„Wir wollten die Gewalt nicht in den Vordergrund stellen“
Interview mit João Pedro Prado und Bárbara Santos, Regisseur*innen des Films Ash Wednesday
Ein Film aus der Perspektive der Mütter Das Kurzmusical Ash Wednesday war auf der Berlinale 2023 zu sehen (Foto: Kleber Nascimento)
Wie kam es dazu, dass Sie diesen Film gemacht haben?
João Pedro Prado: Der Film ist ein bisschen wie ein Kammerspiel. Er basiert auf Geschichten und Situationen aus Vierteln in Rio wie der Maré, wo es für Kinder gefährlich ist, zur Schule zu gehen. Die Idee dazu kam mir während der Pandemie und es war von Anfang an klar, dass wir in Deutschland drehen mussten, weil es im Ausland in dieser Zeit gar nicht möglich war. Das bedeutete, dass wir es mit Brasilianer*innen, die hier leben, machen mussten. 90 Prozent der Beteiligten an diesem Film sind aus der deutsch-brasilianischen Community. Einige sind erst seit einem Jahr hier, andere schon seit Jahrzehnten. Bárbara zum Beispiel schon seit 2001. Ich habe sie kontaktiert, weil ich ein Musical machen wollte, aber selbst keine musikalischen Kenntnisse hatte.
Bárbara Santos: Uriara Maciel, unsere Hauptdarstellerin, war meine Theaterschülerin in mehreren Gruppen, die ich geleitet habe. Sie wusste, dass ich viel mit Klang und Rhythmus arbeite und hat mir dieses Projekt vorgestellt, das ich sofort geliebt habe. Das Konzept zum Drehbuch war schon komplett strukturiert, es fehlte nur die Musik, für die ich verantwortlich sein sollte. Ich fand die Idee sensationell, dass eine Frau in ihrem Haus in der Favela ständig von Eindringlingen heimgesucht wird, die verschiedene Formen von Gewalt ausüben. Ich mochte auch, dass der Fokus trotz allem nicht auf der Gewalt, sondern auf ihrer Perspektive lag.
Das Bild der Favelas in Rio wurde außerhalb Brasiliens auch durch andere Filme geprägt: City of God war 2003 ein Riesenerfolg, Tropa de Elite (Elite Squad) hat 2008 die Berlinale gewonnen. War das ein Einfluss für euch oder wolltet ihr einen Kontrast dazu setzen?
João Pedro Prado: Ein Einfluss nur in der Hinsicht, wie wir es nicht machen wollten (lacht).
Bárbara Santos: Wir wollten einen Film machen, in dem die Gewalt nicht im Vordergrund steht. Wir wollten über die Gewalt sprechen, ihre Auswirkungen im täglichen Leben der Menschen zeigen. Aus der Perspektive eben dieser Menschen, die wir nicht entmenschlichen wollten. Durch die Musik wollten wir auch eine Brecht’sche Distanz, eine Verfremdung der Gewalt schaffen. Damit man als Zuschauer*in auch darüber nachdenken kann, was man da sieht. Nicht nur in Schießereien verwickelt zu sein, die Angst zu spüren. Wir wollten Reflexion wie bei Brecht, der sagte, dass man sein Hirn nicht mit dem Hut am Theatereingang abgeben soll.
João Pedro Prado: Es sollte nicht der Blickwinkel wie in Tropa de Elite sein, wo der Protagonist ein Polizist ist. Bei uns ist die Perspektive die einer Mutter, die dort wohnt. Das sieht man nicht so oft, dass eine Frau im Zentrum dieser Filme über Gewalt in der Favela steht, und auch das macht den Film interessant anzusehen. Wir haben an die Mütter gedacht, die 2020 in Rio de Janeiro nach Polizeieinsätzen gebeugt über den Särgen ihrer getöteten Kinder standen. Uns hat interessiert: Was ist mit diesen Müttern passiert? Was war ihre Geschichte davor und danach? Und warum erzählen wir nicht ihre Geschichte?
Seid ihr in Kontakt mit Leuten, die dort wohnen? Wie ist die Situation jetzt? Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert oder ist alles mehr oder weniger gleich geblieben?
Bárbara Santos: Die vier Jahre Bolsonaro waren eine Ausnahmesituation für Brasilien. Da hat sich die Situation wirklich verschlechtert. Ich komme aus Rio de Janeiro. Das war dort die Zeit der schlimmsten Gemetzel aller Zeiten in den Favelas. Als der neue Gouverneur Claudio Castro an die Macht kam, gab es in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit unfassbare Massaker. Und in der Pandemie wurde es noch schlimmer. Die Leute waren zu Hause, schutzlos. Es gab da das Beispiel eines Jungen, auf das wir uns mehr oder weniger mit unserem Film bezogen haben. Der ist auf dem Schulweg gestorben, in seiner Schuluniform. Das sollte eigentlich ein Schutzschild für ihn sein, diese Schuluniform. Von den Polizist*innen hört man oft als Rechtfertigung für Erschießungen: „Der sah aus wie ein Verbrecher!“ Das war der endgültige Beweis, dass es nicht so ist.
Es war eine schreckliche Zeit. Jetzt mit der Regierung Lula herrscht eine enorme Erleichterung, dass nicht alles noch schlimmer wird. Alleine darüber sind die Leute schon glücklich. Es wurde in der Zeit vorher immer, immer schlimmer, es hörte nicht auf, nirgendwo. Unglücklicherweise gibt es in Rio keine große Hoffnung, denn der Gouverneur wurde wiedergewählt. Es gibt da eine politische Logik, dass Sicherheitspolitik sich auf Waffen und Gewalt stützt. Wir wollen dazu beitragen, die Ideen zu entmystifizieren, dass man die Gewalt beendet, indem man die Armen wegschafft. Dass man die Armut beendet, indem man die Armen tötet. Und auch unser Film kann dabei helfen, darüber nachzudenken und diese Diskussion zu transportieren. Deshalb brennen wir auch total darauf, ihn in Brasilien zu zeigen. Damit wir Teil der Diskussion dort werden können.
Haben Sie auch selbst in einer Favela in Rio gewohnt?
Bárbara Santos: Nein, nie. Aber ich habe viel mit dem Theater der Unterdrückten in verschiedenen Favelas von Rio gearbeitet, kenne das Umfeld dort also sehr gut.
Die Regierung Bolsonaro stand auch für kulturellen Kahlschlag, speziell was die Filmförderung betrifft. Was erwarten Sie jetzt von der Regierung Lula auf diesem Gebiet?
João Pedro Prado: Ich erwarte, dass der nationale Fördertopf für audiovisuelle Medien zurückkehrt, dass Institutionen, die Kunst und Kino fördern, zurückkehren und geleitet werden von Menschen, denen Kulturförderung wichtig ist. Der große Knackpunkt ist: Etwas aufzubauen dauert sehr lange, um alles kaputtzumachen, braucht es nur wenige Monate. Brasilien hat zwei Jahrzehnte gebraucht, um zu der Kinogröße zu werden, die es am Ende der Regierungen von Dilma Roussef und Lula war. Und nur wenige Monate Bolsonaro haben gereicht, um das komplett zu zerstören. Er hat aus ideologischen Gründen den größten Teil der Finanzierungsmöglichkeiten abgeschafft. Meine Prognose ist deshalb, dass wir erst in zwei bis drei Jahren wieder brasilianische Filme auf internationalen Filmfestivals sehen werden. Das enthüllt auch die Fragilität unserer Demokratie und unserer Institutionen. Diese Institutionen und deren Finanzierung müssten unabhängig von der Regierung existieren, was unglücklicherweise nicht der Fall ist.
Bárbara Santos: Bolsonaro hat nicht nur das Kulturministerium abgeschafft, er hat die ganzen Strukturen zerschmettert. Jetzt muss man eine Struktur wiederaufbauen, die gut organisiert war und die er zerstört hat. Der Effekt von Bolsonaro ist so groß, dass er sich auf die Erinnerung auswirkt. In seiner Regierungszeit wurde nicht nur so viel Regenwald durch Brände zerstört, wie nie zuvor, sondern es haben auch noch nie so viele Museen gebrannt. Da ging ganz viel Erinnerung verloren. Deshalb ist es eine große Sache, dass wir jetzt das Kulturministerium zurückhaben. Denn dafür braucht man ein Kulturministerium: Zur Pflege der Erinnerung ans Kino, an die Künste. Es gibt große Hoffnung, das kann ich sagen. Alleine die Zerstörung gestoppt oder auch nur gebremst zu haben, ist eine Riesenerleichterung. Das mag absurd erscheinen, aber so ist es.
Bárbara Santos und João Pedro Prado
sind Co-Regisseur*innen von Ash Wednesday. Als Abschlussarbeit der Filmuniversität Babelsberg wurde der Film von einem internationalen Team in Deutschland gedreht und konnte Publikum und Kritiker*innen auf der Berlinale 2023 begeistern.
Foto: Finnegan Godenschweger