Film | Nummer 320 - Februar 2001

Wir sind, was wir jeden Tag tun

Der argentinische Film: Solo por hoy von Ariel Rotter

Anja Witte

Im Badezimmer eines Hotels entledigt sich ein junger Mann lässig seiner Lederjacke. Er nimmt seine Sonnenbrille ab, mit einem tiefen Blick in die dunklen Augen seines Spiegelbildes knöpft er sein Hemd auf. „Ich bin der geborene Vollblutschauspieler. Für mich gibt es keine Grenzen“, erklärt er theatralisch, während er langsam einen für sein Alter erstaunlichen Schwabbelbauch entblößt und in einen schwarzen Overall schlüpft. Sein Arbeitsalltag als Reinigungskraft des Hotels beginnt.
Träume und Realität, die Differenz zwischen dem, was man ist und was man gerne wäre, sind Thema des argentinischen Films Sólo por hoy von Ariel Rotter.
Fünf Tage lang begleitet die Kamera fünf junge Leute, die eine Wohnung teilen auf der Suche nach sich selbst bei ihrem ganz normalen Leben. Daraus entsteht ein Puzzle aus prägnanten Szenen und Alltagsimpressionen in der Metropole Buenos Aires.
Der pummelige Schauspieler ohne Publikum entflieht seinem tristen Alltag, indem er ständig einen seiner vierzig einstudierten Charaktere spielt. Es ist komisch und rührend zu sehen, wie er gangsterlike ein Zimmer stürmt, um zur Arbeit zu kommen, oder mit seinem Spiegelbild eine tränenreiche Liebesszene mit abschließendem Kuss auf das kalte Glas in Szene setzt. Ein Traum scheint wahr zu werden, als er endlich zu einem Casting eingeladen wird. Doch plötzlich malt sich ganz ungespielte Unsicherheit auf seinem Gesicht.
Der schöne Equis wiederum spart jeden Peso, den er in der Restaurantküche verdient. Er träumt davon, die tote Stadt zu verlassen, um in Paris die große Liebe zu finden. Während die Kamera seinen melancholischen Blick aus einem fahrenden Bus durch die nächtliche Metropole nachempfindet, merkt er nicht, dass das, was er sucht, doch eigentlich ganz nahe liegt.
Fer, der Älteste der Fünf, hat Schulden und merkt vielleicht am dringlichsten, dass es gilt, sein Leben von Grund auf zu verändern. Doch er scheint gelähmt, immer wieder „erwischt“ ihn die Kamera beim Grübeln in der Bar: Entspannung bei einem Mate Tee.
Währenddessen kämpft sein schüchterner Bruder Morón mit aufkeimenden Gefühlen für die Chinesin Ailí, die Malerin, die nicht malt, weil ihr Job als Motorradkurier keine Zeit dazu lässt.
Gemeinsam ist allen, dass sie ihre Lebenssituationen verändern wollen. Aber sie erscheinen statisch, gefangen in Sachzwängen.
Nur der arbeitslose Absolvent der Filmhochschule Morón hebt sich davon ab. Er schlägt das ausbeuterische Angebot einer Werbefirma ab, weil er seine Ideale nicht verkaufen möchte. Bei Streifzügen durch die Stadt beginnt er mit seiner kleinen Handkamera zu filmen, Interviews zu führen, in denen er seine These überprüft, man könne Menschen in ihrem tiefsten Innern erkennen, indem man ihnen nur drei Fragen stellt. „Die Dinge laufen seltsam heutzutage“, stellt er fest. „Wo auch immer ich nachfrage, sagen die Leute … ich wäre gerne … ich habe das Talent für … und dann vertun sie ihre Zeit mit etwas völlig Anderem. Vielleicht ist es so, weil man von irgend was leben muss oder weil es immer eine Entschuldigung gibt, seine Träume auf später zu verschieben.“
Der typische Generation X Film erweitert sich so um eine interessante Ebene: Selbstüberschätzung, Selbstreflektion und der Klotz am Bein, der sich Alltag nennt, sind eben nicht generationsgebunden, sondern spiegeln sich in der ganzen Gesellschaft wider.
Sólo por hoy ist das Erstlingswerk des achtundzwanzigjährigen Regisseurs Ariel Rotter mit einem Faible für Video-Clip-Ästhetik. Die beobachtende Kamera und die unvermittelte Aufeinanderfolge der Szenen erwe-cken den Eindruck von real life und Reportage. Dann wiederum folgen ruhige, besinnliche Szenen: die schwarze Silhouette einer wartenden Person, während im Hintergrund die Lichter des abendlichen Stadtverkehrs im Zeitraffer vorbeifließen.
Die Schauspielerin Ailí Chen in der Rolle der jungen Chinesin hat zugleich auch die künstlerische Gestaltung des Films geleitet. Es scheint, als spreche aus dem Film eine neue argentinische Künstlergeneration über sich selbst. Nicht zuletzt entsteht dieser Eindruck durch die Rolle des Morón, der gerade erst seine Ausbildung zum Regisseur abgeschlossen hat. Er beantwortet die Frage nach der eigenen Identität: „Wir sind, was wir jeden Tag tun.“

Ariel Rotter (Regie): Sólo por hoy. Argentinien 2000; Farbe, 100 Min.
Der Film wird auf der Berlinale im Panorama (7.–18. 2. 2001) vorgestellt.

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