Mexiko | Nummer 312 - Juni 2000

Zwischen Repression und Hoffnung

Interview mit Mitgliedern des Streikrates der Nationalen Autonomen Universität in Mexiko-Stadt

Seit über einem Jahr dauern in Mexiko Stadt die Proteste von Studierenden gegen die Erhöhung von Studiengebühren und die drohende Privatisierung der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) an. Mit über 200.000 Studierenden ist die UNAM die größte Hochschule Lateinamerikas. Nach 10 Monaten Streik ließ die Regierung Anfang Februar den Campus polizeilich räumen. Während der Universitätsbetrieb mittlerweile wieder aufgenommen wurde, befinden sich Allgemeiner Streikrat (CGH) und Universitätsleitung in Auseinandersetzungen darüber, wie in den nächsten Wochen ein Dialog beider Parteien stattfinden kann.
Die Jurastudentin Julia Escalante de Haro (23) und Ricardo Cayetano Martínez (24), Student der Kommunikationswissenschaft, vom CGH besuchen zur Zeit Deutschland, um über die bedeutendste Jugendbewegung in Mexiko seit 1968 zu berichten.

Boris Kanzleiter, Dario Azzellini

Konnte die Bewegung der Studierenden an der UNAM mit der polizeilichen Räumung und der Verhaftungswelle am 6. Februar beendet werden oder geht sie weiter?

Ricardo Cayetano Martínez: Der gewalttätige Eingriff der Polizei bedeutete für unsere Bewegung einen Schlag, aber nicht das Ende. Der Streikrat mobilisiert weiter, um seine zentralen Forderungen durchzusetzen. Das sind einerseits die kostenfreie öffentliche Bildung und andererseits die Demokratisierung der Universitätsstrukturen, damit alle Gruppen an der Universität – Studierende, Lehrende und Beschäftigte – an den Entscheidungen mitwirken können.
Diese beiden Aspekte vereinigen sich in unserem 6-Punkte-Forderungskatalog, der bis jetzt nicht erfüllt wurde. Deshalb werden wir unsere Bewegung nicht aufgeben. Zur Zeit führen wir sowohl Widerstandsaktionen nach außen wie Demonstrationen durch, als auch eine organisierende Arbeit nach innen. Das heißt, wir versuchen die Universitätsangehörigen wieder zu versammeln. Außerdem laden wir die anderen sozialen Gruppen wie die unabhängigen Gewerkschaften und Kleinbauernorganisationen ein, mit ihren eigenen Forderungen zusammen mit uns zu kämpfen.

Wie sieht die Situation der inhaftierten Mitglieder der Studierendenbewegung aus?

Julia Escalante de Haro: Es sind noch immer neun Mitglieder des CGH in Haft, denen sogenannte „schwere Delikte“ vorgeworfen werden. Außerdem sind sie eines neuen Deliktes angeklagt, das erst kürzlich in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Es handelt sich um die sogenannte „soziale Gefährlichkeit“. Das ist ein völlig subjektiv und willkürlich durch den Richter festgelegtes Delikt. Es wird einfach gesagt, diese oder jene Person ist „sozial gefährlich“, auch wenn nichts weiter gegen sie vorliegt. Daher konnten die neun bisher noch nicht auf Kaution freikommen. Die über 900 anderen Gefangenen wurden auf Kaution vorläufig freigelassen. Die Prozesse werden sich voraussichtlich ein Jahr lang hinziehen. Die schwersten Anklagepunkte wurden praktisch nicht zurückgenommen. Wie mit den Angeklagten weiter umgegangen werden wird, bleibt in den Händen der Richter und der Regierung. Diese kann alle Beweise fabrizieren, die nötig sind, um die Studierenden zu verurteilen. Wir leben nicht in einem Rechtsstaat. Natürlich hängt es auch von der Mobilisierungskraft der Bewegung ab, wie mit den Gefangenen umgegangen wird.

Wie läßt sich die Regierungsstrategie beschreiben?

Ricardo: Während der ganzen Zeit der Bewegung verfolgte die Regierung die Strategie, „dem Fisch das Wasser zu entziehen“. Neben der Repression versuchte sie uns mittels einer Medienkampagne zu isolieren, uns als gewalttätig darzustellen und unseren Forderungen die Legitimität abzustreiten. Die autoritäre Politik ging direkt vom Innenministerium und speziell von Francisco Labastida Ochoa aus, der bis vor kurzem Innenminister war. Jetzt ist er der Kandidat der seit 71 Jahren regierenden PRI für die Präsidentschaftswahlen am 2. Juli. Wie in Chiapas folgt die Politik der Regierung den Studierenden gegenüber den Rezepten der psychologischen Kriegführung und der Aufstandsbekämpfung. Es gab Drohungen, Entführungen, Vergewaltigungen, einige „zufällige“ tödliche Unfälle und andere gezielte Übergriffe auf Mitglieder des CGH. Ich selbst wurde im Herbst zwei Tage lang entführt und verhört. All das hat die Bewegung radikalisiert.
Die Regierung hat sich dem Dialog aus zwei Gründen verweigert. Einerseits wollten sie die Bewegung aus dem Weg räumen, damit sie nicht beim anstehenden Wahlprozess stört. Andererseits geht es darum, eine neoliberale Bildungspolitik durchzusetzen und für Lateinamerika ein Exempel zu statuieren. Die UNAM ist ja die größte Universität Lateinamerikas. Es sollen hohe Studiengebühren eingeführt werden, was bedeutet, dass viele nicht weiter studieren können werden. Es sollen Zulassungsbeschränkungen verschärft werden. Außerdem sollen die autoritären Entscheidungsstrukturen an der Universität abgesichert werden. Seit über 30 Jahren sehen diese so aus, dass lediglich eine Person – der Rektor – das letzte Wort hat. Der Rektor stützt sich auf ein Gremium von 15 Personen. Er ernennt die Direktoren der etwa 40 Institute und angegliederten Schulen. Diese organisieren die Mechanismen, mit denen die Mitglieder des Universitätsrats bestimmt werden. Letztlich bedeutet dies, dass mit antidemokratischen Methoden angebliche Repräsentanten der Akademiker und Studierenden gewählt werden. Ohne demokratische Beratung werden so Entscheidungen gegen den Willen der Universitätsangehörigen durchgesetzt.

Die Studierendenbewegung prägte über Monate die öffentliche Debatte in Mexiko. Wie positionierten sich in diesem Kontext kritische Intellektuelle?

Ricardo: Die linken Intellektuellen näherten sich unserer Bewegung zwar teilweise an, unterstützen uns aber nicht wirklich. Sie erklärten, dass unsere Ziele zwar gerecht seien, sie hielten aber immer eine sehr kritische Distanz zu den Methoden, welche die Bewegung entwickelte. Es gab kaum Intellektuelle, die sich mit der Bewegung verbanden. An bestimmten Punkten führten wir eine Debatte mit Gruppen von Intellektuellen. Zum Beispiel formulierten wichtige Intellektuelle, die zu einem bestimmten Moment soziale Bewegungen wie die Zapatistas unterstützt hatten, einen „Vorschlag der Emeritierten“ mit dem sie sich unserer Bewegung annäherten. Dazu gehörten bedeutende Professoren wie Adolfo Sánchez Vázquez, ein exilierter Spanier, der in Mexiko lebt und marxistische Philosophie lehrt. Wir erkennen an, dass sie verschiedene Positionen in die Debatte einbrachten, aber ihr Vorschlag löste keinen einzigen Punkt unseres Forderungskatalogs.
Allerdings näherte sich die Mehrheit der Intellektuellen dem CGH nicht an und führte mit ihm keine Debatten. Das liegt nicht nur in ihrer Verantwortung, sondern auch in unserer. Die Streikbewegung konnte nicht den Raum für eine Annäherung und Debatte mit den Intellektuellen schaffen.
Das gelang uns aber mit großen Teilen der sogenannten „Zivilgesellschaft“. Es gab eine große Sympathie von Hausfrauen, von Jugendlichen, die keine Studierenden sind. Wir bauten eine enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft der Elektrizitätsgesellschaft auf, die ebenfalls privatisiert werden soll. Von den Eltern der Streikenden und Stadtteilorganisationen wurde die Bewegung intensiv unterstützt.

Warum ist die Auseinandersetzung um Studiengebühren in Mexiko so bedeutungsvoll?

Julia: Die kostenlose Bildung ist ein soziales Recht, das durch die Revolution und nachfolgende soziale Bewegungen erkämpft wurde. Es ist sogar in der Verfassung verankert. Mit den neoliberalen Plänen sollen nicht nur die Studierenden ihrer Rechte beraubt werden, sondern die Bevölkerung insgesamt. Die UNAM wird von der Regierung auch angegriffen, weil sie eine Bastion der Linken ist.
Eigentlich müßte jeder Jugendliche mit Hochschulzugangsberechtigung an der UNAM studieren dürfen. Doch die Zulassungszahlen werden ständig reduziert. Und das, obwohl die Nachfrage steigt, weil Mexiko ein Land mit einer sehr jungen Bevölkerung ist. Es geht schlichtweg um die Zukunftsmöglichkeiten unserer Generation, der in den letzten Jahren durch die neoliberale Politik schon so viel genommen wurde. Die Generation der Streikenden wird in Mexiko als die „Kinder der Krise“ bezeichnet. Seit wir denken können, haben wir nichts anderes als den ständigen Zerfall unserer sozialen Möglichkeiten erlebt. Während die Regierung mit Milliarden-Dollar- Beträgen das private Kreditwesen vor dem Bankrott rettet, sind die Reallöhne der Arbeitenden seit Beginn der 80er-Jahre drastisch verfallen. Die Familien der unteren Mittelschicht, aus der viele der Streikenden kommen, sind durch die Wirtschaftskrise von 1994/95 ruiniert worden.

Die Streikbewegung hat seit April letzten Jahres unterschiedliche Etappen durchlaufen, dabei kam es auch zur Herausbildung verschiedener Strömungen. Was sind die Hintergründe?

Ricardo: In den ersten drei Monaten hatte die Bewegung einen sehr spontanen Charakter und konnte breite Sympathien erlangen. An den Instituten und Schulen trafen sich die Studierenden zu Vollversammlungen, die rotierende Delegierte auf die Versammlungen des Allgemeinen Streikrates schickten. Es entstand eine sehr horizontale Struktur der Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt existierten viele Positionen in der Bewegung, die sich dann in zwei Richtungen entwickelten. Ein Flügel, der den Konflikt schnell lösen wollte, und ein radikalerer Flügel, der argumentierte, dass zuerst mehr Kräfte gebündelt werden müssten bevor erfolgreich verhandelt werden könnte. Die große Mehrheit der Streikenden war aber weder im einen noch im anderen organisiert. Sie hatte zuvor kaum politische Erfahrungen gesammelt. Doch die Politik der moderateren Kräfte stieß viele Streikende ab. Sie wandten sich den radikaleren Kräften zu. Die Medien begannen eine einfache Kategorisierung vorzunehmen. Auf der einen Seite die „guten Moderaten“, auf der anderen die „bösen Ultras“, die angeblich mit der Guerilla zusammenarbeiteten. Diese Kategorisierung stimmte zu keinem Zeitpunkt, denn es gab immer viele verschiedenene Positionen, die von Anarchisten bis zu Maoisten reichte. Die meisten bezogen sich allerdings auch positiv auf die Zapatisten.
Das Problem unserer Bewegung war nicht die Unterschiedlichkeit verschiedener politischer Positionen. Das Problem war, dass die Regierung durch eine gezielte Medienkampagne und Provokationen die Studierenden gegeneinander ausspielen wollte. Dazu kam der wachsende Druck durch die Repression und die Verlängerung des Streiks. All das führte zu scharfen internen Auseinandersetzungen. Dennoch konnte die Bewegung die ganzen zehn Monate des Streiks hindurch Zehntausende mobilisieren. Kurz nach der Räumung am 6. Februar zogen in Mexiko Stadt über 150.000 Menschen in einer der größten Protestdemonstrationen der letzten Jahre durch die Innenstadt und forderten die Freilassung der Gefangenen. An Ostern haben wir das “Erste Internationale Studierendentreffen gegen den Neoliberalismus” organisiert, an dem 2.000 Jugendliche aus vielen Ländern teilgenommen haben. Jetzt geht es uns darum, die Bewegung wieder zu reorganisieren, um den Kampf weiterführen zu können. Zwar gibt es momentan Dialoggespräche zwischen Unileitung und CGH, unsere Forderungen werden wir aber nur durchsetzen können, wenn es uns gelingt, neue Kraft zu schöpfen.

Interview: Boris Kanzleiter / Dario Azzellini

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