Nummer 397/398 - Juli/August 2007 | Uruguay

Zwei Teufel sind einer zu viel

Präsident Vázquez missglückt die Versöhnung von Militär und Bevölkerung

Zum ersten Mal überhaupt waren sich die Militärs und die Menschenrechtsvereinigungen in Uruguay einig. Einig in der Ablehnung eines Vorschlags von Präsident Tabaré Vázquez. Nunca Más! (Nie wieder!) – unter dem Motto dieses Ausrufs, der in Uruguay und ganz Lateinamerika als Symbol gegen den Staatsterror gilt, sollte am 19. Juni ein Tag der „nationalen Versöhnung unter Brüdern“ begangen werden. Er endete in einem Fiasko.

Stefan Thimmel

Der Tag war mit Bedacht gewählt. Am 19. Juni, dem Geburtstag des Nationalhelden und Übervaters der uruguayischen Geschichte, José Gervasio Artigas, sollte es nach dem Willen des Präsidenten einen gemeinsamen Marsch von Militärs, Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen wie der Vereinigung der Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen geben. Vázquez schlug
sogar vor, alle Schüler dazu aufzufordern, an diesem Marsch teilzunehmen. Ziemlich schnell musste er aber zurückrudern. Zuerst war diese Idee nach heftigen Protesten der LehrerInnengewerkschaften und der StudentInnen- und SchülerInnenvereinigungen vom Tisch. Später musste er seinen Vorschlag dann komplett umbauen, nachdem die Basis seiner Mitte-Links-Koalition Frente Amplio nahezu ausnahmslos sein Vorhaben kritisiert hatte. Das Konzept von Vázquez, das Nunca Más auch auf die Aktionen des Widerstandes (hier war vor allem die Stadtguerilla Tupamaros gemeint, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, mit einigen spektakulären Überfällen und Entführungen die rechte Regierung bekämpfte) auszudehnen, wurde sowohl von den Basiskomitees der Frente Amplio als auch den Gewerkschaften, den Familienangehörigen der Verschwundenen sowie von mehreren Frente Amplio-Parteien wie den Kommunisten und der Partei des Sieges des Volkes vehement abgelehnt. Diese Kröte war die übergroße Mehrheit der Frente Amplio Basis nicht mehr bereit zu schlucken. Das „Nie wieder“ ist und bleibt auf den Terror des Staates bezogen, so die klare Botschaft an „ihren“ Präsidenten.

Vertuscht wird
„nur ein bisschen“
Am 4. Juni, zwei Wochen nachdem am 20. Mai über 50.000 Menschen beim alljährlichen Gedenkmarsch für die 1976 in Argentinien ermordeten uruguayischen Politiker Héctor Gutiérrez Ruiz und Zelmar Michelini gegen die „Versöhnung“ protestiert hatten, kam der Rückzieher. „Nunca más terrorismo del estado“ (Niemals mehr Staatsterrorismus), verkündete Vázquez in einer Erklärung als neue und alte Formel. Sekundiert wurde er beim Versuch, einen totalen Gesichtsverlust zu vermeiden von Jorge Rosales, dem Kommandeur der uruguayischen Streitkräfte. Rosales hatte in einer Ansprache nur wenige Tage zuvor jedwede Verantwortung der Militärs für die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur negiert und ebenso wie die Gewerkschaften und die Angehörigen auf der anderen Seite ausgeschlossen, sich hinter der „Versöhnungsfahne“ des Präsidenten am 19. Juni einzureihen. Mehr noch: Auf Vorwürfe, die Militärs hielten Informationen über das Schicksal der Verschwundenen in Uruguay zurück, gab er kurz und knapp eine mehrdeutige Erklärung. „Alle Akten sind beim Ministerium für Verteidigung und es wird nichts vertuscht und wenn dann vielleicht nur ein bisschen“.
Ohne Beteiligung des Volkes, ohne die Basis der uruguayischen Linken, fand dann der Staatsakt, am Morgen des 19. Juni statt. Nur insgesamt ca. 3.000 Personen waren gekommen, die Mehrzahl davon ParteienvertreterInnen und aktive und ehemalige Militärs. Die sozialen Organisationen, die Menschenrechtsorganisationen, die StudentenInnenbewegung, die Gewerkschaften und einige Sektoren der Frente Amplio fehlten komplett. Die sozialen Bewegungen und Organisationen, die wesentlich am Wahlsieg der Frente Amplio und ihrer Partner am 31. Oktober 2004 beteiligt waren, sich aber heute, nach knapp zweieinhalb Jahren immer weniger von „ihrer Regierung“ vertreten fühlen, führten am Abend mehrere Demonstrationen gegen den Marsch durch. Diese wurden allerdings durch einen harten Polizeieinsatz, bei dem es mehrere Verletzte und Verhaftete gab, jäh unterbrochen. Offensichtlich ist, dass es nichts mehr zu feiern gibt. Der legendäre Ausspruch des Präsidenten in der Nacht des Wahlsiegs, „Feiert, Uruguayer, feiert“ ist heute nur noch Anlass für sarkastische Bemerkungen. Die deutlichsten Worte fand, wie so oft, wenn die Regierung kritisiert wird, der ehemalige Tupamaro Jorge Zabalza: „Das Volk hat den Staatsakt nicht unterstützt und sie waren total isoliert, nur umringt von Militärs.“
Auch von den Gewerkschaften, bislang eine der Hauptstützen der Frente Amplio, entfremdet sich die Regierung immer mehr. Zuerst durch die neoliberal orientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik des einflussreichen Ministers Danilo Astori, nun durch die völlig missratene „Versöhnungskampagne“. „Da gab es Märsche und Gegenmärsche und lauter konfuse Positionen. Darüber hinaus war der Ansatz des Präsidenten, von einem Krieg zwischen den UruguayerInnen auszugehen, völlig falsch. Hier gab es keinen Krieg zwischen den Uruguayern, sondern die Durchsetzung des Staatsterrors“, so die klare Haltung von Luis Puig, Mitglied des Direktoriums des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT.

Umarmung mit Diktatorensohn
Ein weiterer Kernpunkt der Konfrontation ist die Diskussion um die Interpretation des Straflosigkeitsgesetzes. Der PIT-CNT sowie viele Sektoren innerhalb der Frente Amplio fordern die Annullierung des 1986 vom Parlament beschlossenen und 1989 in einem Referendum bestätigten Gesetzes. Der Präsident lehnt dies bisher kategorisch ab.
Das Bild des Tages am 19. Juni war die öffentliche Umarmung zwischen Vázquez und Pedro Bordaberry, Politiker der rechten Colorado-Partei und Sohn von Juan María Bordaberry, dem Diktator, der 1973 die Militärdiktatur einleitete. Und Bordaberry Junior nutzte gleich die Gelegenheit, um weiter Öl ins Feuer zu gießen: “Ich glaube, es ist eine gute Absicht des Präsidenten, „Nie Wieder“ zu Gewalt, sowohl zur Gewalt des Staates als auch zur Gewalt wie in den 1960ern, den 1970ern und den 1980ern zu sagen”. Seinen Vater, der seit Dezember 2006 im Gefängnis sitzt und dem Mittäterschaft in mindestens 14 Mordanklagen vorgeworfen wird, wird es gefreut haben. Die Angehörigen der Verschwundenen sind entsetzt und fühlen sich verraten. Bis heute wurden erst die sterblichen Überreste von drei während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 Verschwundenen gefunden. Für Luisa Cuesta von der Vereinigung der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen, gibt es kein Wenn und Aber bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur, die in Uruguay, 22 Jahre nach der Wiedereinführung der Demokratie, gerade erst begonnen hat: „Das Nunca Más bedeutet, dass die Streitkräfte sagen, was passiert ist. Dass wir die Wahrheit erfahren. Das Nunca Más heißt Nein zum Staatsterror und nichts anderes.“
Zur „Versöhnungs-Strategie“ von Vázquez gehört auch ein Gesetzentwurf, der von Daniel García Pintos, einem Abgeordneten der Colorado-Partei, ins Parlament eingebracht wurde und der eine gleichberechtigte Entschädigung für alle Opfer von Gewalt vorsieht. Das Gesetz, das mit den Stimmen der Frente Amplio-Mehrheit verabschiedet wurde, stellt die unter der Militärdiktatur Inhaftierten, Verschwundenen und Ermordeten und deren Angehörige mit den Polizisten, Militärs und Zivilpersonen, die während der Zeit von 1962 bis 1973 Opfer von Gewalt wurden, auf eine Stufe. Es provozierte heftigen Widerspruch und Empörung innerhalb und außerhalb der Frente Amplio. Vor allem, weil damit die Theorie der „Zwei Teufel“ bestätigt wird, die besagt, dass sowohl Militärs als auch der breite gewerkschaftliche und studentische Widerstand und Gruppierungen wie die Tupamaros Schuld an der Zerschlagung der demokratischen Institutionen Anfang der 1970er Jahre tragen.
Der Theorie der „Zwei Teufel“ hängt auch das Bündnis MPP (Movimiento de Participación) an, dessen Herzstück die ehemaligen Tupamaros mit ihrer Leitfigur José „Pepe“ Mujica bilden und das heute die stärkste Fraktion innerhalb der Frente Amplio stellt. Jorge Zabalza, selbst einer der „Geiseln des Staates“ während der Militärdiktatur (wie sein ehemaliger Kampfgefährte und heutige Gegner Mujica war er viele Jahre in Einzelhaft eingekerkert), erklärt zur „Theorie der Zwei Teufel“ verbittert: „Die Entscheidung, den einzigen Teufel, den es im Land gab, zu umarmen, öffnet Tür und Tor für einen neuen Staatsterrorismus, eine neue Diktatur und eine neue Repression.“

Kampf um die Nachfolge
Das zweite Nunca Más (das zumindest bis 2014 gilt) von Tabaré Vázquez kam allerdings überraschend: Anfang Juni stellte er klar, dass er sich nicht um eine weitere Amtszeit bemühen wird. Obwohl die Verfassung eine direkte Wiederwahl des Präsidenten nicht vorsieht, hatten doch nicht wenige seiner Anhänger damit gerechnet, dass die Frente Amplio und die mit ihr regierenden Parteien und Gruppierungen es darauf anlegen würden, mit ihrer absoluten Mehrheit in beiden Kammern des Parlamentes die Verfassung zu ändern, um eine zweite Amtszeit von Vázquez zu ermöglichen. Warum aber gerade jetzt dieser Schritt, nachdem der Präsident über Monate zu den ins Kraut schießenden Spekulationen geschwiegen hatte? Offensichtlich ist, dass er einerseits damit die Aufmerksamkeit weg von seiner bislang größten internen Niederlage lenken wollte und andererseits die Frente Amplio, die ihm bei seinem Vorhaben den 19. Juni jedes Jahres als Tag eines generellen „Niemals wieder“ zu begehen, nicht gefolgt ist, auch irgendwie abstrafen wollte.
Nach dem Rückzug des Präsidenten herrscht jetzt Klarheit und der interne Machtkampf innerhalb der Frente Amplio im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl im Oktober 2009 hat begonnen. Alles deutet auf einen Machtkampf zwischen den beiden politischen Schwergewichten in der Mitte-Links-Regierung Uruguays hin. Auf der einen Seite steht der eher marktliberal orientierte Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori, der sich schon im Vorfeld der Wahlen 2004 nur widerwillig hinter den Kandidaten Vázquez gestellt hatte, in den Startlöchern. Auf der anderen Seite findet sich der nur schwer in Kategorien von Mitte oder Links einzusortierende Agrarminister José „Pepe“ Mujica, der sich bislang immer noch ziert, sich öffentlich zu einer möglichen Kandidatur zu erklären. Explizit ausgeschlossen hat er eine Kandidatur aber auch nicht. Nicht ausgeschlossen ist auch eine überraschende Kandidatur eines Dritten. Der ist allerdings bisher nicht aufgetaucht. Viele erwarten und erhoffen sich jetzt von der verbleibenden Regierungszeit, dass der Präsident endlich mehr regiert und weniger moderiert. Und so zum Beispiel Astori dazu auffordert, endlich eine Umverteilung des Wohlstandes einzuleiten, denn aktuelle Zahlen belegen, dass sich während der zwei Jahre der Regierungszeit der Frente Amplio die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet hat.

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