Kunst | Nummer 565/566 - Juli/August 2021

ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND KOLLEKTIVER ERINNERUNG

Interview mit den Künstler*innen der Ausstellung Between Personal Chronicles and Collective Memory

Im Instituto Cervantes in Berlin war im Juni die von Katerina Valdivia Bruch kuratierte Sammelausstellung Between Personal Chronicles and Collective Memory zu sehen, die die Arbeiten vier lateinamerikanischer Künstler*innen zu Gedächtnis und Vergänglichkeit, zu individueller und kollektiver Erinnerung zeigt. Wie sich die Künstler*innen mit verschiedenen Medien und Methoden dieser Thematik nähern und dabei auch persönliche Erfahrungen zur (Re)konstruktion von Geschichte und alternativer Geschichtsschreibung und Wissensproduktion nutzen, erfuhren LN im Interview mit den Künstler*innen María Linares, Daniela Lehmann Carrasco, Ana María Millan und Yoel Díaz Vázquez.

Interview: Hannah Katalin Grimmer

San Felipe VI, 2005-2018 Konfrontation mit dem Großvater im Kunstwerk © Yoel Díaz Vázquez

Mit welchen Thematiken beschäftigt ihr euch in eurer künstlerischen Arbeit?
María Linares: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich hauptsächlich mit Diskriminierung und Rassismus. Die Mittel, die ich verwende, sind verschieden. Ich arbeite gerne im oder mit dem öffentlichen Raum, mit der Öffentlichkeit. Oft arbeite ich auch mit Videos.
Daniela Lehmann Carrasco: Die Hauptthematik meiner Arbeit sind Symbolbilder des Kollektivgedächtnisses. Im Grunde archaische, ikonografische Bilder, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind und in Beziehung zu individuellen Erinnerungsbildern stehen. Ich als Autor schaue auf die Welt und entdecke die kollektive Bilderwelt und meine eigene Wahrnehmung.
Ana María Millán: Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Beziehungen zwischen Politik, Animation und Video in Bezug auf Propaganda, politische Propaganda, Gewalt und Gender.
Yoel Díaz Vázquez: Die Arbeit, die ich in dieser Ausstellung zeige, ist ein fotografisches Projekt, das ich mit meinem Großvater durchgeführt habe. Darin reflektiere ich die zentralen politischen Widersprüche zwischen verschiedenen Generationen von Kubanern bezüglich ihrer Wahrnehmungen der kubanischen Revolution. Ich wollte verschiedene Perspektiven aufzeigen, in diesem Fall die Generation meines Großvaters und meine als Künstler. Für dieses Projekt habe ich meinen Großvater gefragt, ob ich ihn vor der Kamera bei der Interaktion mit zwei Objekten unterschiedlicher Verwendung und unterschiedlicher Symboliken darstellen könne. Das eine ist ein Diplom, das er für seine damalige gute Arbeit als Gastronom erhielt. Er erhielt überhaupt viele Diplome im Laufe seines Lebens, man könnte sagen, er war ein echter Held der Arbeit. Das andere ist eine Saugglocke fürs Badezimmer, die ich absichtlich ausgewählt habe, um ihn ein wenig zu provozieren, um Gefühle der Introspektion, sogar der Ablehnung hervorzurufen.

 

RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE, 2019 Teilnahme im partizipativen Projekt, © María Linares

 

María, deine Arbeit RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE (2019), die du in Berlin zeigst, enthält eine Petition und eine Datenbank zur Umbenennung des „Tags der Rasse“. Wie verläuft dein Arbeitsprozess und was ist dafür zentral?
ML: Die Arbeit gehört zu meiner Promotion als Künstlerin, wo ich mich seit Längerem mit Rassismus und dem, was „Rasse“ heißt, auseinandergesetzt habe. Ich bin Kolumbianerin, ich bin dort aufgewachsen und habe dabei tausendmal den sogenannten „Tag der Rasse“ mitgefeiert. Heute sehe ich mich ein bisschen in einem Niemandsland bezüglich der Sprache und so ist es auch mit dem Dasein: Ich bin hier fremd und habe einen fremden Blick, genauso bin ich aber in Kolumbien fremd, wo ich seit 25 Jahren nicht mehr lebe. Ich glaube, wenn ich noch dort wäre, wäre mir das mit dem „Tag der Rasse“ nicht aufgefallen. Dieser Blick entsteht nur durch diese Kontextverschiebung, die dieses im Niemandsland-Sein ermöglicht. Der Vorteil des Künstlerseins ist, dass man Sachen sieht, die man nicht sieht, wenn man tief drin ist.

Der 12. Oktober hat unterschiedliche Namen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Woher kam der Anstoß zur Umbenennung?
ML: Als man sich auf die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ vorbereitete, sagte die mexikanische Kommission: wir sind die Kommission „del Encuentro de dos Mundos“ (Begegnung zweier Welten). In Mexiko heißt der Tag noch immer so. Aber auch das ist nicht gut gegangen, mittlerweile haben Minderheiten ihre Stimme erhoben. Ab den 90er Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt, in dem Multikulturalität im Zentrum stand. In Argentinien heißt der Tag heute „Día de las Culturas“. Dort gibt es eine Soziologin, die sagt, es heißt jetzt zwar „Tag der Kulturen“, aber das ist nur eine Maske für dasselbe, ein Weißwaschen. Für jeden Namen, der umgesetzt wurde, gibt es eine Gegenkritik, die die Assimilation entlarvt.
In der Datenbank hat der „Abya Yala Tag“ die meisten Stimmen. Meine These ist, dass das wieder ein ganz anderes Paradigma aufweist, das auf globaler Ebene an Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr der Mensch im Zentrum. Sprechen wir vom „Tag der Kulturen“, sprechen wir vom „Tag des indigenen Widerstands“, wie in Venezuela, dann sind immer noch Menschen im Zentrum des Diskurses. Abya Yala lässt den Menschen weg, es bezieht sich auf die Geografie, auf die Umgebung, auf die Natur. Da könntest du auch einen Fluss feiern.

 

Círculo, 2021 Verbindet kollektive und individuelle Erinnerungen, Videostill, © Daniela Lehman Carrasco

 

Daniela, in deine Videoarbeiten Le Glück Quantitativ (2010) und Círculo (2021) sind Dokumentarfilme eingeflossen, wie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán. Was ist die Idee dahinter?
DLC: Guzmán hat ja alles dokumentiert, was in der Allende-Zeit passiert ist, es gibt aber nur wenig filmische Dokumente aus der Putschzeit. La Batalla de Chile ist eigentlich das einzige Zeugnis dieser Zeit, das ich kenne. Man hat ja wenig privat gefilmt früher und mir war es wichtig, die Gewalt und die Erinnerungen daran zu zeigen. Le Glück Quantitativ zeigt die sozialen Utopien der 60er Jahre – gerechte Verteilung für alle, damit bin ich groß geworden. Die neue Arbeit heißt Círculo, weil ich gesehen habe, dass sich viele Dinge wiederholen, sowohl von der Gewalt, die das Militär gegenüber den Studenten, oder Schülern vielmehr, aufgebracht hat, als aber auch diese ganze utopische Kraft der Menschen, die jetzt dazu geführt hat, dass sie eine neue Verfassung schreiben, was ich ja ganz großartig finde.

Du stellst ganz bewusst nicht nur die beiden Zeiten, sondern auch die beiden Länder in einen Dialog. Basiert das auf einer Außenperspektive oder ist das auch deine Geschichte?
DLC: Also, ich bin Deutsch-Chilenin. Meine Eltern sind nach Deutschland exiliert, wir waren da noch sehr klein und ich bin in Frankfurt aufgewachsen, aber meine deutschen Berliner Großeltern väterlicherseits sind wegen der Nazis nach Chile ausgewandert. Meine Oma ist Jüdin gewesen. Dieses Zurückbesinnen hat etwas damit zu tun, in welchem Kontext ich aufgewachsen bin, in der Frankfurter Soli-Bewegung für die chilenischen Gefangenen. Die chilenische Community, die linke, egal welcher Partei du angehörtest, war sehr eng, hat sehr viel gemeinsam unternommen, hat sich stark orientiert aneinander. Ich bin aber ein bisschen anders aufgewachsen als viele anderen Chilenen, weil ich auch diesen deutschen Part habe. Ich bin mit den „Deutschland im Herbst“-Sachen (deutscher Episodenfilm von 1978 über die RAF-Zeit, Anm. d. Red.) aufgewachsen. Wir waren auf Demos und Kundgebungen, deshalb habe ich das zusammengemischt. Es geht in dieser Arbeit um meine Kindheit und Jugendzeit, ich habe das Trauma darin gesucht.

 

Elevación, 2019 Politik und Animation, Video Still © Ana María Millan

 

Ana María, warum hast du einen kollaborativen Prozess als Grundlage für deine Animation Elevación (2019) gewählt? Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
AMM: Ich habe begonnen, die Themen politische Propaganda, Gewalt und Geschlecht aus dem Studio heraus zu bearbeiten. Ich habe mit Materialen in Bezug auf bestimmte politische Narrative experimentiert. Mit der Zeit habe ich eine partizipative Methodik gefunden: Ich führe Rollenspiele mit Leuten durch, wir lesen einen Text und die Leute kreieren Charaktere, um die historischen Situationen, die in diesem Text genannt werden, zu bewältigen. In diesem Fall geht es um die Frage, wie der Widerstand in Kolumbien entstanden ist. Durch den kollaborativen Prozess suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Hier werden diese in Bilder übersetzt, in einem anderen Fall können es spezifische Richtlinien sein, es ist ein pädagogischer Prozess. Außerdem zeige ich dieses Werk gerne hier, weil Deutschland einer der Garanten des Friedensprozesses in Kolumbien ist. So ist es auch ein Hilferuf, dass das Friedensabkommen erfüllt wird.

Wie verhalten sich Realität und Fiktionalität in deiner Arbeit zueinander? Ist das Medium des Videos eine Möglichkeit, sich die Realität anzueignen? Deine Arbeit basiert außerdem auf einem Comic, wie ist die Verbindung?
AMM: Die Fiktion ist eine Möglichkeit durch fiktive Figuren in eine Erzählung und in die Realität einzutreten, um an einen unbewussten Vorgang zu appellieren, der von einem historischen Prozess spricht. Marquetalia. Raices de la Resistencia (Wurzeln des Widerstands) ist ein Comic, der sich auf die erste unabhängige Republik der Bauern in Kolumbien bezieht und zeigt, wie die Gewalt des Staates sie zerstörte. Der Comic ist ein beliebtes Werkzeug, denn er kann pädagogisch verstanden werden und uns zum Reden bringen, zum Aufwerfen von Fragen zum Friedensprozess. Die Gewalt des Staates hört bis heute nicht auf. Es ist, als würde sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, das noch keine Agrarreform hatte und dafür gibt es einen großen Kampf. Denn das Problem ist nach wie vor die Abhängigkeit von dem Land, das vier kolumbianischen Familien gehört. Eine Landreform ist dringend notwendig. Kunst hat die Fähigkeit, das Problem anzuprangern, zu kommunizieren, zu verkünden, was dieser Comic tut.

Yoel, du zeigst deine fotografische Arbeit San Felipe (2005-2018). Setzt du dich in deinen Arbeiten mehr mit der Geschichte deiner Familie oder eher mit einer kollektiven Geschichte Kubas auseinander?
YDV: Es ist eine kollektive Geschichte. Ich komme aus einer einfachen Familie, mein Großvater war ein Arbeiter, der auf dem Bau arbeitete, sogar in den Zuckerrohrfeldern, und er folgte, wie viele seiner Generation, dem Líder Fidel. Das ist die große Geschichte Kubas: Fidel Castro war eine Persönlichkeit mit viel Charisma und gewann die Sympathie des kubanischen Volkes. Das Ziel der Revolution war in erster Linie die Errichtung der Demokratie in Kuba, die Wiederherstellung der Verfassung von 1940 und natürlich die Absetzung des Diktators Fulgencio Batista. Und was ist passiert? Mit all diesen Zielen gewann Castro die Sympathie des ganzen Volkes, der kubanischen Mittelschicht und sogar der amerikanischen Mittelschicht, die auch die kubanische Revolution mitfinanzierte.
Mein Großvater hat durch die Revolution keine Art von Verlust erlebt und er spürte, dass die Reden, die Fidel hielt, für ihn waren. Fidels Rede lösten in ihm viele Erwartungen für sein Leben und für das Leben seiner Familie aus. Mit anderen Worten: All der Wohlstand, den Fidel ihm versprochen hat, für Kuba, für das Volk im Allgemeinen, für seine Kinder, für seine Enkelkinder, ist etwas, das wir Enkel jetzt nicht mehr sehen. Und das ist die Enttäuschung, die ich mit diesem Objekt der Saugglocke hervorrufe. Ich konfrontiere meinen Großvater ein wenig mit einem symbolischen politischen Dialog, denn ein normaler Dialog ist unmöglich.

Wie ist es für dich, ein Werk hier in Deutschland auszustellen, das so viel kubanische Geschichte und so viel gesellschaftlichen Kontext enthält? Wie sind die Reaktionen?
YDV: Hier war es schon immer sehr einfach, politische Arbeiten auszustellen. Alle Künstler, die dem Aktivismus nahestehen, haben in Deutschland eine ideale Plattform, um ihre Kunst zu zeigen. Ich habe hier immer ein offenes Publikum vorgefunden, vor allem wegen der Geschichte, die uns verbindet, nämlich die Geschichte der DDR. Das heißt, ein Teil der Deutschen hat diese Erfahrung, die ich in vielen meiner Arbeiten in Bezug auf Kuba erzähle, schon gemacht.
Es ist eine Frage, die ich mir immer gestellt habe: Wann werden wir in unseren nicht-westlichen Ländern das Vergnügen haben, ohne Angst vor Unterdrückung aufzutreten, unsere Ideen, unsere Kunst auszustellen, ohne Angst, verurteilt und eingesperrt zu werden.


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