Mexiko | Nummer 279/280 - Sept./Okt. 1997

Zwischen Polizeigewalt und Demokratisierung

Werden Cárdenas, neuer Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Reformen gelingen?

Zum ersten Mal konnten die Bürger in Mexiko-Stadt am 6. Juli einen Bürgermeister direkt und in freier Abstimmung wählen, zuvor wurde der Regent immer vom Präsidenten bestimmt. Das Votum wurde zu einer weiteren Zäsur im Prozeß des Niedergangs der seit 68 Jahren mit absolutem Anspruch und eiserner Hand regierenden Staatspartei PRI.

Boris Kanzleiter

Nachdem die PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) einige Bundesstaaten im nördlichen Mexiko an die rechtskonservative PAN (Partei der Nationalen Aktion) verloren hatte, ging der Hauptstadtdistrikt nun an die linke Oppositionspartei PRD (Partei der Demokratischen Revolution). Ihre Gallionsfigur, der zweifache Präsidentschaftskandidat Cuauhtémoc Cárdenas, konnte seine Rivalen ausstechen und einen triumphalen Wahlsieg einfahren, der sogar die Partei selbst überraschte. Vor den Wahlen gab die PRD bekannt, mit etwa 20% der Stimmen zu rechnen, tatsächlich erhielt sie aber doppelt soviel.
Doch noch hat Cárdenas die Regierungsgewalt über eine der größten Städte der Welt nicht übernommen, die Amtsübergabe findet erst Anfang Dezember statt. Das große Fragezeichen, das in diesen Wochen über seinem Machtantritt steht, ist, in welche Richtung er den Distrito Federal steuern wird. Wird sich Cárdenas mit der durch und durch korrupten Stadtverwaltung und ihren Exekutivorganen anlegen, oder wird es zu einem Kompromiß kommen, der letztlich die bestehenden Strukturen nicht antastet? Wird die PRD in Mexiko-Stadt die soziale und politische Mobilisierung entfalten können, die notwendig ist, um eine soziale Reformpolitik einzuleiten, oder wird sie sich den Sachzwängen beugen, die der neoliberale Kurs der PRI-Regierung auf Bundesebene vorgibt? Diese Fragen bleiben vorläufig unbeantwortet, denn Cárdenas wird sein Regierungsprogramm und die Besetzung der führenden Posten der Stadtverwaltung erst noch bekanntgeben.
Wie groß das Problem für die PRD und ihren neuen Bürgermeister ist, die Stadtverwaltung und die Exekutive, vor allem die Polizeieinheiten, in den Griff zu bekommen, demonstrieren spektakuläre Razzien, die in den letzten Wochen fast täglich in Armutsquartieren der Hauptstadt stattfinden. Schwerbewaffnete Spezialeinheiten der Polizei, unterstützt von Helikoptern, dringen dabei in Stadtviertel ein, durchsuchen wahllos Wohnungen, schlagen Fensterscheiben und Türen ein und verhaften Dutzende Personen, gegen die keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen. Als Vorwand dient die Verbrechenbekämpfung, tatsächlich sind die großangelegten und vor laufenden Fernsehkameras inszenierten Razzien aber Bürgerkriegsübungen, Einschüchterungsaktionen und Machtdemonstrationen des Polizeiapparates, der dafür bekannt ist, daß er mit dem organisierten Verbrechen auf das engste verzahnt ist. Die zahlreichen Fälle von Polizeikommandanten, die in den letzten Monaten als Mitglieder von Drogenkartellen identifiziert werden konnten, sind nur die Spitze des Eisberges der kriminellen Potenz der Exekutivorgane.

Zorros und Jaguar in action

Am 28. August beispielsweise überfielen 500 Angehörige von Polizeispezialeinheiten der SSP (Ministerium für Öffentliche Sicherheit) die Stadtviertel Anahuac und Santa María de la Ribera. Um zehn Uhr dreißig fuhren die Mitglieder der Einheiten Zorro und Jaguar in einem Konvoi von Fahrzeugen in das Operationsgebiet und schwärmten mit gezogenen Waffen aus, um Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Aus der Luft wurde die Aktion aus zwei Helikoptern koordiniert. Die Szenerie erinnerte an eine Bürgerkriegssituation. Menschen wurden teilweise unbekleidet aus ihren Häusern geholt und in Gefängsnistransportern eingesperrt, dabei wurden auch Kinder und Alte inhaftiert. Auch der Präsident der PRD im Viertel, Carlos Reyes Gámiz, wurde verhaftet, ohne daß auch nur der geringste Verdachtsmoment gegen ihn vorlag. In einem Interview erklärte er nach seiner Freilassung, daß ihm nicht einmal erlaubt wurde, sich zu identifizieren. Stattdessen schlugen ihn die Beamten und drohten ihm an, Drogen in seine Taschen “zu säen”. Diese Praxis wird von Polizeikräften häufig angewendet, um nach einer willkürlichen Verhaftung eine Anschuldigung zu fabrizieren. Insgesamt wurden während der Operation 56 Menschen festgenommen und auf eine Polizeistation gebracht.
Nur kurze Zeit nach dem Ende der Razzia versammelten sich 250 Nachbarn der Inhaftierten und zogen vor die Polizeistation, um eine sofortige Freilassung der Verhafteten zu fordern. Bis zum Abend konnten sie dies nach weiteren Zusammenstößen mit schwerbewaffneten Polizeieinheiten auch erreichen. Cuauhtémoc Cárdenas sah sich noch am selben Abend genötigt, zu dem Vorfall Stellung zu nehmen. “Das Recht darf nicht verletzt werden, und es müssen die Verantwortlichen für diese Willkürakte bestraft werden”, erklärte er. Auch das Exekutivkomitee der PRD in Mexiko-Stadt verurteilte die Polizeiübergriffe und forderte ein sofortiges Ende von Operationen der SSP. Außerdem verlangte es den Rücktritt des Chefs der SSP, Enrique Salgado Cordero, der letztes Jahr als erster Militär einen leitenden Posten in der Polizeihierarchie der Hauptstadt übernommen hat. Seitdem sind weitere hochrangige Militärs und über tausend Soldaten in den Polizeidienst eingetreten, eine Entwicklung, die von Menschenrechtsorganisationen heftig kritisiert wird.
Aus Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen der Hauptstadt kommt nun der Vorschlag, Bürgerkomitees einzurichten, die die Aktivitäten der Exekutivorgane überwachen und ein Gegengewicht zu den Willkürakten der Polizeikräfte bilden sollen. Auch Cárdenas selbst hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht. Falls er nach seinem Amtsantritt damit ernst macht, wird es zur Machtprobe kommen. Die Hoffnungen und Erwartungen an Cuauhtémoc Cárdenas sind groß. Ob er ihnen gerecht wird, kann der neue Bürgermeister von Mexiko-Stadt ab Dezember demonstrieren.


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