Brasilien | Nummer 251 - Mai 1995

Wissenschaftsemigration nach Brasilien

Fast ein Drittel aller HochschuldozentInnen in Deutschland mußte nach 1933 auf­grund rassischer oder politischer Ver­folgung ins Exil. WissenschaftlerInnen jüdi­scher Herkunft wurden zuerst von den deutschen und später von den österreichi­schen Universi­täten vertrieben. Nur selten regte sich von seiten ihrer “arischen” KollegInnen Widerstand. Der folgende Artikel beschreibt die Umstände der Flucht jü­discher Wissenschaftle­rInnen nach Brasilien.

Gabriele Ley

Schon im ersten Jahr hatte das nationalsozialistische Regime durch das “Gesetz zur Wieder­herstellung des Berufsbeamten­tums”, sowie durch die Einrich­tung der Reichskulturkammer und eine Reihe weiterer Maß­nahmen, einer großen Zahl von Wissenschaftlerinnen, Schrift­steller­Innen, Publizi­stInnen und KünstlerInnen ihre Existenz­grundlage oder kreative Entfal­tungsmöglichkeit genom­men. Ins­ge­samt mußten etwa 4.000 ForscherInnen und akade­mische LehrerInnen Deutschland verlas­sen.1
Exodus aus Nazideutschland
Das “Gesetz zur Wiederher­stellung des Berufsbeamten­tums” (BBG) vom 7. April 1933 war das erste einer Reihe von Ge­set­zen, die eine “Rechts­grundlage” für die Dis­kri­minierung und Entlas­sung “nicht-arischer”, “jüdisch ver­sip­pter” und po­litisch uner­wün­schter Perso­nen an Univer­sitäten und Hochschulen abga­ben. Nach 3 BBG wurden Jü­dInnen und so­genannte jüdische Mischlinge als “Nichtarier” ent­lassen; dazu gehörten Personen mit we­nigstens ei­nem jüdischen Groß­eltern­teil. Von diesem Ge­setz zu­nächst ausgenommen blie­ben so­genannte jüdische Frontkämpfer sowie Hochschul­lehrerInnen, die be­reits vor 1914 verbeamtet wor­den waren. Diese Aus­nahme­regelungen entfielen jedoch mit dem Inkrafttreten des “Reichs­bür­ger­gesetzes” vom September 1935. NichtjüdInnen, die nach 1933 eine Ehe mit ei­nem Juden oder einer Jüdin ein­gegangen waren, wurden den “Nichtariern” gleichgestellt. Die­jenigen, die vorher ge­heiratet hatten, waren nach diesem Ge­setz im Dienst zu belassen, wur­den aber häufig unter Zuhilfe­nahme anderer Pa­ra­graphen vom Dienst suspen­diert.
An den österreichischen Uni­versitäten traten die deutschen Gesetze unmittel­bar nach dem “Anschluß” am 13. März 1938 in Kraft.
Viele der Wissenschaftsemi­grantInnen fanden Aufnahme in den USA, wo sie dem dortigen Universitätsleben und der For­schung nachhaltige Im­pulse ga­ben. In Lateiname­rika waren sol­che Möglich­keiten seltener. Dies lag auch an der wirtschaftlichen Lage der lateinamerikani­schen Staaten, vor allem an den einge­schränkten Res­sourcen im Hoch­schulbereich. Nur selten wa­ren an den lateinamerikani­schen Universitäten jene Fä­cher ver­treten, die die emigrierten Wis­senschaftlerInnen in Deutschland gelehrt hatten. Nur in den indu­striell entwickelten Ländern in Übersee war das Niveau von Forschung und Lehre dem euro­päischen Standard vergleichbar. EmigrantInnen, denen eine Hochschulkarriere gelang, blie­ben daher eher Ausnahmen. Die Chancen, im Hochschulbereich eine Stelle zu finden, waren in den naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftswis­senschaftlichen Fächern größer als in den Geistes- und Sozial­wissenschaften.
Fluchtpunkt Brasilien
Nach Brasilien gingen in den 30er bis zu Beginn der 40er Jahre 32 Wissenschaftler, die bis auf eine Ausnahme aus den Na­turwissenschaften kamen. Wird nach Fachgebieten differenziert, ergibt sich folgendes Bild: Zehn Chemiker, neun Biologen, vier Mediziner, jeweils zwei Physi­ker, Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieurwissenschaftler so­wie jeweils ein Philosoph, Geo­loge, und Pharmazeut emi­grier­ten während des National­so­zialismus nach Brasilien.
In den meisten Fällen gab es schon bei der Ausreise ein Stel­lenangebot aus Brasilien. Vor allem die Universität von Sao Paulo bot zahlreiche Arbeits­möglichkeiten für vertriebene Wissenschaftler.
Im Jahre 1934 wurde die Philosophische Fakultät der Uni­versität von Sao Paulo (USP) gegründet. Da in Brasilien nicht genügend Lehrkräfte zum Auf­bau der neuen Institute zur Ver­fügung standen, erhielt der erste Direktor der Philosophischen Fa­kultät den Auftrag, in Europa Lehrkräfte für diese Aufgabe zu gewinnen. Für die Mehrzahl der Lehrstühle wurden DozentInnen und ProfessorInnen aus Frank­reich und Italien ver­pflichtet. EmigrantInnen aus Deutschland waren besonders am Aufbau der biologischen und chemischen In­stitute beteiligt. Drei deutsche Dozenten erhielten die Lehr­stühle für Zoologie, Botanik und Chemie.2 Insgesamt fanden elf deutsche Wissen­schaftler an der USP eine An­stellung.
Gute Arbeitsbedingungen in Sao Paulo
Unter ihnen war Ernst Marcus (1893-1968), der vor seiner Emigration Professor an der Universität Berlin gewesen war. Im Jahre 1935 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlas­sen und ging im darauffolgenden Jahr an die USP. Von ihm ist ein Brief an das Reichserziehungs­minsterium erhalten, der illu­striert, wie schmerzlich für ihn die Entlassung aus dem Hoch­schuldienst empfunden wurde:
“Nachdem ich aufgewachsen bin als Sohn eines preußischen Richters, vier Jahre in der preu­ßischen Garde Frontdienst tun durfte, als Unteroffizier mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausge­zeichnet worden bin, meine ganze Arbeit an preußischen Dienststellen getan habe, … ziemt es mir nicht, bei carita­tiven Institutionen des Auslandes um eine Unterbringung zu bet­teln. Wenn ich … aus dem Va­terlande ausgewiesen und zum heimatlosen Bettler gemacht werde, so sehe ich darin das größte Unrecht und die tiefste Kränkung, die mir angetan wer­den konnte. Das habe ich nicht verdient, sofern nach dem preu­ßischen Grundsatz “suum cui­que” verfügt wird.”3
Marcus fand dennoch in Bra­silien eine neue Heimat, er war von 1936 bis zum Jahre 1963 Professor und Direktor der zoo­logischen Abteilung der Univer­sität Sao Paulo, nahm die brasi­lianische Staatsbürgerschaft an und wurde Mitglied der Brasilia­nischen Akademie der Wissen­schaften. Nachhaltig prägte er an der Universität mehrere Genera­tionen brasilianischer Zoologen und fand auf dem ganzen latein­amerikanischen Kontinent große Anerkennung für seine wissen­schaftliche Arbeit.
Am Beispiel des Chemikers Fritz Feigl werden Verlauf und Umstände einer Emigration und Akkulturation an das Gastland Brasilien deutlich, die durchaus als typisch gelten können.
Fritz Feigl (geb. 1891 in Wien) studierte Chemie in seiner Heimatstadt. Nach der Promo­tion wirkte er zunächst als Assi­stent, später als Privatdozent an der dortigen Universität. Im Jahre 1935 wurde er außeror­dentlicher Professor für analyti­sche und anorganische Chemie. Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland wurde ihm wegen seiner jüdischen Herkunft der Zutritt zu Labor und Universität verwehrt.
Brasilien: Zwischenstation oder Neuanfang?
1938 flohen Feigl und seine Frau Regine, ebenfalls in Che­mie promoviert und als seine Mitarbeiterin tätig, nach Belgien, wo er Arbeit als technischer Be­rater der Firma Gevaert in Gent fand. Mit der Invasion der deut­schen Truppen in Belgien im Jahre 1940 mußten die Feigls wiederum fliehen. Fritz Feigl ging zunächst nach England und wurde von dort nach Frankreich zurückgeschickt, wo er in Perpi­gnan interniert wurde. Über den brasilianischen Botschafter in Vichy erhielt Regine Feigl ein Diplomatenvisum, das sie mit ih­rem Mann zur Einreise nach Brasilien berechtigte. Im De­zember 1940 kamen beide in Rio de Janeiro an. Feigl hatte zu­nächst die Absicht, in Brasi­lien nur solange zu bleiben, bis er ein Visum für die USA be­kommen würde, da er verschie­dene Ar­beitsangebote von dort erhalten hat­te.
Nachdem Mário da Silva Pin­to, damals Direktor des La­bors des Departamento Nacional da Produçao Mineral (DNPM, Amt für die Erforschung und Aus­beutung der Bodenschätze), er­fahren hatte, daß der bekannte Chemiker Feigl in Rio ange­kommen sei, setzte er den Gene­raldirektor des DNPM und den Agrarminister, dem das DNPM unterstand, hiervon in Kenntnis und machte sie auf die Vorteile aufmerksam, die das DNPM und Brasilien von einer Tätigkeit Feigls haben könnten. Daraufhin bekam Feigl das Angebot, im Labor des DNPM eine mikro­chemische Abteilung aufzu­bauen. Ihm wurde vollkommene Freiheit in der Forschung zuge­standen. Es bestand nur die Auflage, daß er mit einem brasi­lianischen Assistenten zusam­menarbeitete und daß er sich mit einigen Problemen, die für das DNPM wichtig waren, zu be­schäftigen hatte.
Feigl nahm das Angebot an und wurde schon einige Jahre später brasilianischer Staatsbür­ger. Angebote aus anderen Län­dern, auch eines, nach dem Krieg nach Österreich zurückzukom­men, lehnte er aus Dankbarbeit gegenüber Brasilien ab, das ihm in höchster Not Aufnahme ge­währt hatte. Er blieb dann bis zu seinem Tode im Jahre 1971 am Labor des DNPM, wo er viele junge brasilianische Chemiker­Innen ausbildete oder mit ihnen zusammenarbeitete.
Die Wissenschaftler, die von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurden und in Brasilien Aufnahme fanden, blieben zum größten Teil auch nach dem Ende des Natio­nalsozialismus dort. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß sich der Großteil der Wis­senschaftsemigranten bis 1945 weitgehend in den brasiliani­schen Wissenschaftsbetrieb inte­griert hatte. Viele hatten schon nach wenigen Jahren die brasi­lianische Staatsbürgerschaft an­genommen oder waren in die Akademie der Wissenschaften des Landes aufgenommen wor­den. Häufig nahmen sie auch als Repräsentanten Brasiliens an in­ternationalen Kongressen teil oder vertraten das Land in inter­nationalen Organisationen.
Die Tatsache, daß sie nach dem Krieg in Brasilien blieben und keine Stellungen in europäi­schen oder nordamerikanischen Instituten annahmen, obwohl durchaus entsprechende Ange­bote vorlagen, ist ein Zeichen für die guten Arbeitsbedingungen, die geboten wurden. Von den Wis­senschaftlern wurde be­son­ders geschätzt, daß die Mög­lichkeit bestand, eigene The­menbereiche weiterzuverfol­gen.
Bestand die Auflage, sich be­stimmten Problemstellungen zu­zuwenden, die von brasiliani­schen Universitäten oder For­schungsinstitute für wichtig er­achtet wurden, so wurde dies von den emigrierten Wissenschaft­lern bereitwillig erfüllt. Darüber hinaus stellten sie ihre Arbeits­gebiete durchaus auch aus ei­genem Interesse auf landesspe­zifische Themen um.
Die meisten Wissen­schaftler, die in Brasilien eine neue Wirkungsstätte im Wissen­schafts­bereich fanden, konnte sich relativ rasch integrieren. An den Universitäten und anderen wis­sen­schaftlichen Einrichtun­gen des Landes leisteten sie oft über Jahrzehnte hinweg aner­kann­te Arbeit in Lehre und For­schung.

1 Hierzu u.a. Horst Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissen­schaftler und Künstler in der Emi­gration nach 1933, München 1984; Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1988; Thomas Koebner, Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen (Exilforschung, Bd. 6), München 1988.
2 Vgl. Carolina Bresslau Aust: Der Beitrag deutscher Wissenschaftler zum Aufbau der Philosophischen Fakultät der Universität Sao Paulo, in: Staden-Jahrbuch, Bd. 11/12, Sao Paulo 1963/64, S. 197-211.
3 Brief des Zoologen Prof. Ernst Marcus an das Reichserziehungsmi­nisterium vom 1.6.1936, Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Best. REM Nr. 1393, Bl.26, zitiert nach Deich­mann, Ute: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, For­schung, Frankfurt/Main / New York 1992, S. 41.


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