurde, ist nur ein Teil der Voraussetzungen. Der Erfolg der laufenden Verhandlungen hängt von der Art und Weise ab, wie die Diskussionen geführt werden, und von der militärischen Lage, in der sich die Guerillas zurzeit befinden. Vor den Verhandlungen, das heißt, während der zwei Amtszeiten Uribes und der ersten Amtszeit Santos’, wurden die FARC schwer getroffen. Als sie einen beträchtlichen Teil ihrer Gründer verloren hatten, wurden ihre militärische Schwäche und das Fehlen eines politischen Motivs offensichtlicher. Der „Dritte Weg“, den Santos als Alternative für Kolumbien entwirft, beinhaltet eigentlich zwei Optionen für die Guerilla: entweder weiterzukämpfen und zu versuchen, die militärische Überlegenheit zurückzugewinnen. Das wäre unter Berücksichtigung des technologischen Fortschritts der kolumbianischen Armee unwahrscheinlich. Oder sich als Guerilla die Frage zu stellen, ob ihre historische Mission bereits erfüllt ist. Das hieße, die Waffen niederzulegen und sich in das politische Leben zu integrieren.

Das Abkommen wird jedoch durch ein Referendum vom Volk bewilligt…
Ja, und deswegen ist die öffentliche Meinung entscheidend, wenn auch klar geteilt. Denken Sie daran, dass die meisten Kolumbianer die Guerillas völlig ablehnen und, nach 50 Jahren Kampf, ein allgemeiner Hass ihnen gegenüber herrscht. Die Diskussion konzentriert sich auf die Art und Weise, wie der Konflikt zu beenden sei. Ein Teil der Bevölkerung fordert die Inhaftierung und Verurteilung der Kämpfer, ohne über die Strafen zu verhandeln. Sie verlangen eine bedingungslose Kapitulation. Bis dies der Fall ist, hat die Regierung die Pflicht, die FARC militärisch weiter zu bekämpfen. Diese Position wird vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe Vélez vertreten. Auf der anderen Seite erkennt die Hälfte der Kolumbianer an, dass die Möglichkeit zu einem baldigen und friedlichen Ende des Konflikts wahrgenommen werden muss. Die Verhandlungen sollen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Guerilleros nach ihrer Entwaffnung in die Gesellschaft und in das politische Leben integriert werden.

Was bedeutet die Wiederwahl von Santos für die Friedensverhandlungen?
Mit der Wiederwahl konsolidiert sich der Friedensprozess. Wenn es Santos nicht gelingt, das Friedensabkommen in naher Zukunft zu unterzeichnen, müssen die Kolumbianer wahrscheinlich wieder mehrere Jahre auf eine neue Chance warten. Es ist wichtig zu bedenken, dass Santos im rechten politischen Lager einzuordnen ist und Uribes Verteidigungsminister war. Zwischen 2006 und 2009 führte die Armee eine Reihe von militärischen Schlägen gegen die FARC durch, die sich dadurch strukturell verändern mussten. 2012 distanzierte sich Santos endgültig vom uribismo und beschloss, über den Frieden zu verhandeln. Dies wurde von Uribe als Verrat empfunden und stellt somit einen Aspekt der jetzigen politischen Auseinandersetzungen im Land dar. Ein anderer Punkt ist, dass Santos auf die Unterstützung wirtschaftlicher Kreise zählt. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ohne das Stigma eines bewaffneten Konflikts könnte sich das Land ökonomisch entwickeln. Da die Geschäftsleute den Militarismus Uribes überdenken und beginnen ihn abzulehnen, erhöhen sich die Chancen auf erfolgreiche Gespräche in Havanna.

Allerdings gibt es Kritik in Bezug auf den Mangel an Bürgerbeteiligung. Wie sehen Sie das?
In einer Demokratie müssten die Bürger in bestimmte politische Entscheidungen mit einbezogen werden. Aber der Konflikt in Kolumbien ist sowohl wegen seiner Dauer als auch wegen der Vielfalt seiner Akteure sehr komplex geworden. Da die Verhandlungen mitten im Konflikt stattfinden, ist es wichtig, einen Rahmen der Diskretion zu schaffen, der konstruktive Gespräche in Richtung Frieden zulässt. In Kolumbien ist die Möglichkeit latent, dass die Gegner des Friedensabkommens nach dem politischen Interesse ihrer eigenen Gruppen (wie im Fall von Uribe) versuchen, die bereits gemachten Fortschritte zu boykottieren. Erst wenn alle Punkte der Verhandlungen in Havanna abgestimmt sind, werden sie der Bevölkerung als Referendum vorgelegt. Dies ist eine Maßnahme der Regierung, die für notwendig gehalten wird, obwohl sie nicht ideal für die Demokratie ist, sondern nur praktisch.

Welche Rolle spielen die Opfer des Konflikts?
Da die Opfer eine zentrale Rolle in diesem Konflikt spielen, werden sie in Havanna einbezogen. Diejenigen, die nach Kuba gereist sind oder reisen werden, sollen alle Verbrechen rekonstruieren, die im Rahmen des Konflikts begangen worden sind. Dies ist wichtig, weil bei früheren Friedensprozessen die Opfer ausgeschlossen wurden. In diesem Moment werden die direkten Opfer des Konflikts auf fünf Millionen geschätzt. Sie haben ein Recht auf die Aufklärung der Verbrechen der Guerillas, Paramilitärs und der staatlichen Armee: wer die Täter waren, wo die Vermissten sind.

Denken Sie, dass in Kolumbien ein anhaltender Frieden geschaffen werden kann?
Der Frieden in Kolumbien muss auf Basis von „Vergeben und Erinnerung“ geschlossen werden, nicht auf Basis von „Vergeben und Vergessen“. Dieser Prozess ist kompliziert, weil die Kolumbianer sich mit den Traumata von 50 Jahren Gräueltaten auseinandersetzen müssen. Ich denke, dass wir jetzt in der Lage sind, durch Dialog und Wahrheitsfindung die Wunden zu heilen. Wir sind kriegsmüde und wollen Aufklärung. Auf diese Weise kann ein Prozess der Rationalisierung unserer Traumata stattfinden und der Frieden mittels Gedenken, Konfrontierung und Wahrheitsfindung langfristig gefestigt werden.

Infokasten

Carlos Miguel Ortiz
ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er lehrt in Bogotá, Paris und Valencia. Er untersucht den kolumbianischen Konflikt, die daraus entstandene Gewalt und deren Folgen für das kollektive Gedächtnis der Kolumbianer_innen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren