Zeichen gegen die Arroganz
Die junge Generation in Chile fühlt sich von der Politik verraten und verkauft. Oppositionelle Politik findet für sie nur auf der Straße statt
Für die einen ist sie eine Gewalttäterin ohne Respekt vor den Regierenden, gar vom Teufel besessen. Für die anderen ist sie eine Heldin, eine Mutige, die mit ihrer Aktion ein Zeichen gegen die Arroganz der Herrschenden gesetzt hat. Am 14. Juli versuchte die 14-jährige Schülerin María Música Sepúlveda der Erziehungsministerin Mónica Jiménez von ihren Erfahrungen mit dem chilenischen Bildungssystem zu erzählen und dem Kampf, dieses zu verbessern. Schließlich war sie während der Proteste für eine bessere Bildung mehrmals festgenommen und von Wasserwerfern durchnässt worden. Música wollte erzählen, wie sie 13 Stunden lang auf einer Polizeiwache festgehalten wurde, dass ihre MitstreiterInnen physische und psychische Narben davongetragen haben, weil der Staat die Demonstration mit Gewalt auflösen ließ, anstatt in einen offenen Dialog mit der jungen Generation zu treten.
Doch die Politikerin würdigte die Schülerin keines Blickes, nicht einmal eine ihrer berüchtigten ironischen Bemerkungen konnte diese ihr entlocken. Dann ging alles sehr schnell: Música sah eine Karaffe mit Wasser, griff beherzt zu und schüttete der Ministerin den kühlen Inhalt ins Gesicht. Nun muss Música sich demnächst vor Gericht verantworten, wegen eines „Attentats und der Bedrohung einer Autorität“. Ihre Schule hat sie rausgeworfen. Doch sie erfährt zugleich breite Unterstützung: Unter dem Slogan „Todos somos Música“ (Wir alle sind Música) werden Unterschriften gesammelt und Petitionen verfasst. Bei Gewerkschaften und Streikenden gilt sie als Idol, ihre Aktion wird bereits besungen. Selbst die Ministerin wollte sich auf einmal mit Música treffen, doch diese lehnte ab. Das sei doch nur eine „Show“, sagte die Schülerin in einem Zeitungsinterview. Entweder die Ministerin spreche mit allen SchülerInnen oder mit niemandem.
Der Teil der jungen Generation, der sich für soziale und politische Themen interessiert, fühlt sich von der Politik verraten und verkauft. Zwanzig Jahre nach dem Sieg der Opposition über Augusto Pinochet ist überdeutlich: Viele der Versprechen von einst sind unerfüllt geblieben. Das Mitte-Links-Bündnis Concertación, das seit bald 17 Jahren regiert, hat bei vielen das Vertrauen verspielt. Doch seit den großen Protesten der Schülerinnen und Schüler 2006 steht auch fest: Es gibt in der chilenischen Gesellschaft neue Akteure, die Resignation und Phlegma überwunden haben und nach eigenen Ausdrucksformen suchen. Die Concertación tut diese neuen Bewegungen bislang nur als Randgruppen und Minderheiten ab, wenn sie sie überhaupt wahrnimmt. Und das, obwohl es den SchülerInnen gelungen ist, die Regierung unter Präsidentin Michelle Bachelet zu Reformen des Bildungssystems zu zwingen.
Ganz offensichtlich hat die politische Klasse in Chile noch nicht begriffen, wie ernst die Lage im Land ist. Die Wahlbeteiligung der 18- bis 29-Jährigen hat einen historischen Tiefpunkt erreicht. Waren 1989 bei den Wahlen, die den Übergang zur Demokratie bedeuten sollten, noch 36 Prozent dieser Altersgruppe vertreten, so werden sich bei den aktuellen Kommunalwahlen nicht einmal mehr neun Prozent dieser Altersgruppe registrieren lassen, hat Manuel Salazar Salvo für das Magazin Punto Final ausgerechnet. Es gab verschiedene Studien, welche die Hauptgründe für die Wahlenthaltung untersuchten. Sie zeigten, dass Gleichgültigkeit gegenüber den demokratischen Institutionen und ein starkes Misstrauen gegenüber den Eliten zunehmen. Das Gefühl, dass das demokratische System seinen Zauber verloren hat, scheint weit verbreitet zu sein. Je ärmer das Stadtviertel, desto geringer ist die Wahlbeteiligung der jungen WäherInnen. Die Jugend wendet sich ab, ihre Abstinenz bei den Abstimmungen ist ein Zeichen: „Dieses Chile ist nicht unser Chile.“
Ein Grund für diese Einstellung ist das Wahlsystem in Chile, das anders lautender Ankündigungen und Versprechen zum Trotz bis heute nicht reformiert wurde. In diesem binominalen System können in jedem Wahlkreis nur die beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen gewinnen, die Stimmen für alle anderen KandidatInnen verfallen. Da dieses System ein Zweiparteiensystem begünstigt, gibt es de facto bei einer Wahl nur zwei Optionen: Entweder gewinnt die rechte Alianza por Chile (Bündnis für Chile) oder das Regierungsbündnis Concertación, das jedoch ebenso den neoliberalen Kurs fortführt, auf dem sich das Land seit Zeiten der Militärdiktatur befindet.
Die politischen Eliten des Landes haben sich offenbar mit dieser Pattsitutation arrangiert, die von vorne herein als Argument dafür herhalten muss, dass keine tiefgreifenden Reformen mehr angepackt werden (können). Eine linke Option gibt es nicht. Die neuen politischen und sozialen Initiativen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, werden nicht repräsentiert.
Dabei haben in den vergangenen Jahren soziale Bewegungen in Chile an Kraft gewonnen: So werden Ökologie- (die Ablehnung zerstörerischer Großprojekte) und Gender-Fragen verstärkt thematisiert, die Solidarität mit den indigenen Mapuche ist ein wichtiges Thema geworden. Gerade der Mapuche-Konflikt hat in den letzten Wochen an Schärfe zugenommen: In einer Erklärung vom 20. September bekennt sich eine Gruppe von Mapuche zu einem Angriff auf ein Quartier von Spezialeinheiten der Polizei. Mit dem bewaffneten Anschlag am 18. September, dem Nationalfeiertag Chiles, so die Erklärung, solle eine neue Etappe im Kampf um das Territorium eingeleitet werden, das die Mapuche beanspruchen. GroßgrundbesitzerInnen und die Holzindustrie sollen vertrieben werden, zudem sei der Angriff eine Antwort auf die zunehmende Militarisierung der Region.
Bei all diesen Bewegungen geht es nicht nur um die Erweiterung der Themenpalette, sondern auch um neue politische Ansätze linker Politik, die sich bislang eher an den klassischen Interpretationen von Marx und Lenin orientierte und sich schwer tut, die Auswirkungen der komplexen gesellschaftlichen Veränderungen zu begreifen, die die Globalisierung auch für die chilenische Gesellschaft mit sich gebracht hat.
Auch wenn das Wahlbündnis Juntos Podemos Más (Gemeinsam erreichen wir mehr), ein Sammelbecken 17 sehr unterschiedlicher Gruppierungen und Organisationen, darunter die Kommunistische Partei und die Humanisten, bei den Präsidentschaftswahlen 2009 wieder antreten wird (siehe Interview mit Tomás Hirsch in dieser Ausgabe). Oppositionelle Politik wird in naher Zukunft nicht im Parlament, sondern weiterhin auf der Straße und in besetzten Schulen stattfinden. Schließlich haben die machtvollen Demonstrationen der SchülerInnen 2006 und die der Kupfer-LeiharbeiterInnen 2007 gezeigt, dass sich mit Hartnäckigkeit und Vehemenz die politische Agenda beeinflussen lässt. Bis allerdings die Entfremdung der jungen ChilenInnen zum politischen System überwunden wird, dürfte noch viel Wasser in Karaffen gefüllt werden.