Zwischen Enttäuschung und Ratlosigkeit
In Chile fühlt sich alles nach Stillstand an

Links und rechts nur Menschen, die Masse breitet sich bis zum Horizont aus. Das waren Bilder, die um die Welt gingen und in Erinnerung bleiben: ein buntes, widerständiges Treiben. Ebenso gingen die Bilder von brutaler Polizeigewalt um die Welt. 34 Tote, über 400 Menschen mit schweren Augenverletzungen und mehr als 1.100 Fälle missbräuchlicher Gewaltanwendung gehören laut Amnesty International zur Bilanz des sogenannten estallido social („sozialer Ausbruch“) im Jahr 2019 (siehe LN 546).
Seitdem sind mehr als fünf Jahre vergangen. Ende 2025 wird gewählt. Was bleibt vom großen Aufstand? Vom Wunsch nach radikalem Wandel? Und schließlich von der Regierung des amtierenden Präsidenten Gabriel Boric? Bereits als Abgeordneter war Boric früh von Teilen der Demonstrierenden kritisiert worden. Sein Friedenspakt mit den traditionellen Parteien und damit auch der verhassten Regierung seines Vorgängers Piñera während der Proteste 2019 gab eine klare Richtung vor: Wandel innerhalb der Institutionen. Doch das Misstrauen gegenüber den Institutionen sitzt tief.
Von Reformen und Versprechen
Nach der Wahl Ende 2021 übernahm die Regierung Boric die von Polarisierung und Pandemie gezeichnete Gesellschaft. Mit der Ablehnung beider Verfassungsentwürfe in Referenden (siehe LN 596) scheiterte die Regierung bereits frühzeitig mit ihrem wichtigsten Anliegen.
Dennoch war Borics Regierung nicht untätig: Die Inflation sank von 11,65 Prozent im Jahr 2022 auf aktuell 3,9 Prozent. Der Mindestlohn stieg von 350.000 Pesos sukzessive auf aktuell 500.000 Pesos (circa 500 Euro). Steuerreformen sollen dazu beitragen, die Sozialausgaben zu decken, neue Steuern im Kupferabbau die Ungleichentwicklung der Provinzen bekämpfen und die Dezentralisierung vorantreiben. Punktuell entlastete die Regierung durch das Einfrieren von Preisen, beispielsweise bei Strom oder öffentlichem Nahverkehr. Das aktuelle Wirtschaftswachstum liegt mit etwa zwei Prozent auf dem Niveau vor der Pandemie.
Zu den ambitionierten Zukunftsplänen gehören auch die Investitionen in grünen Wasserstoff (siehe Dossier 21) im Zuge der Energiewende sowie die Digitalisierung des Landes. Im Januar 2024 kündigte die Regierung den Bau eines Unterseekabels in Zusammenarbeit mit Google an. Chile solle ein digitaler Hub werden und regionaler Vorreiter in Künstlicher Intelligenz.
Allzu bekannte Probleme
Dennoch bleibt das Gefühl von Enttäuschung bei vielen, die sich einen deutlicheren Wechsel erhofft hatten: zu wenig, zu langsam, nicht substanziell. Im Juni 2024 kündigte Boric angesichts der steigenden Energiepreise an, diese kein weiteres Mal einzufrieren. Das sei nicht nachhaltig tragbar, er wolle keine Wahlkampfgeschenke machen. Auch die Kriminalität bleibt ein Problem. Tatsächlich ist sie seit den frühen 2000er Jahren ein Dauerthema in Meinungsumfragen. Die wahrgenommene Unsicherheit ist seit 2022 zwar gesunken, liegt jedoch immer noch auf hohem Niveau. Laut der Regierung ist die Mordrate 2024 zurückgegangen.
Trotz der feministischen Stoßrichtung der Regierung, wurden laut der offiziellen Angaben im vergangenen Jahr 41 erfolgte, 266 missglückte und 68 beabsichtigte Feminizide registriert (Stand Anfang Dezember 2024) – keine Verbesserung im Vergleich zum Vorjahr.
Erschwerend kommt eine ganze Reihe an Skandalen hinzu: Mitte November 2024 wurde Manuel Monsalve wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in Untersuchungshaft genommen. Monsalve war als Untersekretär des Innenministeriums Kernfigur im Kampf gegen das Verbrechen. Nachdem die Presse über die Vorwürfe berichtete, trat er zurück. Monsalve, Boric und Innenministerin Carolina Tohá waren über die Vorwürfe und laufenden Ermittlungen informiert. Dass Monsalve zunächst im Amt blieb, wurde breit kritisiert; nicht zuletzt von der rechten Opposition.
Seit Ende November 2024 wird auch Gabriel Boric selbst sexuelle Belästigung vorgeworfen. Bereits 2021 kam es zu Vorwürfen, die auf das Jahr 2011 zurückgingen. Die Beschuldigende äußerte damals öffentlich, Boric habe sich für sein Verhalten entschuldigt, sie verweigerte sich der rechten Vereinnahmung und rief dazu auf, Boric zu wählen. Auch die Geschehnisse im aktuellen Skandal liegen zehn Jahre zurück. Laut Boric habe die Beschuldigende ihm unaufgefordert E-Mails geschickt, mindestens eine davon mit sexuell explizitem Material.
Skandal nach Skandal
Regierungssprecherin Camila Vallejo, inzwischen im Mutterschutz, bezeichnete die Vorwürfe als haltlos. Auch die ehemalige feministische Aktivistin und amtierende Ministerin für Frauen und Gleichstellung, Antonia Orellana, verteidigt Boric. Während die Rechte skandalisiert, vermuten andere einen klassischen Fall von Täter-Opfer-Umkehr. Das Misstrauen ist angesichts der Tradition patriarchaler Gewalt verständlicherweise groß. Die Ergebnisse der jeweiligen Untersuchungen bleiben abzuwarten; festzuhalten ist, dass mit den Ministerinnen Tohá und Orellana zwei Frauen im Zentrum der Kritik stehen.
Tatsächlich sind die jüngsten Ereignisse vorläufige Höhepunkte einer ganzen Reihe von Skandalen. Die Regierung wurde mit öffentlichkeitswirksamen Vorwürfen der Veruntreuung wegen der Finanzierung diverser Stiftungen konfrontiert. Diese Praxis ist nicht ungewöhnlich, dennoch wurden eine interne Prüfung sowie diverse Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Ebenso öffentlichkeitswirksam waren die Korruptionsvorwürfe gegen Daniel Jadue, den ehemaligen kommunistischen Bürgermeister des Stadtteils Recoleta der Hauptstadt Santiago. Kritiker*innen sahen hierin von Anfang an einen politisch motivierten Prozess. Im Kern drehen sich die Anschuldigungen um die während der COVID-19-^Pandemie gegründeten Volksapotheken. Diese verkauften Produkte wie Masken und Desinfektionsmittel unter dem Preis der privaten Apotheken. Juristisch gesehen operierten sie als private Körperschaft mit Jadue als Vorsitzenden. Ihm wird vorgeworfen, den Zulieferer Best Quality hinsichtlich des prekären finanziellen Zustands der Volksapotheken getäuscht zu haben. Neben den daraus abgeleiteten Betrugsvorwürfen wird Jadue Veruntreuung vorgeworfen, da er versuchte die Volksapotheken mit kommunalen Mitteln über Wasser zu halten. Weiterhin wird ihm die Verschleierung von Vermögenswerten vorgeworfen.
Im September 2024 wurde Jadue nach 91 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Er befindet sich aktuell im Hausarrest, signifikante Fortschritte im Prozess oder klare Beweise gibt es keine. In der Berichterstattung kommt der Fall inzwischen kaum noch vor. Und das, obwohl das Polit- und Satiremagazin The Clinic im November 2024 Chats um den Anwalt Luis Hermosilla veröffentlichte, die zeigen, wie die Anwaltsgruppe darüber beratschlagt, Jadue zu diskreditieren.
Der Fall Hermosilla wiederum gehört zu den größten Skandalen der chilenischen Geschichte: Zunächst waren Audiodateien durchgesickert, in denen Hermosilla die Bestechung des Fiskus plant. Der Fall hat bis in die oberste Justiz und Polizei breite Kreise gezogen. Die Enthüllungen zeugen von einem komplexen Geflecht aus Korruption und politischer Einflussnahme. Tatsächlich gibt es nur wenig regulatorische Standards und Kontrollinstanzen für Anwält*innen in Chile. Das ehemalige Kontrollgremium Colegio de Abogados war mit einer Gesetzesänderung 1981 durch die Diktatur entmachtet worden.
Auch der rechten Bürgermeisterin Cathy Barriga (UDI) wird die Veruntreuung von 30 Millionen US-Dollar vorgeworfen. Wenn sich die Anschuldigungen bestätigen, handelt es sich um den größten kommunalen Korruptionsskandal der Landesgeschichte. Anders als Jadue war Barriga zunächst nur unter Hausarrest gestellt worden.
All diese Vorwürfe, Skandale und medialen Attacken tragen nicht zum Vertrauen in Institutionen und Politiker*innen bei. Korruption und Undurchsichtigkeit scheinen viel zu verbreitet. Gleichzeitig zeigt der Fall Jadue, dass die Justiz politisch missbraucht wird. Letztlich wirkt das Misstrauen demobilisierend und Skandalisierung ersetzt Politisierung, so das Kalkül der Rechten. Mit Blick auf die diesjährigen Kommunalwahlen geht die Strategie jedoch nur teilweise auf: Die Rechte konnte eine Mehrheit gewinnen, aber der eindeutige Rechtsruck ist ausgeblieben.
Pünktlich zum fünften Jahrestag im Oktober 2024 liefern Akademiker*innen verschiedene Analysen über den estallido social. Ein Konsens: Es sei nicht der große antikapitalistische Aufstand gewesen. Zu unterschiedlich die Interessen, Forderungen und ideologischen Hintergründe. Stattdessen: Eine Explosion der Unzufriedenheit, die außer der Forderung nach einer neuen Verfassung keinen gemeinsamen Nenner fand.
Derweil warten die Opfer der Polizeigewalt auf Wiedergutmachung. Anfang 2024 wurde General Ricardo Yáñez als einer der Hauptverantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Die erste Anhörung fand am 1. Oktober 2024 statt. Nach fast fünf Jahren eine kleine Hoffnung auf Anerkennung. Dennoch: Von 10.142 Klagen laufen aktuell nur noch rund 1.400 Untersuchungen. Bisher ist es zu 44 Verurteilungen gekommen. Was bleibt, sind ein gescheiterter Verfassungsprozess, enttäuschte Hoffnungen und eine gewisse Ratlosigkeit. Wie weiter mit dem Kampf? Auch 2024 fanden am 18. Oktober landesweit Demonstrationen statt. Die Zahl der Teilnehmenden ist geschmolzen, einige Hundert in Santiago heißt es. Derweil kokettiert die Rechte mit Verschwörungstheorien. Die Proteste seien ein Putsch gewesen, finanziert von Venezuela und Kuba. Im Realitätsverlust verkennen sie das Konfliktpotenzial, die sozialen Widersprüche bestehen weiter.
Am 16. November 2025 wird gewählt, der Regierung Boric bleibt also wenig Zeit. Im Dezember 2024 wurde noch die Gründung eines neuen Ministeriums beschlossen, ab Juni wird ein Sicherheitsministerium seine Arbeit aufnehmen – Sicherheit ist Wahlkampfthema. In der feministischen Agenda steht noch die Liberalisierung des Abtreibungsrechts aus. Die Resultate der Kommunalwahlen weisen aktuell auf einen Patt hin. Offen bleibt auch, wie sich die vielen Skandale auf die Wahlen auswirken und wie sich die Parteien im Wahlkampf personell aufstellen werden.