Berlinale | Brasilien | Chile | Mexiko | Nummer 609 - März 2025

Zukunft mit Verfallsdatum

In O Último Azul beraubt der Staat alte Menschen per Gesetz ihrer Selbstbestimmung

Von Dominik Zimmer
© Guillermo Garza / Desvia

„Brasilien, ein Land der Zukunft” lautet ein bekannter, euphorischer Bericht des deutschen Autors Stefan Zweig über seine Reisen durch das größte Land Lateinamerikas. „E sempre será“ (und so wird es immer bleiben) fügen viele Brasilianer*innen häufig ironisch an – wissend, dass die so rosig prophezeite Zukunft bis heute auf sich warten lässt. „O futuro é para todos“ (Die Zukunft ist für alle) lautet die vermutlich nicht unbeabsichtigt ähnlich klingende Losung in Gabriel Mascaros sanfter Dystopie O último azul (Der blaue Pfad), die es in den Wettbewerb der Berlinale 2025 geschafft hat. Doch auch diese Message entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn hier hat die Zukunft der Bevölkerung Brasiliens ein Haltbarkeitsdatum: Durch eine Gesetzesänderung werden werden alle Menschen über 75 Jahren dazu verpflichtet, in Senior*innenkolonien zu leben. Selbstbestimmung ist ab diesem Alter nicht mehr möglich, die Vormundschaft für sie geht an ihre Kinder über.

Für Tereza (Denize Weinberg), die in einer Kleinstadt im Amazonasgebiet wohnt und nun das Rentenalter erreicht, kommt diese Nachricht wie ein Schock. Ohnehin hält sie nicht viel vom Ruhestand und würde gerne ihren Job in einer Alligatoren-Zuchtfarm weiterführen. In die Seniorenkolonie will sie schon gar nicht zwangsumgesiedelt werden. Und außerdem hat sie noch einen Traum: Einmal im Leben mit einem Flugzeug fliegen. Also besticht sie mit ihrer Abfindung einen Kapitän und begibt sich per Boot auf die Flucht ins Ungewisse ins Herz des Regenwaldes. Immer dabei die Angst, von der Polizei oder auch ihrer Tochter aufgespürt zu werden, die die Verantwortung für sie nur zu gerne an die Regierung abschieben würde.

Gabriel Mascaro entwirft in O Último Azul ein interessantes dystopisches Szenario in idyllisch anmutender Umgebung. Nicht viel funktioniert in dieser Zukunft: Die meiste Technologie ist veraltet oder kaputt, zu kaufen gibt es kaum etwas. Die Menschen schlagen sich als unzuverlässige Geschäftemacher*innen durch, verlieren ihr weniges Geld beim Glücksspiel und fliehen mittels Alkohol oder Drogen aus der Realität (eine wichtige Rolle spielt dabei der Schleim einer halluzinogenen blauen Schnecke). Bestechung ist genau wie der Glaube an die Religion als rettender Strohhalm allgegenwärtig. Dazu kommt der Überwachungsstaat: Nicht einmal eine Açaí-Bowl (beliebte brasilianische Süßspeise) können alte Menschen ohne Ausweiskontrolle kaufen, das Denunziant*innentum blüht. Kontrastiert wird dieser wenig hoffnungsvolle Ausblick von Guillermo Garzas Kameraarbeit. Die liefert wunderschöne Bilder von Flussfahrten und Sonnenuntergängen auf dem Amazonas sowie dem idyllischen Grün des schier unendlichen Regenwaldes, untermalt von (retro-)futuristischen Elektroklängen.

Der Weg zur Freiheit, das suggeriert O Último Azul deutlich, liegt in der Flucht vor Konsum und Produktion zurück in die Natur. Schade nur, dass fast nicht gezeigt wird, wie die Alternative aussieht. Terezas Widerstände gegen die Senior*innenkolonie werden offensichtlich bei Weitem nicht von allen geteilt, das System scheint gesellschaftlich etabliert zu sein. Die hyperproduktive Ausrichtung der Wirtschaftspolitik des Staates wird zwar in der Filmbeschreibung erwähnt, an den Bildern lässt sie sich nicht erkennen. Und auch die Verfolgung und Kontrolle durch Polizei und Behörden ist mit der Brutalität düsterer Visionen wie George Orwells 1984 nicht ansatzweise zu vergleichen. Vielleicht macht das O Último Azul am Ende ein wenig zu harmonisch, um vor dieser Zukunft wirklich Angst zu verbreiten. Stattdessen erhält der Film die Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung aufrecht – was in politisch düsteren Zeiten aber sicher ebenso berechtigt und notwendig ist.

O Último Azul // Gabriel Mascaro // Brasilien 2025 // 85 Minuten // Berlinale Wettbewerb, Portugiesisch mit englischen Untertitel

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Vorführtermin auf der Berlinale:

Sonntag, 23.2., 21:45, Uber Eats Music Hall


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