Nummer 555/556 - September/Oktober 2020 | Venezuela | Wahlen

ZWISCHEN BOYKOTT UND NEUEN OPTIONEN

Vor den für Dezember geplanten Parlamentswahlen in Venezuela gibt es sowohl innerhalb der Rechten als auch der Linken Spaltungen

Während der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó und die US-Regierung auf einen Boykott der für den 6. Dezember geplanten Parlamentswahlen setzen, wollen moderate Oppositionelle daran teilnehmen. Mit dem zweifachen Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles stellt sich ein prominenter Oppositionspolitiker offen gegen Guaidó. Doch nicht nur die Rechte ist gespalten. Kleinere linke Parteien schmieden ein Bündnis jenseits der Regierung.

Von Tobias Lambert

Asamblea nacional Die Nationalversammlung soll im Dezember neu gewählt werden (Foto: Paulino Moran (CC BY 2.0), Flickr)

Der Schritt kam überraschend. Gut drei Monate vor der in Venezuela geplanten Parlamentswahl begnadigte Präsident Nicolás Maduro Ende August 110 Oppositionelle. Darunter befinden sich zahlreiche Abgeordnete, die bis dato im Gefängnis, in Botschaften und im Exil waren oder unter Hausarrest standen. Vielen von ihnen wird vorgeworfen, in putschistische Aktivitäten verstrickt zu sein. Gegen die meisten fand jedoch niemals ein Prozess statt.

Begnadigt wurden auch prominente Vertraute des selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó, wie dessen Stabschef Roberto Marrero. Nicht auf der Liste befindet sich hingegen Guaidós Mentor Leopoldo López, der dessen Partei Volkswille (VP) anführt und in Folge der gewalttätigen Proteste von 2014 zu fast 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Seit dem gescheiterten Putschversuch am 30. April vergangenen Jahres, als Guaidó ihn aus dem Hausarrest befreien ließ, sitzt López in einem Gebäude der spanischen Botschaft fest. Ebenso wenig berücksichtigte Maduro eingesperrte dissidente Militärs und linke Regierungskritiker*innen, auch wenn sich unter den Begnadigten mit Nicmer Evans ein früherer Chavist befindet, der mittlerweile Guaidó unterstützt.

Maduro begründete die Begnadigungen öffentlich als Beitrag zu „Dialog und Versöhnung“. International gab es zaghaftes Lob: Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sprach von einen „positiven Schritt“, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell von „guten Nachrichten“. Für eine von Maduro gewünschte EU-Wahlbeobachtermission fordert Borrell jedoch die Verschiebung der für den 6. Dezember geplanten Parlamentswahl. Die US-Regierung äußerte sich hingegen ablehnend. Außenminister Mike Pompeo erklärte, in Venezuela bestünden „für freie und faire Wahlen nicht die notwendigen Voraussetzungen und daran ändert auch die Freilassung politischer Gefangener nichts.“ Dieselbe Position vertritt Guaidó. „Das Regime hat heute Geiseln freigelassen“, twitterte er.

Freilassung Oppositioneller vor den Parlamentswahlen

Die Begnadigungen ermöglicht haben offenbar Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles und der Oppositionsabgeordnete Stalin Gónzalez. Unter Vermittlung der Türkei führten sie hinter dem Rücken Guaidós Geheimgespräche mit Präsident Maduro. Das Guaidó-Lager, das jeglichen Kontakt zur Regierung ablehnt und nach wie vor auf dem bedingungslosen Abgang Maduros besteht, zürnte. In den sozialen Medien wurde Capriles, der schon zuvor auf Distanz zu Guaidó gegangen war, als „Verräter“ diffamiert. Der zweifache Präsidentschaftskandidat konterte: „Mit Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft zu sprechen ist normal, wenn man an Politik und Demokratie glaubt“, schrieb er auf Twitter.

Äußerungen von Capriles und Gónzalez von Anfang September deuten darauf hin, dass sie sich an den Parlamentswahlen beteiligen wollen. Damit vollziehen die beiden prominenten Regierungsgegner den offenen Bruch mit dem Guaidó-Lager. Der Opposition droht die nächste Spaltung. Dabei hatte Guaidó erst Mitte August einen Vorschlag lanciert, um die Regierungsgegner*innen im Vorfeld der Parlamentswahlen weitgehend zu einen und den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Mittels eines gemeinsamen Fahrplans, der unter anderem eine Befragung der Bevölkerung und neue Mobilisierungen vorsieht, soll das Militär zum Umsturz bewegt werden. Doch der Vorschlag stieß nicht nur bei Pragmatiker*innen wie Capriles auf Ablehnung, sondern auch bei Hardlinern wie María Corina Machado, die offen für eine US-Militärintervention eintritt. Derartigen Forderungen erteilte Elliot Abrams, der US-Sondergesandte für Venezuela, Anfang September indes eine Absage. In Anspielung auf das literarische Werk des Kolumbianers Gabriel García Márquez bezeichnete er Machados Vorstellungen als „magischen Realismus“. Nach zahlreichen Rückschlägen wird das Guaidó-Lager politisch fast nur noch durch die Unterstützung der US-Regierung am Leben erhalten.

Geht es nach dem Willen der Regierung, könnte eine im Dezember neu gewählte Nationalversammlung ab Anfang 2021 die regierungsnahe Verfassunggebende Versammlung ersetzen. Diese fungiert seit Mitte 2017 de facto als Parallelparlament, ohne einen neuen Verfassungstext ausgearbeitet zu haben. Ebenso wie bei der Präsidentschaftswahl 2018 ruft ein Teil der rechten Opposition jedoch zum Boykott auf und hält an Guaidó als „Interimspräsident“ fest. Insgesamt 27 Parteien erklärten Anfang August, sich „nicht an dem Betrug zu beteiligen, zu dem die Diktatur aufgerufen hat.“ Die Namen der großen Oppositionsparteien Gerechtigkeit Zuerst (PJ), Demokratische Aktion (AD) und VP werden im Dezember dennoch auf dem Wahlzettel stehen. Das regierungsnahe Oberste Gericht hatte die Kontrolle über die Parteien und ihre Symbole im Juli jeweils dem Minderheitsflügel übertragen, der sich für die Teilnahme an Wahlen ausspricht. Doch um die Legitimität der Wahlen zu erhöhen, braucht die Regierungspartei Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) ernstzunehmende Gegner*innen. Zwar nehmen moderate Oppositionsparteien wie Progressiver Fortschritt (AP) des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Henri Falcón teil, der im Mai 2018 Maduro unterlegen war. Die meisten Beobachter*innen sehen in den Begnadigungen jedoch den Versuch Maduros, weitere namhafte Kandidat*innen wie eben Henrique Capriles zur Teilnahme zu bewegen.

Da das Parlament derzeit nicht arbeitsfähig ist und ein Konsens zur Neubesetzung des Nationalen Wahlrates unmöglich war, hatte das regierungsnah besetzte Oberste Gericht im Juli dessen neue Mitglieder*innen ernannt. Für die Parlamentsabstimmung im Dezember beschloss der Nationale Wahlrat anschließend einige Änderungen. Unter anderem steigt die Zahl der Abgeordneten von 167 auf 277. Elemente des Verhältniswahlrechts werden gegenüber dem Mehrheitswahlrecht gestärkt. Dies bietet kleineren Parteien mehr Chancen auf Sitze. Da das Wahlsystem aber nach wie vor die stärkste Kraft bevorzugt, ist das Risiko für die Regierung überschaubar. Mit der Wahlmaschinerie der PSUV kann keine andere Partei auch nur annähernd mithalten, der Sieg dürfte ihr aufgrund der gespaltenen Opposition kaum zu nehmen sein.

Die Parlamentswahl kann dennoch politische Verschiebungen bewirken. Wird der Trend hin zu einer sinkenden Wahlbeteiligung gestoppt, würde dies die Hardliner innerhalb der Opposition schwächen. Und der intern bereits geschwächte Guaidó, der seinen Anspruch auf die Interimspräsidentschaft vom Parlamentsvorsitz ableitet, wird nicht einmal mehr gewöhnlicher Abgeordneter sein. Eine niedrige Wahlbeteiligung hingegen könnte das Guaidó-Lager in seinem Konfrontationskurs bestätigen, moderate Oppositionelle wie Falcón und Capriles schwächen und den Machtkampf wieder verschärfen.

Regierung geht gegen neues Bündnis linker Gruppen vor

Nicht nur die rechte Opposition ist gespalten. Anfang August hatten die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), die gewerkschaftsnahe Partei Heimatland für Alle (PPT) sowie weitere linke Gruppen offiziell angekündigt, mit einem eigenen Wahlbündnis jenseits der PSUV anzutreten. Die neue „Revolutionär-Populare Alternative Venezuelas“ sieht sich ausdrücklich als Alternative innerhalb der Revolution und will sich für „die Rechte der Bevölkerung, die Löhne der Arbeiter, die nationale Unabhängigkeit und die effektive Ausübung der demokratischen Partizipation an der Basis“ einsetzen. Der Regierung wirft das Bündnis vor, diese einstigen Kerninhalte chavistischer Politik aus den Augen verloren zu haben.

Nüchtern betrachtet kann die Regierungspartei auf die Stimmen der kleineren Parteien zwar verzichten – bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen steuerten PCV und PPT zu den insgesamt 6,2 Millionen Stimmen Maduros nicht einmal 300.000 bei. Deutlich bessere Ergebnisse erzielten die kleineren Parteien allerdings bei den Bürgermeister*innen- und Kommunalwahlen 2017 und 2018, wo sie teilweise eigene, basisnahe Kandidat*innen gegen die PSUV ins Rennen schickten und in einer Ortschaft gar um den Wahlsieg geprellt wurden. Symbolisch bezog das Bündnis mit den kleineren Parteien stets Sektoren der Linken mit ein, die sonst eher mit der PSUV fremdeln. Und Parteien wie PPT und PCV leisteten häufig wichtige Debattenbeiträge, die innerhalb der PSUV kaum möglich erschienen.

Aus den Reihen der regierenden Chavist*innen wurden umgehend Stimmen laut, die den kleinen Parteien „Verrat“ vorwerfen. Kurz darauf zeigte sich, dass die Regierung nicht gewillt ist, alternative linke Kräfte anzuerkennen. Ähnlich wie bei den großen Parteien der rechten Opposition griff das Oberste Gericht Mitte August auch in die internen Strukturen kleinerer chavistischer Parteien ein. Zunächst sprach es die Führung der radikal-chavistischen Partei Tupamaro dem regierungstreuen Flügel zu. Die Tupamaros waren auf Distanz zu Maduro gegangen und wollten bei der Parlamentswahl alleine antreten. Anschließend wiederholte das Gericht dieses Vorgehen in Rekordzeit bei der PPT, deren Name und Symbole nun vom regierungsnahen Minderheitsflügel verwendet werden dürfen, der als Verbündeter der PSUV auf den Wahlzetteln stehen wird. Die Kandidat*innen des eigentlich geplanten neuen Linksbündnisses sollen nun auf der Liste der PCV antreten.

Da der Regierung vor allem an der Legitimität der Parlamentswahlen gelegen ist, überrascht das Vorgehen gegen dissidente kleinere Parteien. Denn die Regierungspartei könnte von der linken Konkurrenz sogar profitieren. Aufgrund vieler enttäuschter Chavist*innen dürfte die Wahlbeteiligung durch die linke Alternative steigen, ohne dass dies die PSUV-Mehrheit gefährdet. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist allerdings die Corona-Pandemie, die mittlerweile auch in Venezuela immer akuter wird. Aus Angst vor Ansteckung könnten zahlreiche Wähler*innen zu Hause bleiben.

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