„Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“
Verónica Gago und Luci Cavallero über Gewalt als Produktivkraft und Feminismen im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus

In euren jüngsten Publikationen aktualisiert ihr die These von Gewalt als Produktivkraft. Was versteht ihr darunter und inwiefern ist sie für eine politische Analyse der letzten Jahre hilfreich?
Verónica Gago: Die Idee der Gewalt als Produktivkraft ist zentral für das feministische Weiterdenken der ursprünglichen Akkumulation sowohl bei Maria Mies als auch bei Silvia Federici, die damit ein ganz neues Diskussionsfeld eröffnen. Besonders interessant erscheint mir, Gewalt als Produktivkraft mit den feministischen Debatten der letzten Jahre über die Gewalten im Plural zu verbinden. Wenn in den letzten Jahren von Gewalt oder Gewalten die Rede war, wurde oft eine strukturelle Dimension vergessen, die mit der Kapitalakkumulation und den daraus entstehenden Formen von Gewalt zusammenhängt. Gewalt als Produktivkraft zu verstehen, verschiebt den Fokus auf die strukturelle, auf die kapitalistische, patriarchale und rassistische Dimension von Gewalt und bindet sie damit an ihren produktiven Charakter zurück.
Wenn wir uns der Frage zuwenden, was heute im Zuge der kapitalistischen Akkumulation Gewalt produziert, dann konzentriere ich mich auf das, was einige von uns in Lateinamerika seit Jahren als die extraktive Dimension des Kapitals analysieren. Es gibt eine Verbindung zwischen Territorien und feminisierten Körpern, die gleichzeitig von Ausbeutungsprozessen gekennzeichnet sind – durch Dispositive direkter Gewalt (Enteignung und Vertreibung) und durch vermittelte Gewalt über finanzielle Dispositive, insbesondere Schulden (ökonomische Gewalt und finanzielle Gewalt).
Luci Cavallero: Wenn Mies die Abgrenzung vornimmt, dass Gewalt nicht mehr als außerökonomisches Element gedacht werden kann, dann scheint mir das auch ein Stück weit die Pädagogik des (feministischen) Streiks zu sein, die ökonomische Gewalt als Teil und intrinsisch verbunden mit geschlechtsbezogener Gewalt begreift. Gewalt als Produktivkraft zu denken, ist also nicht nur eine Diagnose oder eine theoretische Entscheidung, sondern hat auch politische Konsequenzen, wenn es um das Agenda-Setting zur Bekämpfung von Gewalt geht. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine feministische Agenda, die auch eine Aushandlung mit dem Staat beinhaltet. Diese staatliche Dimension ist oft wie ein Versuch den Kampf gegen machistische Gewalt auf einen Alarmknopf zu reduzieren, während wir sagen, dass der Kampf auch Zugang zu Wohnraum und Arbeitsrechte in Haushalten umfasst. Die Idee von Gewalt als Produktivkraft beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir innerhalb des Kollektivs Ni Una Menos über Bündnisse nachdenken und wie wir darin das Verhältnis zwischen ökonomischer und geschlechtsbezogener Gewalt aufgreifen.
An welche Art von Bündnissen denkst du, Luci?
Luci Cavallero: Für eine Anti-Gewalt-Agenda sind wir verschiedene politische Bündnisse eingegangen, zum Beispiel mit Mieter*innenbewegungen, die insbesondere die Rolle von Frauen als Haushaltsvorständen im Kampf um Wohnraum hervorheben. Denn im Kampf gegen machistische Gewalt kannst du verschiedene Arten von Bündnissen bilden, von der rechtlichen bis hin zur künstlerischen Ebene. Aber wenn du sagst, dass Gewalt auch eine Produktivkraft ist, dann bedeutet sich der Gewalt entgegenzustellen auch, sich dem finanzialisierten Immobilienextraktivismus entgegenzustellen.
Argentinien befindet sich seit Jahren in einer Wirtschaftskrise mit wenigen Höhen und vielen Tiefen. Ihr stellt die staatliche sowie die individuelle Verschuldung, die daraus resultiert, ins Zentrum eurer Überlegungen. Aber wie hängen Verschuldung und Gewalt als Produktivkraft zusammen?
Luci Cavallero: Ja, seit 2018 erleben wir in Argentinien eine soziale Tragödie, die mit einem wichtigen Ereignis begann: der Rückkehr des Internationalen Währungsfonds (IWF) in die Mitregierung der argentinischen Ökonomie im Jahr 2018 unter der Präsidentschaft von Mauricio Macri. Diese ultra-neoliberale Regierung hat den schnellsten Verschuldungsprozess in der Geschichte Argentiniens eingeleitet, der sogar den der Militärdiktatur übertrifft: 100 Millionen Dollar, die Hälfte davon bei externen Gläubigern, also Investmentfonds, und die andere Hälfte bei internationalen Kreditinstituten. Seither ist eine deutliche Prekarisierung der Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Bevölkerung zu beobachten, die sich in verschiedenen Aspekten manifestiert. Darunter fällt eine stark wachsende Verschuldung der Bevölkerung, die immer mehr auf den Kauf von Gütern und Dienstleistungen der sozialen Reproduktion abzielt. Das breitet sich aus, nicht nur in der Arbeiter*innenklasse, sondern auch in den Mittelklassen. Einkommen reichen nicht aus und jeden Monat müssen neue Schulden aufgenommen werden, um das Einkommen aufzustocken.
Seit dem Wahlsieg von Milei ist diese Dynamik, die wir schon seit einiger Zeit untersuchen, geradezu explodiert. Aktuell befinden wir uns bereits in einem Szenario der Hyperinflation. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach einem radikalen Wandel zu verstehen, der sich in der Wahl derjenigen zeigt, die eine Dollarisierung versprochen haben. Der Dollar gilt als die einzige stabile Währung. In einer Ökonomie, die grundlegende Güter und Dienstleistungen, beispielsweise Wohnraum, dollarisiert hat, wirkt Mileis Vorschlag zur Dollarisierung wie ein Stabilitätsversprechen – auch wenn es offensichtlich nur um den Preis extremer Verarmung zu haben ist.
Welche Rolle spielen Feminismen darin? Oder: Warum braucht es eine feministische, materialistische und dekoloniale Perspektive, um Inflation und Verschuldung zu analysieren?
Luci Cavallero: Die kriminelle Verschuldung während der Präsidentschaft von Mauricio Macri fällt mit einem Höhepunkt des feministischen Widerstands zusammen. Schulden und Verschuldung werden zum Thema auf den Asambleas (Versammlungen) und im Rahmen der feministischen Streiks organisierten wir eine Aktion vor den Toren der argentinischen Zentralbank. Dort brachten wir zum ersten Mal das Transparent mit dem Slogan: „Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“ (¡Vivas, libres y desendeudadas nos queremos!) an. Diese Politisierung der Schulden beleuchtet etwa die Verbindung zwischen externer Verschuldung, Austeritätsprogrammen und Haushaltsschulden. Es sind hauptsächlich Frauen, die Schulden aufnehmen müssen, was wiederum das Verhältnis zwischen finanziellen Verpflichtungen und Geschlechteranforderungen in wirtschaftlichen Krisenzeiten aufzeigt.
Auf der einen Seite ermöglicht diese feminisierte Verschuldung, Notsituationen zu bewältigen, aber gleichzeitig ist es eine Verschuldung, die häufig Frauen an die Haushalte bindet, in denen Gewalt herrscht. Nach dem Motto: „Ich kann dieses Zuhause nicht verlassen, weil ich einen Haufen Schulden habe. Etwa um Schulmaterial für meine Kinder zu kaufen, die darauf angewiesen sind, dass ich drei Schichten arbeite und außerdem mein Partner arbeitet.“
Der IWF hat in das Abkommen mit Argentinien von 2018 eine vergeschlechtlichte Sprache aufgenommen. Darin wird der argentinische Staat aufgefordert, die weibliche Erwerbsarbeit und die finanzielle Inklusion von Frauen im Sinne von ökonomischer Autonomie zu fördern und zu erhöhen. Wir haben darauf folgendermaßen geantwortet: Mehr Erwerbsbeteiligung ohne Rechte taugt nichts! Und zweitens bedeutet finanzielle Inklusion nicht ökonomische Autonomie. Die Genossinnen sind bereits finanziell integriert, allerdings in Form von Verschuldung. Verschuldung ist auch eine Form der Inklusion!
So üben Schulden auch eine Form von Gewalt aus, weil sie dazu führen, dass du für weniger Lohn mehr arbeitest. Ein Beispiel: Ab dem Jahr 2018 sind innerhalb von vier Monaten 700.000 Frauen auf den Arbeitsmarkt gekommen, und gleichzeitig ist die Verschuldung am stärksten gestiegen. Sprich: Du bist zu längeren Arbeitszeiten und mehr Schichten gezwungen, während die externe Verschuldung dir nicht das Existenzminimum garantiert, sondern du dich noch weiter verschulden musst. Ich würde sagen, die Verschuldung ist der Mechanismus par excellence, der Gewalt als Produktivkraft auszeichnet.
Verónica Gago: Ich möchte hinzufügen, dass dies auf zwei weitere Momente in der Geschichte Argentiniens verweist: die Krisen von 2001 und 1989, die die größten ökonomischen und politischen Krisen seit der Militärdiktatur waren. Im Jahr 1989 musste Raúl Alfonsín, der erste Präsident nach der Diktatur, vorgezogene Neuwahlen ausrufen, woraufhin Carlos Menem an die Macht kam und die brutalsten neoliberalen Reformen der 1990er Jahre durchführte. Im Jahr 2001 waren die Wirtschaftskrise und Verschuldung ebenfalls sehr schwerwiegend und führten zu großen Protesten und einem Massenaufstand. Die Dollarisierung der Wirtschaft, ein Projekt der wirtschaftlichen Eliten, wurde dank dieser Proteste verhindert. Wie oben erwähnt, bestritt Milei als Kandidat der extremen Rechten den Wahlkampf mit der Idee der Dollarisierung. Das macht für viele Menschen Sinn, weil diese bereits de facto in den Bereichen Lebensmittel und Wohnen existiert – das sind dollarisierte Märkte. In allen drei Fällen handelt es sich also um Hyperinflationskrisen und um politische Krisen. Das heißt es sind Krisen, die einen Regierungswechsel oder eine tiefgreifende Umstrukturierung eben dieses politischen Systems mit sich bringen. Aktuell geht es um die Umstrukturierung eines fortgeschrittenen Extraktivismus- und Landnahme-Modells. Seit dem Triumph Mileis sehen wir, dass all dies mit Nachdruck bestätigt wird, mit einer zusätzlichen Komponente: einer extremen Geschwindigkeit in der Deregulierung der Grenzen für Unternehmen und in der Organisation der Plünderung selbst.
Eine längere Version des Gesprächs wurde im Juli in der Zeitschrift PERIPHERIE 173 (1-2024) veröffentlicht.
Verónica Gago und Luci Cavallero
sind feministische Theoretikerinnen und Teil des argentinischen Kollektivs Ni Una Menos. In ihren Arbeiten beschäftigen sie sich mit der Verbindung von politischen Kämpfen, Gewalten und neoliberaler Ökonomie aus einer feministisch-materialistischen und antikolonialen Perspektive.