Mexiko | Nummer 375/376 - Sept./Okt. 2005

“Wir waren alle Superbarrio”

Interview mit Marco Rascón, Mitbegründer der Asamblea de Barrios

Superbarrio, ein maskierter Superheld im Stile eines Catchers (lucha libre), avancierte zur populärsten Figur der städtischen Basisbewegung . Als „Stimme der Stimmlosen“ symbolisierte er den Kampf der marginalisierten StadtbewohnerInnen für Wohnraum und soziale und politische Rechte. Er führte Demonstrationen an und besiegte im Ring Inkarnationen des „Bösen“ (gierige Vermieter, korrupte Politiker). Über Aufstieg und Fall von Superbarrio und über die heutige Stadtpolitik der liksmoderaten PRD sprachen die LN mit Marco Rascón, Mitbegründer der Stadtteilversammlung Asamblea de Barrios und vermutlicher Geburtshelfer Superbarrios.

Nils Brock

Wer war Superbarrio? Man munkelt, dass vielleicht Sie unter der Maske dieses sozialen Superhelden gesteckt haben…

Das war ein bisschen anders. Einer urbanen Legende nach ist Superbarrio die Reinkarnation eines alten aztekischen Kriegers, der als gelb-roter Lichtstrahl im Jahre 1987 nach Mexiko-Stadt zurückkehrte. Seine Uniform, die Maske und der Gymnastikanzug, glichen der Kleidung von Lucha-Libre-Kämpfern. Superbarrio symbolisierte die Sehnsüchte der Menschen, brachte sie dazu, auf die Straße zu gehen und gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen. Das alles geschah zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt, nämlich zwischen dem Erdbeben von 1985 und dem politischen Erdbeben 1988 [dem massiven Wahlbetrug, der verhinderte, dass der Oppositionskandidat Cuauhtémoc Cárdenas Präsident wurde, Anm. d. Red.].

Und wie haben die Leute auf das plötzliche Auftreten dieser maskierten Lichtgestalt reagiert?

Es war eine große Überraschung, als Superbarrio sich zum ersten Mal blicken ließ. Wir wollten gerade zu einer Demonstration zum Sitz des Stadtentwicklungsprogramms Fonhapo aufbrechen, als Superbarrio in seinem gelb-roten Anzug auftauchte. Die Leute fassten das ganze zunächst eher als einen Gag auf und nahmen Superbarrio nicht besonders ernst.

Aber schon einige Zeit danach kämpfte Superbarrio regelmäßig mit den BewohnerInnen von Mexiko-Stadt für deren soziale Forderungen. Welches waren die wichtigsten Auseinandersetzungen?

Ich glaube, der Kampf um Wohnraum war vielleicht die wichtigste Schlacht, die Superbarrio ausgetragen hat. Da gab er einen unheimlichen Impuls. Zwischen 1987 und 1993 hat die Asamblea de Barrios 45.000 neue Wohnungen geschaffen. Und das alles wurde von den Leuten selbst vorangetrieben. Es gab hunderte kleine Zusammenschlüsse. Es war eigentlich eine depressive Phase öffentlicher Politik, aber die Leute haben ihr Ding gemacht. Ein weiterer wichtiger Kampf war die Kampagne für die politischen Rechte der Bewohner von Mexiko-Stadt. 1988 bildete sich die „Convención de Anáhuac“, eine Art alternative Abgeordnetenkammer, und organisierte zusammen mit einigen Leuten der PRD und viel Unterstützung der Asamblea de Barrios das erste Plebiszit von Mexiko-Stadt. Die Bewohner der Hauptstadt stimmten darüber ab, ob sie künftig eine eigene Regierung wählen würden oder es weiterhin eine undemokratische Regentschaft wie in den 60 Jahren davor geben sollte. Seit 1928 wurde in der Hauptstadt ein Statthalter vom mexikanischen Präsidenten eingesetzt. Da ging es also um eine wichtige Sache und wir haben gewonnen.

Superbarrrio ist ja Mitte der 90er Jahre genauso überraschend verschwunden, wie er gekommen war. Wieso? Warum unterstützte eine so bekannte Figur wie er beispielsweise nicht die Kampagne gegen die Amtsenthebung von Bürgermeister López Obrador im Frühjahr dieses Jahres (siehe LN 371)?

Was war das überhaupt für eine Kampagne, die López Obrador und die PRD da gestartet haben? Da fehlte schon ein bisschen die nötige Transparenz, oder? Ich meine, wir haben uns jahrzehntelang gemeinsam gegen die Politik der PRI und der PAN engagiert. Aber es waren nicht diese Parteien, die für viel Geld ein exklusives zweites Deck für den Individualverkehr auf der Stadtautobahn bauen ließen. Es waren nicht sie, die Rudolph Giuliani als Stadtplaner nach Mexiko-Stadt geholt haben und Walmart, einem der aggressivsten transnationalen Unternehmen, hier Standortvorteile verschafften. Nein, es war López Obrador. Eigentlich hätte doch auch eine linke Partei wie die PRD sich gegen diese Vorhaben stellen müssen. Superbarrio hätte das sicherlich begrüßt. Außerdem konnte man ja auch sehen, wie dieses ganze Amtsenthebungsverfahren schließlich ausgegangen ist. López Obrador war plötzlich ein Politiker des Zentrums und Vicente Fox kein Anführer einer rechten Verschwörung, sondern ein Staatsmann, der nur das Beste für sein Land wollte.

Aber zumindest der Umstand, dass zwei Millionen Menschen auf den Straßen demonstrierten, hätte Superbarrio doch gefallen, oder?

Nun, seit dem Erdbeben von 1985 begann sich die Zivilgesellschaft in Mexiko-Stadt zunehmend stärker zu organisieren. Ungefähr ein Jahrzehnt lang gab es eine gewisse Autonomie und viele Aktionen wurden organisiert. Die PRD versucht heute wieder, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren, aber auf eine Weise, die sie schließlich den Interessen der politischen Klasse unterordnet. Man könnte von Gewitter sprechen. Ein Sturm, ein Platzregen – dann trocknet alles schnell wieder aus. Insgesamt regnet es weniger als früher. So muss man sich die Demonstrationen in Mexiko heute vorstellen. Was bedeuten schon zwei Millionen Menschen auf der Straße, wenn danach keinerlei Selbstorganisation oder Partizipation stattfindet? Im Grunde nicht mehr als eine hübsche Kulisse. Eine wirkliche Beteiligung der Bürger sieht auch die PRD nicht vor, sondern nur einige Legitimierung der ökonomischen Ordnung an der Wahlurne.

Eine solche Situation schreit doch geradezu nach einem politischen Comeback, oder?

Superbarrio war niemals eine isolierte Erscheinung. Er war Teil einer bestimmten sozialen Bewegung und bestimmter Strukturen. Deshalb scheint es mir vernünftig, dass er sich jetzt zum Beispiel aus der Kampagne für mehr Medienfreiheit rausgehalten hat. Superbarrio ist verschwunden, eben weil er keine einfache Inszenierung war, kein Maskottchen, das wir überall mit hingeschleppt haben. Superbarrio war ein Teil der Bewegung, der an Demos und Versammlungen teilnahm, wie andere auch. Er hat viele Konflikte und wichtige Momente mit uns durchlebt. Jeder Stadtteil verfügte über eine Superbarrio-Uniform, so dass er auftreten konnte, wann und wo er gebraucht wurde. Damals haben wir pro Jahr über 700 Demonstrationen organisiert. Da gab es viel zu tun für ihn. Ich glaube, heute fehlt leider der autonome Geist, der Superbarrio hervorgebracht hat.

Und was ist aus der Stadtteilversammlung, der Asamblea de Barrios geworden?

Es gibt immer noch ein paar Gruppen der Asamblea de Barrios. Aber heute sind die Treffen eher zu Freitags-Stammtischen geworden. Früher wurde auf den Treffen die politische Situation diskutiert, es gab kontinuierliche Debatten und zwar in über 650 Stadtvierteln. Und jeden Donnerstag gab es eine große Versammlung in einem Freilichttheater. Es war eine sehr politisierte Zeit und wenn jemand einen guten Vorschlag für eine Aktion machte, dann wurde diese schnell umgesetzt. Später wurde eher darüber beraten, wie man parteipolitisch Einfluss nehmen könnte. Und diese Zusammenarbeit mit den Parteien hat die Zerstörung unabhängiger Strukturen beschleunigt. Noch 1991 war die Asamblea viel größer als die gesamte PRD zusammen. Aber bald wurden die unabhängigen Strukturen angegriffen und für Parteiinteressen umgebaut. Das mag sich überzogen anhören. Aber ich habe meine Konsequenzen aus dieser Entwicklung gezogen. Ich arbeite heute lieber als Koch in einem Fischrestaurant als weiter an einer solchen Parteisuppe mitzukochen.

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