Literatur | Nummer 463 - Januar 2013

Zweisprachiges Leben pur

In Berlin fand das Poesiefestival Latinale zum siebten Mal statt

Leben pur – pura vida: Das Motto der Abschlussveranstaltung der Latinale 2012 steht Pate für den Gesamteindruck, den das mobile Festival bei seinen Teilnehmer_innen hinterlassen hat.

Daniel Bencomo, Übersetzung: Laura Haber

Die Latinale rollt, wie das Krokodil, das in ihrem Logo erscheint und in der lateinamerikanischen Dichterszene zu einer echten Referenz geworden ist. Kein Krokodil mit einem Schlund, der Dinge verschlingt, sondern mit einem, der Verse herausschießt, mit dem Megafon, von Feuerland bis Tijuana. Mir fällt ein, dass Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Taxis in Mexiko grün und seitlich mit Streifen mit schwarz-weißen Dreiecken bemalt waren, die an lange Kiefer erinnern sollten. Sie wurden „Krokodile“ genannt und standen als Synonym für ein fröhliches Durcheinander. Mit ebensolcher Fröhlichkeit empfing uns das Poesiefestival Latinale in Berlin, das 2012 in siebter Auflage stattfand. Wir trafen uns ganz in der Nähe des Alexanderplatzes, sieben Autoren aus Mexiko, Puerto Rico, Chile, Ecuador und Argentinien. Berlin fungierte als neuronales Zentrum, und wie jedes Jahr ergaben sich von dort aus die neuen Routen: Dieses Jahr war Osnabrück mit einem Besuch an der Reihe. Denn darum geht es bei der Latinale auch: Netzwerke, neue Verbindungen aufbauen in alle Winkel, wo Gedichte auf Spanisch widerhallen. In gleicher Weise besuchte die Latinale 2011 die Buchmesse von Guadalajara in Mexiko und brachte eine Handvoll deutscher Poeten mit, was Gelegenheit dazu gab, Bande zu knüpfen und die Poesie rollen zu lassen. Osnabrück also, in Begleitung von Nicole Delgado aus Puerto Rico und Rike Bolte aus dem Team der Latinale. Wir brachen am 6. November auf, Niedersachsen kennenzulernen. Die Lesung in der Stadt war sehr angenehm und gut besucht, im Haus der Literatur, dessen Treppe sich als die älteste Norddeutschlands erwies. Bereits zu diesem Zeitpunkt überraschte uns der lebhafte und zahlreiche Zulauf, das Interesse des Publikums für etwas, das dem unmittelbaren Empfinden nach so fern zu liegen scheint: Junge lateinamerikanische Poesie? Schwillt sie an oder klingt sie ab? Klingt sie nach Kaktus und Mambo? Nach Mariachi oder Tango?
Das Reisen im Zug und der weite Horizont gestatteten es uns, endlos zu reden – vor dem beweglichen Hintergrund aus Kiefern, einigen Fachwerkhäusern und Windmühlen – zu reden vom durchsichtigen und undurchsichtigen Begriff „lateinamerikanische Poesie“. Was ist das? Ich erinnere mich, wie Timo Berger einmal diesen Gedanken formulierte: Lateinamerika ist eine der wenigen Weltregionen, wo man unermessliche Gebiete bereist, wo man den Äquator überquert und die Sprache bleibt. Ist es dieselbe? Ich weiß es nicht. Wir benutzen für sie nicht einmal dieselbe Bezeichnung. Doch gibt es etwas, was die wagemutigste Poesie Lateinamerikas verbindet: Trotz des unermesslichen (Sprach-)Kontinents, auf dem sie geschaffen wird, führen die Gedichte die Sprache an ihre Grenzen, zwingen sie zum Äußersten, sei es durch die Worte oder Ideen. Die Autoren, die sich regelmäßig zur Latinale getroffen haben, machen diese Spannung stets sichtbar. Bei Unterhaltungen in der U-Bahn, bei Lesungen, beim übernächtigten Frühstück oder Spaziergängen durch Kreuzberg entdecken wir Unterschiede, Übereinstimmungen, Komplizenschaften: Marina Mariasch, Omar Pimienta, Enrique Winter, Elsye Suquilanda, Christian Forte, Nicole Delgado und der Autor dieses Textes. Es mangelte weder an Humor noch an Gelächter, als wir uns als Ausländer, nah bei der Spree und unter uns wiederfanden, Landsleute aus einem merkwürdigen Nebel, wo wir manchmal wie Elektronen aufeinanderstoßen. Es ging um die Frage des Übersetzens.
Nicole entdeckte, dass sich alle Autoren der diesjährigen Latinale mit der Übersetzung von Poesie beschäftigen: Für Omar Pimienta, der immer zwischen Tijuana und San Diego pendelt, ist sein Leben eine Übersetzung. Jede Übersetzung, jegliche Nähe zu den Grenzen, und das sage ich als Mexikaner, bedeutet einen Akt der Gewalt. Grenzen verändern sich, wenn wir es am wenigsten erwarten. Christian Forte brachte uns zum Treptower Park und auf dem Rückweg Richtung Kreuzberg in der frühen Berliner Dämmerung sprachen wir von alldem. Dann an einem Dönerstand ankommen und eine stark gewürzte Linsensuppe essen, ohne Sterne.
Das Leben als Übersetzung und als vorübergehender Zustand. Diesen vorübergehenden Zustand konnte ich in Berlin erleben: die deutsche Sprache wieder «live» hören, die Leute auf der Straße ansprechen, Glühwein trinken und Lebkuchen essen, mit Berliner Freunden quatschen und die Schauplätze einiger Werke entdecken, die mir wichtig sind und die ich übersetze: Leben pur und ja, zweisprachiges Leben pur. Die Spazierfahrten in feuchten Trams durch die Berliner Straßen zu den Antiquariaten, in Begleitung von Tom Schulz, einem Dichter, den ich als Person sehr schätze und dessen Poesie ich übersetze. An eine Buchhandlung in Friedrichshain erinnere ich mich besonders: Ihre Spezialität waren in der DDR veröffentlichte Ausgaben, und ich erinnerte mich auch an Georg Steiner, als er sagte, dass Europa… Aber da war es Zeit für eine Currywurst und wir gingen, die Mützen aufgesetzt, glücklich nach draußen, um irgendeine Köstlichkeit aufzustöbern.
Später die Lesung im Iberoamerikanischen Institut: Die Teilnehmer zeigten uns die Gegenstände, die sie inspirieren. Christian hatte mit seinem Duo «Leise y lento» Musik vorbereitet, Omar brachte seine Familie, komprimiert auf einem Foto, Marina ihre Tochter auf einer bunten Stute. Zuletzt die gemeinsame Lesung im Instituto Cervantes, wo die Nerven vor so vielen Leuten blank liegen: Wir sind kleine, verrückte, manchmal leere, manchmal vollgestopfte Lesungen gewohnt. Bevor wir losziehen zum Feiern und Tanzen, zu was auch immer uns der DJ auflegen mag, verbringen wir einen wunderbaren Nachmittag im Übersetzungsworkshop: Dort entdecken wir (noch einmal), dass jedes Gedicht mehrere verborgene Gesichter hat, dass die Übersetzung ein Kartenhaus ist, das bei Unvorsichtigkeit in sich zusammenfällt. Wieder erstaunte uns die Teilnahme so vieler Leute, von der Universität oder einfach interessiert. Danach musste Marina los und wir beobachteten, wie sie sich mit einem riesigen Koffer zur U-Bahn entfernte. Was sie wohl mit sich davontrug?
Denn einige Fragen bleiben offen: Was geschieht nach unserem Aufenthalt in Berlin, was geschieht in einer spanischsprachigen Vorstellungswelt, welche Vorratsspeicher füllen sich und welche Wolken „regnen“ sich leer, das ist mir nicht ganz klar. Ich glaube, dass wir einen mächtigen Kulturschock erleben werden, der uns verpflichtet, die Realität unserer Länder zu überdenken, der uns dazu bringt, Freuden zu entdecken und Alpträume zu erhellen. Lateinamerika kann ein Horrorfilm sein, aber seine Poesie ist ein Fehler im Film, jener schwarze Fleck auf dem Band, der einen Riss vorausahnen lässt, ein wildes und fröhliches Gelächter, unbesorgt. Fulminant und lustig, intensiv war die Latinale 2012. Ich weiß, dass wir uns nach dem Festival näher sein werden, von Buenos Aires bis San Juan, auf vielfältige und einzigartige Art und Weise. Der Dank gegenüber Timo, Rike, Diana, Romy und dem ganzen Team der Latinale ist unermesslich. Zeitverschoben reisten wir in Richtung unserer eigenen Zeitverschiebungen ab. Alle mit Eindrücken, welche die scharfe Kälte in Berlin uns beschert hat, und innen mit einer warmen Wunde, die uns der Schlund der Echse hinterlassen hat.

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