Wissenschaftsemigration nach Brasilien
Schon im ersten Jahr hatte das nationalsozialistische Regime durch das “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, sowie durch die Einrichtung der Reichskulturkammer und eine Reihe weiterer Maßnahmen, einer großen Zahl von Wissenschaftlerinnen, SchriftstellerInnen, PublizistInnen und KünstlerInnen ihre Existenzgrundlage oder kreative Entfaltungsmöglichkeit genommen. Insgesamt mußten etwa 4.000 ForscherInnen und akademische LehrerInnen Deutschland verlassen.1
Exodus aus Nazideutschland
Das “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” (BBG) vom 7. April 1933 war das erste einer Reihe von Gesetzen, die eine “Rechtsgrundlage” für die Diskriminierung und Entlassung “nicht-arischer”, “jüdisch versippter” und politisch unerwünschter Personen an Universitäten und Hochschulen abgaben. Nach 3 BBG wurden JüdInnen und sogenannte jüdische Mischlinge als “Nichtarier” entlassen; dazu gehörten Personen mit wenigstens einem jüdischen Großelternteil. Von diesem Gesetz zunächst ausgenommen blieben sogenannte jüdische Frontkämpfer sowie HochschullehrerInnen, die bereits vor 1914 verbeamtet worden waren. Diese Ausnahmeregelungen entfielen jedoch mit dem Inkrafttreten des “Reichsbürgergesetzes” vom September 1935. NichtjüdInnen, die nach 1933 eine Ehe mit einem Juden oder einer Jüdin eingegangen waren, wurden den “Nichtariern” gleichgestellt. Diejenigen, die vorher geheiratet hatten, waren nach diesem Gesetz im Dienst zu belassen, wurden aber häufig unter Zuhilfenahme anderer Paragraphen vom Dienst suspendiert.
An den österreichischen Universitäten traten die deutschen Gesetze unmittelbar nach dem “Anschluß” am 13. März 1938 in Kraft.
Viele der WissenschaftsemigrantInnen fanden Aufnahme in den USA, wo sie dem dortigen Universitätsleben und der Forschung nachhaltige Impulse gaben. In Lateinamerika waren solche Möglichkeiten seltener. Dies lag auch an der wirtschaftlichen Lage der lateinamerikanischen Staaten, vor allem an den eingeschränkten Ressourcen im Hochschulbereich. Nur selten waren an den lateinamerikanischen Universitäten jene Fächer vertreten, die die emigrierten WissenschaftlerInnen in Deutschland gelehrt hatten. Nur in den industriell entwickelten Ländern in Übersee war das Niveau von Forschung und Lehre dem europäischen Standard vergleichbar. EmigrantInnen, denen eine Hochschulkarriere gelang, blieben daher eher Ausnahmen. Die Chancen, im Hochschulbereich eine Stelle zu finden, waren in den naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächern größer als in den Geistes- und Sozialwissenschaften.
Fluchtpunkt Brasilien
Nach Brasilien gingen in den 30er bis zu Beginn der 40er Jahre 32 Wissenschaftler, die bis auf eine Ausnahme aus den Naturwissenschaften kamen. Wird nach Fachgebieten differenziert, ergibt sich folgendes Bild: Zehn Chemiker, neun Biologen, vier Mediziner, jeweils zwei Physiker, Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieurwissenschaftler sowie jeweils ein Philosoph, Geologe, und Pharmazeut emigrierten während des Nationalsozialismus nach Brasilien.
In den meisten Fällen gab es schon bei der Ausreise ein Stellenangebot aus Brasilien. Vor allem die Universität von Sao Paulo bot zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten für vertriebene Wissenschaftler.
Im Jahre 1934 wurde die Philosophische Fakultät der Universität von Sao Paulo (USP) gegründet. Da in Brasilien nicht genügend Lehrkräfte zum Aufbau der neuen Institute zur Verfügung standen, erhielt der erste Direktor der Philosophischen Fakultät den Auftrag, in Europa Lehrkräfte für diese Aufgabe zu gewinnen. Für die Mehrzahl der Lehrstühle wurden DozentInnen und ProfessorInnen aus Frankreich und Italien verpflichtet. EmigrantInnen aus Deutschland waren besonders am Aufbau der biologischen und chemischen Institute beteiligt. Drei deutsche Dozenten erhielten die Lehrstühle für Zoologie, Botanik und Chemie.2 Insgesamt fanden elf deutsche Wissenschaftler an der USP eine Anstellung.
Gute Arbeitsbedingungen in Sao Paulo
Unter ihnen war Ernst Marcus (1893-1968), der vor seiner Emigration Professor an der Universität Berlin gewesen war. Im Jahre 1935 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlassen und ging im darauffolgenden Jahr an die USP. Von ihm ist ein Brief an das Reichserziehungsminsterium erhalten, der illustriert, wie schmerzlich für ihn die Entlassung aus dem Hochschuldienst empfunden wurde:
“Nachdem ich aufgewachsen bin als Sohn eines preußischen Richters, vier Jahre in der preußischen Garde Frontdienst tun durfte, als Unteroffizier mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet worden bin, meine ganze Arbeit an preußischen Dienststellen getan habe, … ziemt es mir nicht, bei caritativen Institutionen des Auslandes um eine Unterbringung zu betteln. Wenn ich … aus dem Vaterlande ausgewiesen und zum heimatlosen Bettler gemacht werde, so sehe ich darin das größte Unrecht und die tiefste Kränkung, die mir angetan werden konnte. Das habe ich nicht verdient, sofern nach dem preußischen Grundsatz “suum cuique” verfügt wird.”3
Marcus fand dennoch in Brasilien eine neue Heimat, er war von 1936 bis zum Jahre 1963 Professor und Direktor der zoologischen Abteilung der Universität Sao Paulo, nahm die brasilianische Staatsbürgerschaft an und wurde Mitglied der Brasilianischen Akademie der Wissenschaften. Nachhaltig prägte er an der Universität mehrere Generationen brasilianischer Zoologen und fand auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent große Anerkennung für seine wissenschaftliche Arbeit.
Am Beispiel des Chemikers Fritz Feigl werden Verlauf und Umstände einer Emigration und Akkulturation an das Gastland Brasilien deutlich, die durchaus als typisch gelten können.
Fritz Feigl (geb. 1891 in Wien) studierte Chemie in seiner Heimatstadt. Nach der Promotion wirkte er zunächst als Assistent, später als Privatdozent an der dortigen Universität. Im Jahre 1935 wurde er außerordentlicher Professor für analytische und anorganische Chemie. Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland wurde ihm wegen seiner jüdischen Herkunft der Zutritt zu Labor und Universität verwehrt.
Brasilien: Zwischenstation oder Neuanfang?
1938 flohen Feigl und seine Frau Regine, ebenfalls in Chemie promoviert und als seine Mitarbeiterin tätig, nach Belgien, wo er Arbeit als technischer Berater der Firma Gevaert in Gent fand. Mit der Invasion der deutschen Truppen in Belgien im Jahre 1940 mußten die Feigls wiederum fliehen. Fritz Feigl ging zunächst nach England und wurde von dort nach Frankreich zurückgeschickt, wo er in Perpignan interniert wurde. Über den brasilianischen Botschafter in Vichy erhielt Regine Feigl ein Diplomatenvisum, das sie mit ihrem Mann zur Einreise nach Brasilien berechtigte. Im Dezember 1940 kamen beide in Rio de Janeiro an. Feigl hatte zunächst die Absicht, in Brasilien nur solange zu bleiben, bis er ein Visum für die USA bekommen würde, da er verschiedene Arbeitsangebote von dort erhalten hatte.
Nachdem Mário da Silva Pinto, damals Direktor des Labors des Departamento Nacional da Produçao Mineral (DNPM, Amt für die Erforschung und Ausbeutung der Bodenschätze), erfahren hatte, daß der bekannte Chemiker Feigl in Rio angekommen sei, setzte er den Generaldirektor des DNPM und den Agrarminister, dem das DNPM unterstand, hiervon in Kenntnis und machte sie auf die Vorteile aufmerksam, die das DNPM und Brasilien von einer Tätigkeit Feigls haben könnten. Daraufhin bekam Feigl das Angebot, im Labor des DNPM eine mikrochemische Abteilung aufzubauen. Ihm wurde vollkommene Freiheit in der Forschung zugestanden. Es bestand nur die Auflage, daß er mit einem brasilianischen Assistenten zusammenarbeitete und daß er sich mit einigen Problemen, die für das DNPM wichtig waren, zu beschäftigen hatte.
Feigl nahm das Angebot an und wurde schon einige Jahre später brasilianischer Staatsbürger. Angebote aus anderen Ländern, auch eines, nach dem Krieg nach Österreich zurückzukommen, lehnte er aus Dankbarbeit gegenüber Brasilien ab, das ihm in höchster Not Aufnahme gewährt hatte. Er blieb dann bis zu seinem Tode im Jahre 1971 am Labor des DNPM, wo er viele junge brasilianische ChemikerInnen ausbildete oder mit ihnen zusammenarbeitete.
Die Wissenschaftler, die von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurden und in Brasilien Aufnahme fanden, blieben zum größten Teil auch nach dem Ende des Nationalsozialismus dort. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß sich der Großteil der Wissenschaftsemigranten bis 1945 weitgehend in den brasilianischen Wissenschaftsbetrieb integriert hatte. Viele hatten schon nach wenigen Jahren die brasilianische Staatsbürgerschaft angenommen oder waren in die Akademie der Wissenschaften des Landes aufgenommen worden. Häufig nahmen sie auch als Repräsentanten Brasiliens an internationalen Kongressen teil oder vertraten das Land in internationalen Organisationen.
Die Tatsache, daß sie nach dem Krieg in Brasilien blieben und keine Stellungen in europäischen oder nordamerikanischen Instituten annahmen, obwohl durchaus entsprechende Angebote vorlagen, ist ein Zeichen für die guten Arbeitsbedingungen, die geboten wurden. Von den Wissenschaftlern wurde besonders geschätzt, daß die Möglichkeit bestand, eigene Themenbereiche weiterzuverfolgen.
Bestand die Auflage, sich bestimmten Problemstellungen zuzuwenden, die von brasilianischen Universitäten oder Forschungsinstitute für wichtig erachtet wurden, so wurde dies von den emigrierten Wissenschaftlern bereitwillig erfüllt. Darüber hinaus stellten sie ihre Arbeitsgebiete durchaus auch aus eigenem Interesse auf landesspezifische Themen um.
Die meisten Wissenschaftler, die in Brasilien eine neue Wirkungsstätte im Wissenschaftsbereich fanden, konnte sich relativ rasch integrieren. An den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen des Landes leisteten sie oft über Jahrzehnte hinweg anerkannte Arbeit in Lehre und Forschung.
1 Hierzu u.a. Horst Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München 1984; Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1988; Thomas Koebner, Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen (Exilforschung, Bd. 6), München 1988.
2 Vgl. Carolina Bresslau Aust: Der Beitrag deutscher Wissenschaftler zum Aufbau der Philosophischen Fakultät der Universität Sao Paulo, in: Staden-Jahrbuch, Bd. 11/12, Sao Paulo 1963/64, S. 197-211.
3 Brief des Zoologen Prof. Ernst Marcus an das Reichserziehungsministerium vom 1.6.1936, Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Best. REM Nr. 1393, Bl.26, zitiert nach Deichmann, Ute: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung, Frankfurt/Main / New York 1992, S. 41.